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Veröffentlicht am 14.03.2024

Mitreißende Familiengeschichte

Ein falsches Wort
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„Die Gegenwart meiner verlorenen Kindheit, die ewige Rückkehr dieses Verlustes machte mich zu der, die ich war, es war ein Teil von mir, es durchdrang selbst das schwächste Gefühl in mir.“ (S. ...

„Die Gegenwart meiner verlorenen Kindheit, die ewige Rückkehr dieses Verlustes machte mich zu der, die ich war, es war ein Teil von mir, es durchdrang selbst das schwächste Gefühl in mir.“ (S. 395)
 
Alte Wunden reißen auf, sie zittert. Dunkelheit in ihren Träumen, ein fünfjähriges Kind - sie wacht auf. Alles beginnt mit einem Anruf von Astrid. Bergljot ist überrascht. Schon lange hatte sie nichts mehr von ihrer jüngeren Schwester gehört, obgleich sie die einzige Familienangehörige war, zu der sie flüchtigen Kontakt hielt, seit sie mit ihrer Familie gebrochen hatte. Dreiundzwanzig Jahre ist es her, dass sie aus dem Schatten getreten ist, doch die Stricke sind geblieben. Ebenso wie die Erinnerungen, die Berührungen, die Angst. Und ihre Wahrheit, über die sie nicht spricht. Von der auch Astrid nicht weiß. Es geht um den Familienbesitz, die beiden Hütten auf Hvaler, die - ihre Eltern sind nicht mehr die Jüngsten - im Stillen den beiden jüngsten Schwestern überschrieben wurden, ohne Bergljot und ihren Bruder Bård zu berücksichtigen. Was zunächst nach einem Erbstreit unter Geschwistern aussieht, entwickelt sich für Bergljot zu einem emotionalen Kampf um die Wahrheit ihrer Kindheit. Als kurze Zeit später ihr Vater bei einem Unfall stirbt, scheint die Welt stillzustehen; sie weint, doch anders als ihre Geschwister verspürt Bergljot keine Trauer. 

„Vielleicht war die Angst vor Vater in mir immer lebendig gewesen. Deine Angst vor einem unberechenbaren aggressiven Löwen ist schwer zu besiegen, solange er lebt, aber jetzt war der Löwe tot.“ (S. 148)

Die Angst vor dem, was die erzwungene Annäherung mit ihrer Familie hervorzubringen droht, lässt Bergljot die Bodenhaftung verlieren. Wie betäubt scheint sie, die Protagonistin des Romans „Ein falsches Wort“, der in Übersetzung von Gabriele Haefs bereits 2019 unter dem Titel „Bergljots Familie“ im Osburg Verlag erschien, immer wieder sucht sie in den Wäldern Zuflucht, um zumindest räumlichen Abstand zu gewinnen. Diese emotionalen Nuancen und die Unsicherheit wird durch den besonderen Rhythmus des Textes unheimlich gut eingefangen: Wieder und wieder umkreist sie in denselben Satzphrasen einen Gedanken, wiederholt ihn selbstversichernd, schöpft immer mehr Erinnerungen an die Oberfläche. Im Gespräch mit ihrer besten Freundin Klara, mit der sie eine bewegte Vergangenheit teilt, seit sie sich an der Universität kennenlernten, und in den Sitzungen mit ihrem Psychoanalytiker lernt sie, wie sie mit der Vergangenheit umgehen und ihrer Familie entgegentreten sollte, um selbst nicht daran zu zerbrechen. Dazwischen: Bilder einer Freundschaft, die auf verbotener Liebe zu verheirateten Männern fußt; kindliche Freuden, Erinnerungen an Ausflüge mit ihrem Vater, den Süßigkeitenladen, an - der Körper vergisst nie, was war, während andere die Augen vor der Wahrheit verschließen, wegsehen. Oder, so war es doch? Bergljot beginnt sich mit Bier zu betäuben, der Alkohol macht es erträglich, doch sie verliert nie die Kontrolle. Nur ihre Träume entgleiten ihr immer wieder.

„Ich hatte früh geheiratet und früh Kinder bekommen, um Mutter zu sein und nicht länger Tochter sein zu müssen, dachte ich, als ich anfing zu denken und mein Leben zu verstehen, jetzt betrog ich meinen Mann und meine Kinder, und ich schämte mich.“ (S. 37)

Am Anfang fiel es mir schwer, in den Text zu finden, vor allem der Sprache wegen, die aufgrund der Wiederholungen sehr sperrig daherkommt, doch je weiter sich der Streit um Erbe und Anerkennung verdichtet, desto gebannter war ich und konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen - insbesondere ab dem Zeitpunkt, als klar wird, was wirklich passiert ist, damals, und inwiefern sich das, was sie erlebt, erlitten und gelernt hat auf ihre Persönlichkeitsentwicklung und ihr erwachsenes Ich auswirkt. Eben diese zugrundliegenden Mechanismen blitzen immer wieder auf, indem Hjorth den Bogen zu der Lehre des Schweizer Psychoanalytikers Carl Gustav Jung spannt, der in der Traumdeutung den Schlüssel zum Ich und frühen Erinnerungen sieht - und eben damit auch zum Vater, der Schlüsselfigur des Romans, der sich damit eingehend beschäftigte. Mir haben die gleichermaßen sensible wie konsequente Erzählstruktur, die beeindruckend komplexe Herausarbeitung der Beziehungsgeflechte und die Entwicklung dieser von Bergljots Kindheit bis in die Gegenwart und - ja, letztlich auch - die Sprache sehr gefallen, einzelne Sätze, die sich wie Schläge in die Magengrube aus dem Nichts entluden und ich für mich immer noch und Immer wieder im Herzen bewege. Eine nachhaltig beeindruckende und bewegende Geschichte, große Empfehlung!

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Veröffentlicht am 26.02.2024

Jahreshighlight

Weiße Wolken
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„Diese weißen Wolken haben also nichts mit Weißsein zu tun? – Doch, aber nicht nur. Ich würde sagen, es sin die Spuren, die unsere sogenannte Identität bei uns hinterlässt.“ (S. 98)
Im Frankfurter ...

„Diese weißen Wolken haben also nichts mit Weißsein zu tun? – Doch, aber nicht nur. Ich würde sagen, es sin die Spuren, die unsere sogenannte Identität bei uns hinterlässt.“ (S. 98)
Im Frankfurter Nordend wohnt Dieo mit ihren drei Söhnen und ihrem Mann Simon, ihr Leben ein Spagat zwischen Patchwork und Arbeit, doch Ruhe findet sie auf dem Balanceakt nicht. Sie versucht, den Erwartungen der Gesellschaft an sie als Mutter gerecht zu werden, den Erwartungen, die von ihrer Mutter an sie herangetragen wurde, die, einstmals alleinerziehend und ebenfalls Psychologin wie ihre älteste Tochter, sie nicht schont, zu kritisieren. Aber es ist auch ihre jüngere Schwester Zazie, die sie mürbe macht, obgleich sie sie unendlich liebt. Zazie hat gerade ihre Masterarbeit abgegeben, die Welt steht ihr offen, aber die Frage um ihre Identität, ihr Schwarz-Sein wird lauter, der Rassismus der Gesellschaft, der Sexismus, der allgegenwärtig ist, macht sie wütend. Und: ihre Angst, sich ihrem Freund Max zu öffnen. Dieos Mann Simon wird zunehmen von seiner Schwägerin unter Beschuss genommen. Simon ist weiß, arbeitet bei einem Start-Up und die Arbeit frisst sein Leben; während seine Frau Haushalt und Kinder managet, ist er ständig in Meetings, ständig am Arbeiten, ständig beschäftigt. Anders Max: Er kämpft um Zazies Liebe.

Yandé Seck hat mit „Weiße Wolken“ einen Debütroman vorgelegt, der mich umgehauen hat. Ihre Sprache ist schnörkellos und sanft, die Dialoge dynamisch, ihre Charakterzeichnungen lebendig und liebevoll. Spielerisch wechselt sie die Perspektiven zwischen den drei handelnden Personen, gibt ihnen eine eigene Tonalität und Atmosphäre, als wechselte das Bild in einem Film. Apropos: all ihre Beschreibungen, die Handlungen wirken so filmisch, bunt, als gucke man eine Netflix-Serie – und dieses Pontential hat die Geschichte allemal. Mit kritischem Blick skizziert sie verschiedene Perspektiven auf die Themen Identität, Mutterschaft und das Patriarchat, beschreibt das Leben und Erleben als Schwarze Person in einer überwiegend weißen, westlichen Gesellschaft, die Vorurteile, die damit einhergehen, und den offenen und versteckten Rassismus, der den Protagonistinnen alltäglich begegnet. Insbesondere die Entwicklung der Beziehung zwischen Zazie und Max hat mir sehr gefallen, wie sie einander auffangen und auf Ungerechtigkeiten hinweisen, voneinander lernen, sich lieben; Zazies Selbstermächtigung und wie sie wächst. Das Ende kam mir ein wenig schnell daher, ein wenig platt, aber insgesamt: ein Jahreshighlight!

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Veröffentlicht am 15.01.2024

Ein Herzensbuch

Lichtungen
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Zärtlich und unendlich behutsam zeichnet Iris Wolff in „Lichtungen“ die Bande einer Freundschaft, die von den Jahreszeiten geformt wurde, aber noch die kältesten Winter überdauert hat. Lev und Kato kennen ...

Zärtlich und unendlich behutsam zeichnet Iris Wolff in „Lichtungen“ die Bande einer Freundschaft, die von den Jahreszeiten geformt wurde, aber noch die kältesten Winter überdauert hat. Lev und Kato kennen sich bereits seit ihrer Kindheit, gingen gemeinsam zur Schule. Sie ist ein Samstagskind, wie ihre Mutter sagte, neugierig und klug, doch in den Augen der anderen eine Außenseiterin. Kato hatte einen eigenen Zugang zur Welt, erfuhr sie mit ihren Sinnen, ihrer Fantasie, um dem Jetzt zu entfliehen, denn ihr Vater war Alkoholiker, ihre Mutter nicht mehr da; wann immer möglich, war sie bei Lev zu Hause, um dem Zorn des Vaters zu entfliehen. Lev hingegen ist still und pflichtbewusst, bedacht mit seinen Worten und Handlungen; ein Beobachter. Einer, der bleibt, der festhält an Erinnerungen. An Gefühlen. An drei Worten, die ein Anfang, ein Aufbruch sein können. 
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Zunächst nur vage Pinselstriche, Schattenwurf auf weißem Papier, gibt Iris Wolff Lev und Kato und ihrer Umgebung immer mehr Tiefe, Konturen, Merkmale, die sie besonders machen - den suchenden, unsicheren Blick; lockig-glattes Haar; raue Gebirgszüge, karges Land. Beginnend in der Gegenwart, fernab ihrer beider Heimat, bewegt sich die Handlung der Vergangenheit entgegen, in die Maramuresch im Norden Rumäniens. Szenen eines Lebens ziehen vorbei: Grenzen verändern ihre Linienführung, aus einem Land wird ein anderes, aus einer Staatsform eine andere. Angst weicht Erleichterung, Krankheit wird zu Gesundheit, Menschen kommen, bleiben - und sie gehen, flüchten, träumen von einem besseren Leben, von Freiheit, von Geborgenheit. Welchen Sinn und Zweck haben Grenzen, haben Staatsangehörigkeit in diesen Zeiten?
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Es ist magisch, wie geschickt Iris Wolff die einzelnen Versatzstücke aufeinander aufbaut, mit dem Innen und Außen, der Dynamik zwischen Lev und Kato, ihrer Familie und ihrer Umwelt spielt, und vermeintliche Lücken in der Erzählung, sind sie für die handelnden Personen bereits bekannt, mit jedem Schritt der Vergangenheit entgegen schließt. Die Geschichte entwickelt so eine ganz besondere Dramaturgie, die ich bis dahin noch nicht in der Form erlebt habe: unaufgeregt und subtil, aber doch so kraftvoll, unterschwellig drängend, vorantreibend. Einfach richtig gut. Jeder Atemzug, jedes Wort ist poetisch, wärmend, legt sich wohltuend um Herz und Seele. Und dort behalte ich Lev und Kato, ihre Geschichte, diese zarte Flamme tiefer Freundschaft. 

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Veröffentlicht am 07.11.2023

Gewaltig gut

Kontur eines Lebens
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„Weiße Wände, nahezu leuchtend. Ich betastete meinen Bauch. Aus der Ferne drangen Stimmen zu mir. Ein Laken, das fest um mich gespannt war, hielt mich in dem Bett gefangen. Mein Kopf war unnatürlich schwer. ...

„Weiße Wände, nahezu leuchtend. Ich betastete meinen Bauch. Aus der Ferne drangen Stimmen zu mir. Ein Laken, das fest um mich gespannt war, hielt mich in dem Bett gefangen. Mein Kopf war unnatürlich schwer. Wo ist mein Kind?, fragte ich mit heiserer Stimme.“ (S. 260)

Es war Anfang März 1963, als sie sich kennenlernten; die Waal war von einer dicken Eisschicht überzogen. Nie wird die junge Floristin Frieda den Moment vergessen, als er plötzlich vor ihr stand, mehr Mantel als Mann: Otto. Noch Tage, Wochen nach ihrer Begegnung denkt sie an ihn, Ot-to, Ot-to skandiert sie in Gedanken, schilt sich, ihm nicht einmal ihren Namen genannt zu haben – wie soll er sie so jemals wiederfinden? –, doch da steht er eines Tages plötzlich vor ihr im Blumenladen, ihr Otto – und eben auch nicht, denn er ist verheiratet. Dennoch lassen sie einander nicht mehr los, begehren einander stürmisch, Mund und Wangen rot vor Liebe. Ihre Veränderung ist vor den Eltern nicht unbemerkt geblieben; Frieda merkt, wie sich das Band ihres streng katholischen Elternhauses immer enger um sie schlingt, zu ersticken droht. Dann bleibt ihre Periode aus. Tausende Fragen und keine Antworten, nur Einsamkeit und Angst, die wie ein Stein auf ihrer Brust liegen. Denn eine uneheliche Schwangerschaft, das war ein Skandal. Ihre Eltern verweisen sie des Hauses, versagen ihr jegliche Liebe und Fürsorge, versagen ihr, noch länger Teil der Familie zu sein. Aber auch ihrem heimlichen Kind würde sie nie Mutter, nie Familie sein.

„Ich hatte das große Bedürfnis, alles zu erzählen, wusste aber nicht, wem.“ (S. 85)

Niemals wird sie den Anblick der kleinen Füßchen vergessen, die Stille. Umso mehr schmerzt es, dass nun, sechzig Jahre später, seine Füße das letzte waren, was sie von ihrem Ehemann gesehen hat. All die stille Traurigkeit, die sie ihr Leben lang in sich trug, tritt wieder zu Tage, hallt umso lauter wider zwischen den Wänden des Zimmers der Seniorenresidenz, in der sie nun wohnt. Frieda ist inzwischen einundachtzig Jahre alt, das Laufen fällt ihr schwer, aber die Erinnerung an den Schmerz und die Ungewissheit, die der Anblick der stillen Füße in ihr wachgerufen hat, bringt sie dazu, sich ihre Geschichte zu stellen und sie zu teilen.
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Manchmal kann man nichts dagegen tun, es übermannt einen einfach. Mein Herz ist gebrochen und gleichzeitig seltsam ruhig. Tränen tanzen auf den Wimpern, der Nasenspitze, tropfen auf die Seiten, auf die "Kontur eines Lebens", die niemals ausgefüllt werden durfte, immer nur als blinder Schemen dessen, was hätte sein können, gegen die Brust pocht. Über diese stille Traurigkeit, den Verlust eines möglichen Lebens, das geheim gehalten werden musste, bedeutete eine Schwangerschaft ohne den heiligen Bund der Ehe für viele Frauen Mitte des 20. Jahrhunderts (und ganz sicher auch davor - und jetzt noch) den Ausschluss aus der (gläubigen) Gesellschaft, erzählt Jaap Robben in seinem Roman, der von Birgit Erdmann aus dem Niederländischen übertragen wurde. Zärtlich und gefühlvoll skizziert er das Leben der Protagonistin Frieda in ihrer Adoleszenz in den 60er Jahren und gegenwärtig als alte, hilfsbedürftige Dame, arbeitet die für die jeweilige Zeit und das Alter entsprechenden Charakterzüge, Eigenheiten - und Traumata - sensibel heraus, und lässt sie zu jeder Zeit so nahbar und echt erscheinen. Umso stärker traf mich ihr Schicksal: wie die Gesellschaft und ihre Eltern mit ihr umgingen, und was sie erleiden musste - während der Schwangerschaft, unter der Geburt und danach. Leer und einsam, abgeschnitten. Währenddessen kam Otto ungescholten davon, obgleich er: A) seine Ehefrau betrog, B) ein uneheliches Kind zeugte, C) sogar noch sagte, er habe genug Liebe für sie beide, wo sei da das Problem. Seriously? Aber leider nichts Neues, damals wie heute. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es all den Frauen ihr Lebtag ergangen sein mag, die sie all die Jahre dieses unaussprechliche Packerl mit sich tragen, die Bilder vor Augen, der Schatten einer Berührung auf der Haut. Und dennoch ein "normales Leben" weiterführen mussten.
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Ich habe wahrlich nur warme Worte für diese große, intensive Geschichte, die kritische Betrachtung einer Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Von Beginn an hat mich die Erzählung von Friedas Leben in den Bann gezogen, diese kluge und stringente Komposition aus den jeweiligen Zeitsträngen mein Herz erwärmt. Einzig Tobias, der Sohn Friedas, ging mir zeitweise auf den Geist mit seiner teils herabwürdigen Art. Geschenkt. Nein, ich bin selig. Und zerstört. Ein unbedingtes Jahreshighlight!

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Veröffentlicht am 13.10.2023

Zwischen den Zeiten

Die Wahrheiten meiner Mutter
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Rau ist ihre Sprache, wie kalter Wind in den nordischen Fjorden, rau und schwer, aber doch seltsam schwebend, poetisch und bildgewaltig. Ihr fehlt der Halt, Johanna, dem verlorenen Kind, nun sechzig Jahre ...

Rau ist ihre Sprache, wie kalter Wind in den nordischen Fjorden, rau und schwer, aber doch seltsam schwebend, poetisch und bildgewaltig. Ihr fehlt der Halt, Johanna, dem verlorenen Kind, nun sechzig Jahre alt, das in die Traufe zurückkehrt. Einfach war es nicht, sie kennenzulernen, den Menschen hinter den distanzierten Worten und Gedanken, die Vidgis Hjorth der Protagonistin ihres Romans „Die Wahrheiten meiner Mutter" in den Mund legt, den Fragmenten eines eingebrannten Lebens. Doch je mehr sie sich öffnet, je mehr die Vergangenheit sie übermannt, sie Gefühltes, Erlebtes, Gesehenes im Schutze ihres Hauses im Wald offenbart, desto schneller schlug mein Herz, stärker wurde der Druck meiner Hände um das Buch.
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In lakonischen Szenen und großräumigem, atmendem Schriftsatz weben sich Gedankenfragmente und Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, das Leben mit Mutter und Vater, die Strenge und Demütigung, die sie erlebte, die Restriktion ihrer frühen Fantasterei in die Gegenwart. Es ist eine Suche nach dem Kern ihrer Mutter-Tochter-Beziehung, nach den Gründen für das Verhalten ihrer Mutter – damals wie heute –, eine Suche nach Liebe und Anerkennung, wo nur Kälte, ein teilnahmsloser Blick waren: regretted motherhood. Und heute: Angst. Es grenzte schon ans Absurde, einer sechzigjährigen Frau bei der Beschattung ihrer fünfundachtzigjährigen Mutter beizuwohnen, wie sie mutiger wird, sich immer näher an sie heran wagt, beobachtet, überlegt, reflektiert - und auch die Rolle von Johannas Schwester Ruth in dem Ganzen Katz-und-Maus-Spiel. Hjorth spielt mit Sympathien, der Umkehr von Täterin und Opfer, doch fragt man sich, ob sie an einem Punkt nicht beide dem Patriarchat zum Opfer fielen. Auf die eine oder andere Art.
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Je näher sie einander kommen, desto gespannter wird die Atmosphäre, Johannes Gedanken knapper, konzentrierter, die Reflexion ihrer Mutterrolle präsenter. Bis es zum großen Knall kommt. Bis zur letzten Seite hat mich die Geschichte ungemein gefesselt, der raue Ton bisweilen einem poetischen, gar melancholischen, von Traurigkeit und Ernüchterung verzerrten gewichen; Worten und Bildern, die im Kopf bleiben. Ein beeindruckender, zutiefst bewegender und nachdenklich stimmender Roman, der nach lange nachwirkt.

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