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Veröffentlicht am 23.05.2020

Gegen Schweigen und Gleichgültigkeit

Deutschland schafft mich
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Man könnte Michel Abdollahi direkt als Vorzeige-Migranten bezeichnen - wenn er nicht schon längst Deutscher wäre. Wenn auch nicht von Geburt an, da war er Iraner, kam als fünfjähriger mit der Oma nach ...

Man könnte Michel Abdollahi direkt als Vorzeige-Migranten bezeichnen - wenn er nicht schon längst Deutscher wäre. Wenn auch nicht von Geburt an, da war er Iraner, kam als fünfjähriger mit der Oma nach Deutschland. Seine Eltern waren angesichts des Iran-Irak-Krieges in Sorge, dass bei einem männlichen Kind und damit einem künftigen möglichen Soldaten zu einem späteren Zeitpunkt keine Ausreiseerlaubnis möglich gewesen wäre. Inzwischen ist der studierte Jurist Abdollahi preisgekrönter Journalist, deutscher Staatsbürger und mittlerweile sehr besorgt. Denn egal wie erfolgreich, wie heimisch - für die Menschen der neuen Rechten, für diejenigen, die in Flüchtlingen eine Bedrohung sehen und in Muslimen Terroristen sieht einer wie Abdollahi nicht deutsch genug aus, um dazu zu gehören.

Mit seinem Buch "Deutschland schafft mich" hat der Journalist nun eine sehr persönliche Abrechnung mit gesellschaftlichen Entwicklungen unter dem Eindruck eines Abdriftens nach Rechts geschrieben. Ein Rechtsruck, der nicht nur an extremen Rändern stattfindet, sondern längst in den bürgerlichen Parteien angekommen ist - zum Beispiel mit dem Seehofer-Wort über den Islam als "Mutter aller Probleme".

Dass er nicht übersensibel alles persönlich nimmt und auch keine Berührungsängste beim Dialog mit Menschen hat, die völlig anders ticken, hat Abdollahi mit seiner Reportage über das Leben in einem Nazi-Dorf gemacht. Vier Wochen lang lebte er dafür in einem jener Orte, die von den Rechtsextremen als "national befreite Zonen" bezeichnet werden. Doch nach dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle war das wachsende Unbehagen über die Verhältnisse in Deutschland zu einem Grad der Alarmiertheit , der ein Ventil brauchte. Dabei waren zu diesem Zeitpunkt der Anschlag von Hanau und die Wahl eine Ministerpräsidenten mit und vor allem dank der Stimmen der AfD noch Zukunft. Mit diesen Ereignissen ist dann eingetreten, was Abdollahi in seinem Text nur befürchtete.

Abdollahis Buch ist auch eine Schilderung von Lebenserfahrungen in Deutschland - von den 90-er Jahren und dem rechten Mob in Hoyerswerda und Rostock, den Toten von Mölln und Solingen: Der Hass, den wir heute sehen, hat eine Vorgeschichte. Ausführlich geht Abdollahi auf die Entwicklung seit 2015 ein, auf Pegida und "besorgte Bürger", aber auch auf das Schweigen der Mehrheit, von der er viel früher einen Aufschrei, ein klares Wort erhofft hätte. Er will aufrütteln, aber auch Reaktionen einfordern, wenn er oder andere Menschen, die durch ihr Äußeres als "Anders" erkennbar sind, Hass und Anfeindungen ausgesetzt sind - ob im Internet oder auf der Straße. Denn eines sollte doch schon lange bekannt sein: Wer schweigt, wird mit schuldig.

Kritisch geht Abdollahi nicht nur mit der Politik um, sondern auch mit den Medien, mit den Talkshows, die Extremen und Extremisten immer wieder eine Plattform bieten, sich dabei nur allzu leicht zum Werkzeug für diejenigen machen, die ihre Parolen in die Öffentlichkeit tragen, die viel zu oft nur über Migranten oder Muslime sprechen, aber viel zu selten mit ihnen. "Deutschland schafft mich" ist engagiert und eindringlich - und leider nur zu aktuell.

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Veröffentlicht am 20.05.2020

Wie Tarantino für Regionalkrimi-Leser

SoKo Heidefieber
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Wieviel Morde passen auf knapp 300 Buchseiten? Im Fall von Gerhard Henschels „Soko Heidefieber“ sind das ziemlich viele, darunter ziemlich schauerliche und ungewöhnliche. Ähnlich wie in einem Tarantino-Film ...

Wieviel Morde passen auf knapp 300 Buchseiten? Im Fall von Gerhard Henschels „Soko Heidefieber“ sind das ziemlich viele, darunter ziemlich schauerliche und ungewöhnliche. Ähnlich wie in einem Tarantino-Film verliert der Leser im Laufe dieser grotesk-überdrehten Kriminalsatire angesichts von Blut und Leichen auch schon mal den genauen Überblick. Trotz lustvoll inszenierter Gewalt kommt der Humor in diesem schrägen Krimi nicht zu kurz. Wen wundert´s – Autor Henschel hat schließlich auch schon für das Satiremagazin „Titanic“ geschrieben.

Bezeichnet wird „Soko Heidefieber“ als Überregionalkrimi – denn landauf, landab geht es Autoren des Genres an den Kragen oder vielmehr ans Leben. Das Besondere: Jeder von ihnen wird auf eine Art getötet, die einem seiner Romane entnommen ist. Der Mörder, das ist klar, muss ein fleißiger Leser sein. Auch ein besonders anspruchsvoller? Der Schriftsteller Frank Schulz spricht vor dem Bundeskriminalamt ironisch von einer Art „angewandter Literaturkritik“ –mit fürchterlichen Folgen.
Denn ein erzürnter, eitler und nicht sonderlich talentierter Schriftstellerkollege sinnt auf Rache und macht Schulz erst mit einer Medienkampagne fertig und ist mit der Flucht des Autoren in den Griechenland-Urlaub noch längst nicht zufrieden.

Die Uelzener Kommissare Gerold und Ute, in deren Zuständigkeit der erste Mordfall fiel werden in die BKA-Soko berufen, die im Zuge weiterer Morde ebenfalls zu einem überregionalen Ermittlungsteam gehört. Dass der zuständige Forensiker mehr Interesse an erfolglosen Verführungsversuchen bei weiblichen Kollegen hat als für für Beweissicherung, hilft den Ermittlungen nicht weiter, ebenso wenig, wenn ausgerechnet die Kooperation österreichischer oder Berliner Kollegen notwendig wird. Mit regionalen Klischees und Stereotypen wird ebenso gespielt wie mit den Aufgeregtheiten der Social Media-Gesellschaft, den Eitelkeiten des Literaturbetriebs und dem Genre Kriminalroman an sich.

Das gilt auch für die unfreiwilligen Abenteuer des Schriftsteller Schulz – der scheint zwar nicht im Fokus des Mörders zu stehen, doch selbst wenn: Der Täter müsste sich erst in die lange Schlange derjenigen stellen, die dem Autor an Leib und Leben wollen. In einer keineswegs vollständigen Auflistung wären da etwa ein korrupter griechischer Polizeichef, ein schwuler Kopfgeldjäger und Auftragskiller, ein albanischer Familienclan mit Hang zur Blutrache, die biestigen kleinen Töchter eines liebenswerten bayrischen Familienvaters. Ein hungriger Bär, ein Tornado und diverse Unfälle tragen zu den neuen Leiden des Frank S. bei.

Das erinnert dann schon wieder an Art mancher Krimiautoren, ihre Helden „interessanter“ zu gestalten, indem sie sie mit einem solchen geballten Anteil von Schicksal, Gewalt und Schmerzen überhäufen, dass man sich wundert, dass sie das Ende des Buches erleben. Mancher Autor lebt seine sadomasochistischen Tendenzen vielleicht lieber an seinen Romanhelden aus.
Kein Zweifel – Henschel schöpft aus dem Vollen. Dass er zwischen all den Morden nicht nur Platz für die obligatorische Liebesgeschichte findet, sondern dem Leser ein paar linguistische Studien ermöglicht: Chapeau! Wobei es entschieden von Vorteil ist, Plattdeutsch zu verstehen.

Zu dieser wunderbaren Groteske passt dann irgendwie auch, dass die Lösung des Falls in der Sympathisanten-Szene des Berlin der frühen 80-er Jahre wurzelt. Soko Heidemörder ist blutig, sehr blutig. Aber Freunde des etwas schrägeren Humors werden auf ihre Kosten kommen. Na denn mal tau.

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Veröffentlicht am 10.04.2020

Übergriffiger Chef - was tun?

Whisper Network
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Genderdebatten lassen sich auch spannend-unterhaltsam führen. Mit "Whisper-Network" jedenfalls hat die amerikanische Autorin Chandler Baker einen Roman geschrieben, mit dem sich auch jene Frauen auf die ...

Genderdebatten lassen sich auch spannend-unterhaltsam führen. Mit "Whisper-Network" jedenfalls hat die amerikanische Autorin Chandler Baker einen Roman geschrieben, mit dem sich auch jene Frauen auf die Diskussion über übergriffige Männer und Abwehrstrategien von Frauen einlassen, die im Perlenketten-und-Kostüm-Look vehement erklären, mit "Emanzen" nichts am Hut zu haben. Und auch die Autorin wirkt, so zeigt eine kurze Internetrecherche, zu ihrem Foto, wie eine dieser WASP-Frauen (white Anglo-Saxon Protestant), die traditionell eher nicht zu den am meisten diskriminierten Gruppen gehören.

Aber nicht erst seit der #MeToo-Debatte ist ja klar: Nur wenige Frauen sind so privilegiert, so einflussreich, so unantastbar, als dass es nicht doch mal einen Mann gegeben hat, der grabscht, eine sexistische Bemerkung fallen lässt, sich übergriffig verhält - einfach, weil er es kann. The "Whisper-Network" führt die Leserinnen - in meinem Fall die Hörerinnen, da ich das von Anna Carlsson gelesene Hörbuch hörte - in die Welt der Juristinnen Sloane, Ardie und Grace, die in der Rechtsabteilung eines texanischen Sportartikelunternehmens arbeiten.

Alle drei sind beruflich erfolgreich - Sloane ist sogar die stellvertretende Leiterin der Rechtsabteilung. Finanzielle Probleme kennen sie nicht, auch wenn privat nicht alles perfekt ist: Sloane macht sich Sorgen um ihre zehnjährige Tochter, die in der Schule gemobbt wird, Grace leidet an einer postnatalen Depression und Ardie muss nach ihrer Scheidung in den Alltag als Alleinerziehende hereinfinden.

Und dann ist da noch Ames, der Vorgesetzte der drei Frauen, mit dem Sloane einst eine kurze Affäre hatte. Ames ist ein Mann, über dessen Verhalten Frauen schon immer gemunkelt wurde - nun sucht er auffällig die Nähe zu einer neuen, jungen Kollegin. Gewünschte oder ungewünschte Aufmerksamkeit? Wo fängt Verhalten an, übergriffig zu werden? Und wie sollen sich die Frauen verhalten, da Ames nunmehr als heißer Kandidat für das Amt des Geschäftführers gilt und dann noch unangreifbarer wäre? Die drei diskutieren noch über das weitere Vorgehen, als Sloanes frühere Mentorin sie auf eine unter den Business-Frauen der Stadt kursierende Excel-Liste hinweist, zu der jede beitragen kann. Über dieses anonyme Netzwerk warnen Frauen ihre Geschlechtsgenossinen vor Kollegen und Chefs, vor denen man sich in Acht nehmen muss.

Und dann ist Ames plötzlich tot. War es Mord? War es Selbstmord? Plötzlich finden sich die drei Frauen, die juristisch gegen ihren Arbeitgeber vorgehen wollten, selbst einer Gegenklage gegenüber, die sie finanziell und beruflich ruinieren könnte.

Vom Aufbau erinnert Whisper-Network ein bißchen an "Little Big Lies", denn die Geschichte wird von hinten aufgerollt, mit einer polizeilichen Untersuchung, mit Aussagen und Zeitsprüngen zu den Erlebnissen der drei Frauen sowie zu der Putzfrau Rosalita, die zunächst so gar nichts mit den anderen zu verbinden scheint und der eine ganz entscheidende Rolle zukommen soll.



Das Whisper-Network lebt vom Ungesagten, von Andeutungen, von Rätselraten - war da was? Wurde etwas überinterpretiert? Welche persönlichen Motive spielen rein? Wer hat welche Interessen? Wer kann wem vertrauen? Dabei sorgt Baker für manche Überraschung und verzichtet auf Schwarz-Weiß-Malerei nach dem Motto: Lauter böse Männer, laute gute Frauen. Im richtigen Leben ist es schließlich auch nicht so einfach.

Anna Carlsson schafft es dabei als Sprecherin, jeder der Protagonistinnen eine eigene unverwechselbare Stimme zu geben. Ihre angenehme Erzählstimme macht das Buch zu einem echten Hörvergnügen.

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Veröffentlicht am 23.03.2020

Hotelbrand, Sufismus und ein Derwisch

Das Derwischtor
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Eine Versicherungsinspektorin wird von ihrem Büro in Großbritannien in die Türkei geschickt - ehe für einen Hotelbrand eine Millionensumme gezahlt wird, soll Karen Greenwood klarstellen, dass ein Betrugsversuch ...

Eine Versicherungsinspektorin wird von ihrem Büro in Großbritannien in die Türkei geschickt - ehe für einen Hotelbrand eine Millionensumme gezahlt wird, soll Karen Greenwood klarstellen, dass ein Betrugsversuch ausgeschlossen werden kann. So weit die Ausgangslage von Ahmet Ümits Kriminalroman "Das Derwischtor", der so viel mehr als die Genre-Zuordnung auf dem Buchcover ist. Denn von einem klassischen Krimi ist dieses Buch weit entfernt. Statt dessen führt es den Leser in die mystische Welt der Derwische, wird zu einer detektivischen Zeitreise durch die Jahrhunderte und hält für die eigentlich nüchtern-britische Versicherungsfrau einige Überraschungen und übersinnlich Irritationen bereit.

Zugleich ist die Reise nach Konya für Karen eine Rückkehr in die eigene, im Alltag verdrängte Vergangenheit. Hier war die Tochter einer englischen Mutter und eines türkischen Vaters als Kind, auch wenn sie nur schwammige Erinnerungen an den damaligen Besuch hat. Hier lernten sich ihre Eltern kennen, verließ ihr Vater das Ordenshaus der Derwische. Doch als Karen zwölf war, verließ er sie und ihre Mutter, sie hat keinerlei Ahnung, was aus ihm geworden ist. Schon deshalb kehrt sie mit gemischten Gefühlen nach Konya zurück, reagiert teils gereizt, teils irritiert auf ihren türkischen Kollegen Mennan, dem sie wegen seines protzigen Wagens zunächst misstraut - ist der Mann womöglich bestechlich? Auch Karens private Situation beeinflusst ihre Stimmung - die Mittdreißigerin weiß seit wenigen Tagen, dass sie schwanger ist. Für ihren Freund ist eine Abtreibung die einzig mögliche Sache, Karen ist sich da nicht so sicher.

Karen schiebt es daher zunächst auf ihre persönliche Situation, dass sie sich immer wieder beobachtet fühlt. Wer ist der bärtige, schwarzgekleidete Mann mit den intensiven Augen, der immer wieder ihre Nähe zu suchen scheint, dann aber wieder spurlos verschwunden ist? Der ihr einen Ring geschenkt hat, der zu bluten scheint? Warum sieht sie in ihrem Hotelzimmer Dinge, die es eigentlich gar nicht geben kann und hört ihren türkischen Zweitnamen gerufen? Und waru?m zieht es sie immer wieder zu Orten, die mit dem Dichter Rumi und seinem Seelenfreund, dem vor 700 Jahren ermordeten Wanderderwisch Shams-e Tabrizi? Sind Karens (Alp-)Träume Wirklichkeit, in einer anderen Dimension? Wandelt sie zwischen den Jahrhunderten? Und spielen Ereignisse aus ihrer Kindheit eine Rolle bei den jetzigen mysteriösen Erlebnissen?

Ahmet Ümits Kriminalroman ist zugleich eine märchenhaft-poetische Erzählung wie aus Tausendundeiner Nacht, voll mit den Mythen der Sufis und den Fragen nach Rumis Freundschaft mit Shams-e Tabrizi, der auch nach 700 Jahren noch eine schillernde Figur ist. Die verschnörkelte Sprache passt dazu. Zugleich ist mit der skeptisch-bodenständigen Karen ein Kontrapunkt in diese Handlung gesetzt, denn mit Mystik kann sie wenig anfangen, sie ist eben eine westliche Frau des 21. Jahrhunderts.

Das Alte und das Neue, die von Kontrasten geprägte türkische Gegenwart, auch das lässt der Autor quasie nebenher einfließen. Der eigentliche Grund Karens, in die Türkei zu reisen, spielt zwar auch noch eine Rolle und sorgt am Ende für einige Dramatik, doch der Hotelbrand tritt über weite Strecken hinweg in den Hintergrund in diesem Buch, das mit seinen kurz gehaltenen Kapiteln lesefreundlich gestaltet wird. Der Mix von Detektivarbeit, Mystik, Geschichte und Surrealem macht den ganz besonderen Reiz des "Derwischtors" aus. Ungewöhnlich und spannend zugleich.

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Veröffentlicht am 22.03.2020

Schweden-Thriller zwischen zwei Kontinenten

Feuerland
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Es dauert ein bißchen, bis Pascal Engman neuer Thriller "Feuerland" an Fahrt aufnimmt - schließlich muss der schwedische Autor gleich mehrere Erzählstränge zwischen Chile und Schweden anlegen, und wie ...

Es dauert ein bißchen, bis Pascal Engman neuer Thriller "Feuerland" an Fahrt aufnimmt - schließlich muss der schwedische Autor gleich mehrere Erzählstränge zwischen Chile und Schweden anlegen, und wie si viele gute skandinavische Krimis in der Tradition der "Millenium"-Reihe geht es auch in Engmans Thriller um gleich eine ganze Reihe von sozialen Problemen, Missständen und Skandalen. Und obendrein muss mit der schwedischen Komissarin Vanessa Frank eine neue Serienfigur eingeführt werden, die reichlich Entwicklungspotential für Folgebücher enthält.

Die Leser lernen die 42-Jährige nicht gerade in der besten Phase ihres Lebens kennen - frisch getrennt, die Scheidung läuft, leider auch ein Disziplinarverfahren, das mit Suspendierung enden könnte, ist Frank doch betrunken am Steuer erwischt worden, Es liegt nicht nur am treulosen Ehemann Swante, dass sie sich neuerdings ihrer sexuellen Orientierung nicht mehr ganz sicher ist - da könnte es bestimmt noch interessante künftige Entwicklungen geben. Und eher aus Langeweile lässt sie sich überreden, sich als Mentorin des syrischen Mädchens Nastassja zu betätigen, das in einem Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlige lebt.

Am anderen Ende der Welt hat "Don" Carlos, der Chef der "Colonia Rhein" im Süden Chile, ganz andere Sorgen. Die Kolonie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Altnazis und ihren Familien gegründet, die es über die berüchtigte "Rattenlinie" nach Südamerika geschafft hatten. Zu Zeiten der Pinochet-Diktatur wurde hier gefoltert - ähnlich wie es in der real existierenden "Colonia Dignidad" der Fall war. Mittlerweile gibt es mit der "Clinica Bavaria" ein solides finanzielles Standbein, reiche Ausländer auf der Suche nach einem Spenderorgan stellen hier keine kritischen Nachfragen.

Als eine in Schweden operierende Mafia-Organisation zur Unterstützung des Organhandels nicht nur Straßenkinder entführt, sondern auch aus dem Flüchtlingsheim Kinder verschwinden, ermittelt Vanessa auf eigene Faust. Denn sie fürchtet, dass die Mafia auch innerhalb der schwedischen Polizei Informanten hat. Unerwartete Hilfe kommt ausgerechnet von einem Mann, den sie verdächtigt, mit der Entführung reicher Geschäftsleute zu tun zu haben und der ebenfalls im Visier der Mafia zu stehen scheint...

Organisiertes Verbrechen, Korruption, Willkür, Organhandel und Menschenschmuggel - es gibt reichlich Probleme, die Engman die Kommissarin abarbeiten lässt. Die spröde Polizistin und der Halbschilene Nicolas bilden ein Team, das anfänglich voll gegenseitigen Misstrauens zusammenkommt, dann aber sehr effektiv einen Kampf nach dem Motto "Allein gegen alle" aufnimmt, Das ist im letzten Abschnitt mitunter zwar in eher unwahrscheinlicher James Bond-Manier, dabei aber spannend erzählt und mit Hauptfiguren, die gerade wegen ihrer Brüche und Probleme auch menschlich glaubwürdig sind.

Bereits in "Der Patriot" hat Pascal Engman Spannung und Aktualität verbunden. Die Hoffnungen, die ich nach dem ersten Buch in "Feuerland" setzte, wurden nicht enttäuscht. Wie schön, dass das Buch als erster Band einer Thriller-Serie angekündigt wurde. Themen dürften dem Autor so schnell nicht ausgehen - und mit Vanessa Frank hat er eine Hauptfigur geschaffen, auf deren Weiterentwicklung ich neugierig bin.

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