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Veröffentlicht am 13.05.2021

Ein Feuerwerk

Ein Spalt Luft
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„er geht weiter, und er hört nichts,
nicht das geräusch seiner schritte
und nicht das geräusch seines mundes,
wenn er ihn öffnet und schließt.“ (s. 67)

abgeschottet von der außenwelt, eingeschlossen ...

„er geht weiter, und er hört nichts,
nicht das geräusch seiner schritte
und nicht das geräusch seines mundes,
wenn er ihn öffnet und schließt.“ (s. 67)

abgeschottet von der außenwelt, eingeschlossen in einer wohnung, alleine mit seiner mutter, erlebt ein kleiner junge die ersten zwei jahre seines lebens. sie leidet an einer psychose, bleibt alleine, hat keine kontakte zu anderen menschen mehr, auch nicht zum vater des kindes. dieser kämpft unterdessen verzweifelt darum, das alleinige sorgerecht für das gemeinsame kind zu erhalten und erhält recht. in eine neue familie aufgenommen, beginnt ein neues leben für ihn, und der kontakt zur mutter bricht ab – bis er fast zwanzig jahre später erfahren möchte, was damals wirklich passierte. sein vater händigt ihm sämtliche psychologischen gutachten, tonbandkassetten und gerichtsakten aus, die er hat, erzählt davon, wie er die damalige zeit erlebt hat und so setzt sich für den jungen mann nacheinander ein leben zusammen, wie es gewesen sein könnte; ein leben so surreal, irgendwo zwischen realität und albtraum.

in seinem debütroman „ein spalt luft“ berichtet mischa mangel mit starken, einfühlsamen worten sowie einer beeindruckenden vielfalt sprachlicher ideen von anekdoten und prägenden ereignissen aus dem leben eines jungen mannes, der auf der suche nach seiner vergangenheit ist, nach erinnerungen, die er selbst nicht mehr zu rekonstruieren vermag. der autor spielt dabei mit dem satz der worte, den worten selbst und lässt durch das erklingen verschiedener stimmen, etwa dem stotternden vater mit ausgeprägtem dialekt, dem hochsprachlich analysierenden ton eines psychologischen gutachters, dem ausfallenden, lauten geschrei der mutter und nicht zuletzt dem wissbegierigen jungen mann, die verwirrung perfekt werden. erst nacheinander setzen sich die einzelnen puzzleteile logisch zusammen, wird klar, was gegenwart und was vergangenheit ist, was realität und was fiktion sein müsste. über allem schwebt eine dunkle, mysteriöse atmosphäre, die beklemmend wirkt, für sich einnehmend, und so geriet ich schnell in einen sog, der mich bis zuletzt nicht mehr entließ.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Inhaltsvoll

Drei Kameradinnen
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„Es gib die Deutschen und das gibt die Flüchtlinge. Uns gibt es in dieser Welt nicht. Hier sind wir weder Deutsch noch Flüchtlinge, wir sprechen nicht die Nachrichten und wir sind nicht die Expertinnen. ...

„Es gib die Deutschen und das gibt die Flüchtlinge. Uns gibt es in dieser Welt nicht. Hier sind wir weder Deutsch noch Flüchtlinge, wir sprechen nicht die Nachrichten und wir sind nicht die Expertinnen. Wir sind irgendein Joker, von dem sie noch nicht wissen, ob sie ihn einmal zu irgendetwas gebrauchen können.“ (S. 233f)

Ihre Freundschaft ist es, was sie zusammenhält, was sie stärkt, was ihnen niemand wegnehmen kann. Seit ihrer gemeinsamen Jugend in der Siedlung gibt es Hani, Saya und Kasih nur im Dreierpack, und sie wissen alles über die jeweils anderen, über ihre Herkunft und ihre Haltungen. Doch was sie auch eint, sind die Blicke, die Vorurteile, all der menschengemachte Hass, der ihnen überall in der Stadt begegnet, jeder auf ganz unterschiedliche Art, aber doch mit demselben Zunder.

Mit ihrem zweiten Roman setzt Shida Bazyar neue Maßstäbe: „Drei Kameradinnen“ nimmt die Gegenwart glasklar und intensiv auseinander, ist ernüchternd und anklagend in der direkten Ansprache, kompromisslos und einfach unglaublich in der Ausführung. Von der ersten Seite an legt Kasih als Erzählerin ein enormes Tempo vor, gibt zunächst nur bruchstückhaft wieder, was der Ausgangspunkt, der Grund all der Aufregung sei, und erzählt von gegenwärtigen Ereignissen ebenso wie Anekdoten aus der Vergangenheit der drei Frauen, um die Ursprünge und Hintergründe deutlich zu machen. Dieser schnelle, atemlose Stil ist beeindruckend gut umgesetzt, und ich habe zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass ein Einschub nicht stimmig oder gar überflüssig wäre. Leichtfüßig wechselt die Erzählperspektive zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Fiktion und Realität, zwischen persönlicher Ansprache und Beobachterfunktion. Gerade die persönlichen Ansprachen haben etwas Anklagendes, Entlarvendes, das Gänsehaut bereitet, Schamesröte in die Wangen schießen lässt und sogar mit zermürbender Ratlosigkeit ob der eigenen vorgreifenden Gedanken zurücklässt. Noch nie fühlte ich mich so in eine Geschichte eingebunden, und noch lange nachklingend angesprochen, auch wenn hier ein eher negativer Ton anklingt.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Ein Stück Geschichte

Vom Aufstehen
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„Als Erwachsene weiß ich eigentlich, dass ich alles allein machen muss:
Alles selbst einrühren, alles selbst durchstehen, alles selbst ausbaden.
Ich muss die Suppe auslöffeln, die ich mir vorher eingebrockt ...

„Als Erwachsene weiß ich eigentlich, dass ich alles allein machen muss:
Alles selbst einrühren, alles selbst durchstehen, alles selbst ausbaden.
Ich muss die Suppe auslöffeln, die ich mir vorher eingebrockt habe.
Als Erwachsene weiß ich, dass ich Konkurrenten und Neider habe, die hinter meinem Rücken ihre Fallstricke legen.“ (S. 45)

Treffender könnte ein Titel nicht gewählt sein: In „Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten“ erzählt die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert in 29 Erzählungen aus ihrem Leben. Nachdenklich und drückend skizziert sie Episoden aus ihrer Kindheit, den Leiden der Nachkriegsgeneration, ihrem Leben als Autorin in der DDR und den damit verbundenen Ängsten und Hindernissen – bis hin zur Mauerfall, der auch in ihr einen Befreiungsschlag auslöste. Man spürt förmlich den Druck, der auf ihren Schultern lastet, den Einfluss der Stasi auf ihr Schaffen, den sie durch die lakonischen Darstellungen, die Wiederholungen erzeugt. Umso freimütiger, leichter – quasi als Aufmunterung, als Hoffnungsschimmer – werden die längeren biographisch-historischen Erzählungen von kurzen Sinneseindrücken, Momenten der Fröhlichkeit, der Wertschätzung des Lebens abgewechselt: So schreibt sie herrlich selbstironisch von den Tücken des Alterns in der modernisierten Welt, von der Hängematte im Garten ihrer Großeltern, von den Düften der Blumen in ihrem Garten. Diese Passagen, die mit klug gesetzten Absätzen und bildhaften Darstellungen Zeit zum Verweilen und Reflektieren geben, haben mir besonders gefallen. Zu diesem Wohlgefühl zuträglich ist, dass alle Erzählungen aus der Ich-Perspektive geschrieben sind, was die Erlebnisse und Eindrücke noch nachvollziehbarer, empathischer macht. Sie hält sich nicht mit unnötigen Ausschmückungen auf, sondern bringt klar auf den Punkt, was sie ausdrücken möchte, benutzt lediglich Wiederholungen zur Verstärkung, aber beruht sich sonst auf die Aussagekraft des Wortes selbst.

Die Titelgeschichte bildet den krönenden Abschluss des Erzählbandes, der an Schwermut nicht zu übertreffen ist: [...]

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Besonders und tierisch gut

Ein Beitrag zur Geschichte der Freude
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„Schwalben fliegen, ihre Weisheit nähert sich nur aus ihren Zweifeln, und solange sie leben, bleiben sie sich treu.“ (S. 11)

[TW: sexuelle Gewalt, expliziter Geschlechtsverkehr, Vergewaltigung]

Er ist ...

„Schwalben fliegen, ihre Weisheit nähert sich nur aus ihren Zweifeln, und solange sie leben, bleiben sie sich treu.“ (S. 11)

[TW: sexuelle Gewalt, expliziter Geschlechtsverkehr, Vergewaltigung]

Er ist tot, an einem Seil erhängt, Zeichen einer Strangulation zeichnen den Hals. Der scheinbare Selbstmord eines reichen Geschäftsmanns zieht einen namenlosen Ermittler auf den Plan, der von dessen Witwe davon überzeugt wird, dass ein Suizid ausgeschlossen ist. Daraufhin begibt er sich auf die Suche nach Verbindungen, nach den Menschen, die zuletzt mit ihm in Kontakt standen und stößt dabei auf ein orangefarbenes Haus, das im Prager Petřín-Hügel verbaut ist. Es wird von drei älteren Damen bewohnt: der Körpergedächtnis- und Yoga-Instruktorin Diana Adler, der Filmemacherin Erika Eis und der Schreiberin Birgit Stadtherrová. Sie führen in Prag eine Art Archiv, in dem jegliche Gewalt an Frauen zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Gegenwart dokumentiert ist. Als die drei Damen nicht zugegen sind, verschafft er sich Zugang zu den Gemäuern und versucht, eine Verbindung zwischen dem Mordfall, dem Gewalt-Archiv und den Machenschaften der Frauen herzustellen.

In ihrem vierten Roman „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ (OT: „Prispevek k dejinam radosti“, aus dem Tschechischen von Eva Profousová) verwebt Radka Denemarková bildgewaltig intensive, erschütternde Berichte vergangener und gegenwärtige Gewaltverbrechen gegen Frauen mit eher seichten Elementen eines Kriminalromans, die hier aber eher eine hintergründige Rolle spielen. Von Beginn an ist die Geschichte begleitet vom Zwitschern der Schwalben, vom Flügelschlag eines Adlers, dem Balztanz eines Rotkehlchens – sie scheinen das verbindende, das prägende Element zu sein, das den Ton und die Atmosphäre des Romans begleitet. Denn das ist es, womit sich die drei geheimnisvollen Damen beschäftigen: Einst zu viert anzutreffen, haben sie es sich zur Aufgab gemacht, Gerechtigkeit in der patriarchalisch geprägten Welt zu schaffen, in der Frauen Menschen zweiter Klasse sind, erniedrigt werden, misshandelt werden; [...]

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Experimentell und interessant

Der Himmel vor hundert Jahren
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„Worum es geht, worum es einzig und allein gehen soll, nein, gehen muss, das ist der Mensch, und der Mensch hat Träume, die er träumt, Träume von Größerem und Träume von der Zukunft und vom Menschsein ...

„Worum es geht, worum es einzig und allein gehen soll, nein, gehen muss, das ist der Mensch, und der Mensch hat Träume, die er träumt, Träume von Größerem und Träume von der Zukunft und vom Menschsein in der Zukunft (...).“ (S. 105)

Geschrieben steht das Jahr 1918. An einem Fluss in Russland liegt ein Dorf; so weit abgelegen, dass es von dem laufenden Bürgerkrieg, von allem, was außerhalb des Marktplatzes geschieht, noch nichts erfahren hat. Ist auch gar nicht so schlimm, denn die Ereignisse im Dorf halten die Bewohner:innen in Atem, in Aufregung und Erwartung. Während Ilja, der Dorfälteste, mithilfe eines mysteriösen Glasröhrchens, das eine silbrige Flüssigkeit umschließt, das Wetter vorherzusagen vermag, spricht Piotr, der graubärtige Greis, mit dem Fluss und seinen Geistern, hält ein ums andere Mal den befeuchteten Zeigefinger in den Wind zum Wetterbericht – die Geister scheiden sich in ihrer Kunst.
Doch als Inna Nikolajewna, der Frau von Ilja, eines Tages ein Messer herunterfällt, kommt ein Fremder, ein junger Mann in Uniform, aber ohne Stiefel, in ihr kleines Dorf – und bleibt. Er redet nicht viel, doch wenn er das Wort ergreift, verfolgt er jedes Mal einen anderen Faden. Jeder beobachtet ihn, versucht, seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen, doch sie scheitern alle, selbst Iljas Enkelin Annuschka. Als schließlich auch noch zwei Männer, die „Realitäten“, das Dorf aufsuchen, gerät das Dorf in Umbruch.

In ihrem Debütroman „Der Himmel vor hundert Jahren“ entspinnt Yulia Marfutova ein poetisches, sprachliches Feuerwerk, das die seichte Monotonie der eigentlichen Handlung strahlen lässt. Zarte Charaktere erhalten eine eigensinnige, wundersame Stärke, die nicht handhabbar ist, aber doch irgendwie da. Die elliptischen, kurzen Sätze, wie zufällig eingeworfenen Wörter und dann wieder verschachtelten, hypotaktischen bestimmen das Tempo, das insgesamt eher langsam ist, nachdenklich – und dadurch die wunderschöne Sprache nur noch mehr zur Geltung bringen.

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