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Veröffentlicht am 19.04.2024

Bildungsreise mit Leiche

Mord auf der Kreuzfahrt
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"Mord auf der Kreuzfahrt" von Nicholas Blake wirkt wie eine Zeitreise in eine Gesellschaft, die es so nicht mehr gibt und in der die britische upper class, abgesehen von den lästigen Ausländern an Bord ...

"Mord auf der Kreuzfahrt" von Nicholas Blake wirkt wie eine Zeitreise in eine Gesellschaft, die es so nicht mehr gibt und in der die britische upper class, abgesehen von den lästigen Ausländern an Bord - Deutsche mit Rucksäcken, Franzosen, die im Salon plappernde Rudelbildung betreiben und Italiener, die jeder gutaussehenden Frau schöne Augen machen - noch unter sich auf Reisen ist. Kein Wunder: das Buch wurde erstmals in den 1950-er Jahren veröffentlicht, und die anderen moralischen Standards jener Zeit schimmern durch, egal ob es um Homosexualität oder die skandalöse Frage gibt, ob ein Paar womöglich in Sünde, also unverheiratet zusammenlebt. Wobei das erotischen Eskapaden, die allerdings nicht detailgenau ausgebreitet werden, offensichtlich nicht im Wege steht.

Aber getrennte Kabinen für Meisterdetektiv Nigel Strangeways und seine Freundin, die Bildhauerin Clare Massinger sind auf der Reise Anstandspflicht. Getrennt schlafen, aber gemeinsam ermitteln und über die lieben Mitreisenden lästern, das ist hier die Regel. Überhaupt wird, ehe der Fall um eine verschwundene Passagierin an Fahrt aufnimmt, nach Herzenslust getratscht - auch ein Kreuzfahrtschiff ist irgendwie nur ein Dorf! Und die Passagiere zwischen Bildungsreise und Vergnügungslust entstammen einem Personen-Potpourri, das auch in einem Agatha-Christie-Roman nicht unpassend wäre, von der Femme fatale über den patenten Bischof und seine Frau, verwöhnte Internatszöglinge mit entsprechendem public school Akzent, der selbst beim Lesen hörbar zu sein scheint und einem exzentrischen Kind sowie einer Wissenschaftsfehde und altgriechische Übersetzungen.

Blake schreibt gewissermaßen im leichten Plauderton - "Darling" hier, "unerhört" da, in einem Stil, der gleichzeitig charmant-altmodisch wie zeitlos ist. Ein klassischer Whodunit, dessen Lösung schon ganz am Anfang in einem Nebensatz angedeutet wird und der zugleich ein Gesellschaftsbild einer vergangenen Epoche ist.

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Veröffentlicht am 19.04.2024

Dramatischer Wanderurlaub einer Frauenclique

The Hike
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Die Romane von Lucy Clarke sind, und das ist positiv gemeint, eine sichere Bank: Spannende, aber nicht zu blutige Thriller in schöner Landschaft, in denen sich Frauenfreundschaften bewähren müssen. Von ...

Die Romane von Lucy Clarke sind, und das ist positiv gemeint, eine sichere Bank: Spannende, aber nicht zu blutige Thriller in schöner Landschaft, in denen sich Frauenfreundschaften bewähren müssen. Von diesem erwartbarem Schema weicht auch "The Hike" nicht ab: Die Freundinnen Maggie, Helen und Liz brechen zu ihrem jährlichen gemeinsamen Urlaub auf. Jedes Jahr darf eine andere das aussuchen. Die Ärztin Liz hat zur Überraschung ihrer Freundinnen einen Trekkingurlaub in Norwegen gewählt und, gut durchorganisiert wie sie nun einmal ist, den anderen beiden gleich einen Trainingsplan aufgestellt. Zu dumm, dass die alleinerziehende Maggie und Karrierefrau Helen auf die Umsetzung verzichtet haben.

Was die beiden anderen wiederum nicht wissen: Die Wanderung ist für Liz auch eine Art Flucht vor den Problemen in ihrer Ehe. Völlig überraschend stößt dann in Norwegen auch Jonie, die vierte der in ihrer Schulzeit unzertrennlichen Freundinnen dazu. Als internationaler Rockstar hat sie sich zuletzt rar gemacht. Was ihre Freundinnen nicht wissen: Jonie ist zunehmend ausgebrannt, nimmt Drogen längst nicht mehr zur gelegentlichen Entspannung, sondern hat ein ausgewachsenes Suchtproblem, dass sie sich selbst nicht eingesteht. Ohnehin simmert so manches unter der Oberfläche der vier Frauen, die trotz einer Sturmwarnung - von der Liz ihren Freundinnen nicht berichtet - zu ihrer viertägigen Bergtour aufbrechen.

Die Wanderung fordert körperlich und bringt die Frauen an ihre Grenzen. Hinzu kommt das Unbehagen angesichts der Warnungen von Einheimischen, an dem Berg sei etwas Unheimliches. Eine junge Frau ist dort spurlos verschwunden, der Vermisstenfall hat die Dorfgemeinde zerrissen. Und auch die vier Frauen fühlen sich nicht nur angesichts der intensiven Naturerfahrung in der Wildnis zunehmend nervös - bilden sie sich das nur ein, oder beobachtet sie jemand aus dem Wald?

Ein heraufziehender Sturm spiegelt die aufbrechenden Konflikte. Zum Umkehren ist es nach einem Erdrutsch, der den Pfad zurück zur Pension verschüttet, zu spät. Erschöpft, verängstigt und ohne Ausrüstung und Verpflegung müssen die vier den Gipfel erklimmen. Es soll auch der Höhepunkt einer dramatischen Entwicklung werden...

Wenn Lucy Clarkes Romane einen wiederkehrenden Muster folgen - sei´s drum. Die Masche ist erfolgreich und garantiert spannende Unterhaltung. "The Hike" bildet da keine Ausnahme.

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Veröffentlicht am 19.04.2024

Geschichte einer Terrororganisation

Die Hamas
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Nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober haben sicherlich viele gerätselt: Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Wie konnten, gerade angesichts der beengten Verhältnisse auf dem Gazastreifen ...

Nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober haben sicherlich viele gerätselt: Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Wie konnten, gerade angesichts der beengten Verhältnisse auf dem Gazastreifen die Terroristen eine solches Waffenpersonal horten? Und wie konnte es sein, dass die israelischen Sicherheitsbehörden, seit Jahrzehnten geübt und erfahren in der Terrorabwehr, nicht rechtzeitig erkannt oder erfahren haben, was sich auf dem Gazastreifen zusammenbraute? Andere, für die der Nahostkonflikt immer sehr weit weg war, mögen gefragt haben: Was genau ist eigentlich die Hamas, was treibt sie an, was ist ihre Ideologie?


Auf all diese Fragen gibt Joseph Croitoru in seinem Buch „Die Hamas“ Antworten – und angesichts des emotional aufgeladenen Themenkomplexes Nahost ist seine sachliche Gründlichkeit gar nicht hoch genug einzuschätzen. Für alle, die sich historischen Hintergrund und ideologisch-politische Einordnung gleichermaßen verschaffen wollen, ist dieses Buch unbedingt zu empfehlen.

Croitoru greift weit zurück, in die Zeit der Staatsgründung Israels, die Verbindungen zwischen ägyptischer Moslembruderschaft und ihren palästinensischen Geistesbrüdern, zur Geschichte von PLO und Al Fattah und den im nachhinein gefährlichen und folgenschweren Allianzen Israels mit Islamisten, aus denen die Hamas hervorging, um die PLO zu schwächen - nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist vielleicht nicht mein Freund, aber doch nützlicher Verbündeter.

Es ist auch eine Analyse den Nahostkonflikts und der israelischen Politik in den besetzten Gebieten wie auch im israelischen Kernland, eine Geschichte gescheiterter, auch von der einen oder anderen Seite ungewollter Friedensprozesse, der Haltung der Hamas zu Juden und Christen.

Manches scheint im Rückblick wie ein Alarmsignal aufzuleuchten, etwa die Information, dass festgenommene Hamas-Kämpfer bereits 2014 im israelischen Verhör gestanden, Angriffe mit Gleitschirmen geübt zu haben. Nun ist man hinterher immer schlauer, aber die Hinweise, die Monate auch israelischer Armee-Beobachterinnen an der Grenze zum Gazastreifen, die von ihren Vorgesetzten ignoriert wurden, wie mittlerweile bekannt ist, machen den 7. Oktober dann doch zu einer Katastrophe, die in diesen Ausmaßen vielleicht hätte verhindert werden können.

Wie geht es weiter? Darauf weiß auch Croitoru keine Antwort. Der massive Militäreinsatz Israels auf dem Gazastreifen mit seinen fürchterlichen Auswirkungen für die Zivilbevölkerung kann die Hamas schwächen, besonders durch die gezielte Tötung der politischen und militärischen Verantwortlichen für den Terror vom 7. Oktober. Dass dies aber das Ende der Hamas ist, bleibt fraglich.

Veröffentlicht am 13.04.2024

Geschichten von Macht und Ohnmacht aus Simbabwe

Die Schwere des Seins
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Als postkoloniale Erzählungen ordnet der Verlag die Reihe der von Tsitsi Dangarembga herausgegebenen Erzählungen simbabwischer Autorinnen und Autoren ein. Damit klingt das zwar hinreichend woke, ich bin ...

Als postkoloniale Erzählungen ordnet der Verlag die Reihe der von Tsitsi Dangarembga herausgegebenen Erzählungen simbabwischer Autorinnen und Autoren ein. Damit klingt das zwar hinreichend woke, ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob diese Definition die zutreffendste ist, mal abgesehen davon, dass Simbabwe eine koloniale Vergangenheit hatte, aus der es sich befreit hat. Vor allem aber geht es um Macht und Ohnmacht, um Gewalterfahrungen, die zwar in einigen Geschichten im Unabhängigkeitskampf und dem späteren System Mugabe wurzeln, in anderen aber in patriarchalen Strukturen und systematischer traditioneller Unterdrückung von Frauen. Insofern könnten sie auch in der Zeit der Bürgerkriegs in Ex-Jugoslawien spielen, in Syrien oder überall dort, wo archaische Strukturen Ehemännern und Vätern absolute Gewalt über Frauen zubilligen.

Ziemlich harter Tobak ist der Stoff dieser Kurzgeschichten, die die literarische Umsetzung wahrer Geschehnisse sind. Im Rahmen des Projekts "Breaking the Silence" hatten die Autorinnen und Autoren Briefe und Aussagen, die Opfer von Gewalt aus verschiedenen Teilen Simbabwes und aus verschiedenen Zusammenhängen heraus geschildert hatten. Da geht es um die Mutter, die nach der Vergewaltigung ihrer behinderten Tochter um Gerechtigkeit kämpft, um den Vater, der seine Tochter erschlägt, um Folter politischer Gegner. Das Buch bringt die nicht ganz neue Erkenntnis, dass die Freiheitskämpfer von gestern die Unterdrücker und Folterknechte von morgen sein können.

Es gibt nur wenig Hoffnung und noch weniger Gerechtigkeit in diesen Erzählungen - und die Tatsache, dass sie auf tatsächlichen Geschehnissen beruhen, macht die Texte noch deprimierender. Gleichzeitig zeigen diese Erzählungen, wie wichtig es ist, das Schweigen über Gewalt zu durchbrechen, egal, ob es auf Angst oder auf Scham beruht.

Abgesehen von Dangarembga kannte ich die Verfasser der übrigen Texte bisher nicht und bin daher froh über die Gelegenheit, neue afrikanische Autor*innen kennenzulernen.

Veröffentlicht am 12.04.2024

Huckleberry Finn, von Jim erzählt

James
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Mit seinem Roman "James" hat Percival Everett den Klassiker "Huckleberry Finn" von Mark Twain einmal ganz neu aufgerollt: Denn hier erzählt Jim, der entlaufene Sklave, mit dem Huck seine Abenteuer auf ...

Mit seinem Roman "James" hat Percival Everett den Klassiker "Huckleberry Finn" von Mark Twain einmal ganz neu aufgerollt: Denn hier erzählt Jim, der entlaufene Sklave, mit dem Huck seine Abenteuer auf dem Mississippi erlebt. Einige Plots sind bekannt, andere kommen ganz neu hinzu. Und natürlich: es ist ein schwarzer Blick auf die bekannt geglaubte Geschichte.

Huckleberry Finn war immer die ernstere Geschichte, gegen die die Abenteuer von Tom Sawyer eben wie Lausbubenstreiche wirkten. Eine Coming of Age-Geschichte, in der auch ein durchaus kritischer Blick auf die Sklaverei geworfen wird, auch wenn Twain wegen der Verwendung des N-Worts von politisch besonders korrekten Bibliothekaren und Literaturkritikern heute als schon fragwürdig gesehen wird. Everett zeigt: Besser als Cancel Culture ist es, sich kreativ des Themas anzunehmen.

Denn James, der Sklave Jim, mag in Unfreiheit geboren worden sein, aber indem er sich das Lesen und Schreiben beigebracht hat (wie, das bleibt leider unbekannt), hat er sich gewissermaßen innerlich befreit, sich nicht nur über die Rolle erhoben, die ihm zugedacht wurde, sondern auch über manchen tumben Sklavenhalter. Denn James liest Voltaire, Rousseau, die Werke der Aufklärung.

Einer der Twists dieses Romans ist, dass die Sklaven den verhunzten Südstaatenslang nur für die Weißen sprechen, um sie im falschen Glauben ihrer Überlegenheit zu lassen, während sie tatsächlich untereinander in perfekter Schriftsprache kommunizieren. In der deutschen Übersetzung kommt dieser Slang eher als Kunstsprache rüber, aber andererseits - der Übersetzer hatte im Deutschen keine vergleichbare Entsprechung. Kein Wunder, dass James Huck in große Verwirrung stürzt, als er im Schlaf plötzlich ganz anders spricht und gar nicht mehr nach Sklave klingt.

Netter Einfall, auch wenn er unberücksichtigt lässt, dass einerseits auch die weißen Südstaatler einen recht eigenen Dialekt sprechen und andererseits bis heute viele Afroamerikaner Anstoß nehmen an schwarzen Amerikanern, die "weiß" klingen (ganz anders als beispielsweise in Großbritannien).

Bei aller Ironie und einem Humor, der sicher auch Mark Twain gefallen hätte, kommen die ernsten Themen nicht zu kurz - die Sklaverei und die Misshandlungen, das Auseinanderreißen von Familien, blackfacing und rassistisches Denken. Ein - früh absehbarer - ganz besonderer Aspekt im Verhältnis zwischen Huck und Jim kommt mir dagegen unnötig und angesichts der Gesellschaft des alten Südens auch unglaubwürdig vor. Eindringlich dagegen die Szenen, die den Preis zeigen, die Freiheitsstreben und unabhängiges Denken haben können.

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