Profilbild von fraedherike

fraedherike

Lesejury Star
offline

fraedherike ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit fraedherike über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 13.05.2021

Volltreffer

Frühling
0

"Und falls du vor mir stirbst, werde ich die ganze Zeit, die ich ohne dich lebe, durch die verschiedenen Zeitzonen der Welt reisen, damit ich auf diesem Planeten so viel Zeit wie möglich im Frühling verbringen ...

"Und falls du vor mir stirbst, werde ich die ganze Zeit, die ich ohne dich lebe, durch die verschiedenen Zeitzonen der Welt reisen, damit ich auf diesem Planeten so viel Zeit wie möglich im Frühling verbringen und nach die suchen kann.“ (S. 106)

Er bedeutet Verwandlung, Anfang, Wiederbelebung. Frühling bedeutet, dass etwas Neues beginnt, etwas Altes der Vergangenheit angehört und dass jeder, so unscheinbar man für sich allein gesehen auch sein mag, die Chance hat, etwas Großes, Bedeutendes anzustoßen.

All diese Kraft, die vom Frühling ausgeht, scheint Richard, einem unbekannten Regisseur, der nach dem Tod seiner geliebten Freundin Paddy den vergangenen Zeiten nachtrauert, den Projekten, die sie gemeinsamen erarbeitet haben, komplett entsagt zu sein. Ziellos steigt er in einen Zug in King’s Cross und steigt auf einem abgelegenen Bahnsteig in Schottland einfach aus – immer in Gedanken bei den Wolken, die ihn seiner großen Liebe näherbringen.

Und da ist auch Brit, die als Angestellte in einem Flüchtlingszentrum in London dem wundersamen Einbruch eines kleinen zwölfjährigen Mädchens, Florence, beiwohnt, dass es, ohne in jeglicher Weise aufzufallen, bis zum Leiter der Einrichtung schafft, um ihn dazu zu bringen, die Toiletten der Wohneinheiten – oder vielmehr, der Zellen – reinigen zu lassen und mit ihm über die Flüchtlingspolitik zu reden. Kurzerhand fahren die beiden gemeinsam in den Norden, um dort zufällig auf Richard zu treffen und ihrer aller Geschichten verschmelzen zu lassen.

Der dritte Band des Jahreszeiten-Quartetts von Ali Smith wartet mit einer atemraubenden Atmosphäre auf, die die der beiden vorherigen Bände noch übertrifft. Düster, voller Trauer und Bedauern führt sie zunächst in das Leben von Richard Lease, einem Regisseur, ein. Er hängt mit seinen Gedanken noch immer in der Vergangenheit fest, als alles besser war, sowohl privat als auch beruflich. Er hat niemanden mehr, außer seine imaginäre Tochter, mit der er in Gedanken redet, die ihn aufzieht, wenn er mit der modernen Welt nicht zurechtkommt, kein gutes Haar an ihm zu lassen scheint. Und doch ist sie ihm eine ungemeine Stütze.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 13.05.2021

Mystisch gut

Heiße Milch
0

„Die Liebe zu meiner Mutter ist wie eine Axt. Sie schlägt sehr tief.“ (S. 174)

Sofia begleitet ihre Mutter Rose in Spanien, um sich dort in einer Spezialklinik von dem bekannten Arzt Dr. Goméz untersuchen ...

„Die Liebe zu meiner Mutter ist wie eine Axt. Sie schlägt sehr tief.“ (S. 174)

Sofia begleitet ihre Mutter Rose in Spanien, um sich dort in einer Spezialklinik von dem bekannten Arzt Dr. Goméz untersuchen zu lassen. Immer wieder kann sie ganz plötzlich die Beine nicht mehr bewegen und ist komplett auf die Unterstützung ihrer Tochter angewiesen. Seit ihr Vater die beiden verlassen hat, als Sofia noch klein war, um in seiner Heimat in Griechenland eine neue Familie zu gründen, kümmert sich die Anthropologin um ihre Mutter. Doch je mehr Zeit sie mit Strandspaziergängen verbringt, je mehr Gespräche sie mit Dr. Goméz führt, je mehr sie sich in einer kuriosen Beziehung zu der deutschen Künstlerin Ingrid verliert, desto mehr wacht sie auf: Sie muss sich aus den medusengleichen Fängen ihrer Mutter befreien, aus ihrem Einfluss auf ihr Leben, endlich frei sein, ein eigenständiger Mensch – und so trifft sie eine Entscheidung, die alles verändern soll.

Deborah Levys Roman „Heiße Milch“, der bereits 2016 erschien, ist eine kuriose, manchmal verwirrende, oftmals unglaublich anstrengend zu ertragene Geschichte einer toxischen Mutter-Tochter-Beziehung, die mich aber vor allem durch die ihr zugrunde liegende Genialität begeistert hat. Die Protagonistin Sofia scheint ohne ihre Mutter gar nicht funktionieren zu können, sagt von sich selbst, dass die Worte ihrer Mutter ihr Spiegel seien (vgl. S. 92) und auch ihre Handlungen sind denen der kranken Frau angepasst: „Ich bin ihre Beine, und sie ist lahm. Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Ich habe wieder zu hinken begonnen“ (S. 171). Doch sie hat Angst, sich aus der Beziehung zu befreien, undankbar zu erscheinen; sie befindet sich in einem Dilemma, aus dem ihr auch ihr Vater nicht helfen wird, der mit alledem nichts zu tun haben will, wie sie bei einem kurzen Besuch feststellt.

Auf der Suche nach ihrer Identität trifft sie einige denkwürdige Menschen, deren Rolle mir auch im Nachhinein nicht ganz klar sind, und zur

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 13.05.2021

Ich lieb's!

Nie, nie, nie
0

„Als ich jünger war, war ich nicht die, die ich jetzt bin, und in zehn Jahren werde ich wieder jemand anders sein. Eine Sache habe ich aber schon immer gewusst: Ich werde keine Kinder haben. Ich hab mir ...

„Als ich jünger war, war ich nicht die, die ich jetzt bin, und in zehn Jahren werde ich wieder jemand anders sein. Eine Sache habe ich aber schon immer gewusst: Ich werde keine Kinder haben. Ich hab mir nie Kinder gewünscht. Habe nie verstanden, warum wir Menschen unbedingt Kinder kriegen müssen.“ (S. 17)

Ein Leben ohne Kinder – das ist es, was die namenlose, 35-jährige Protagonistin möchte, wie sie sich ihre Zukunft vorstellt. Doch nicht bei allen Menschen in ihrem Umfeld kommt diese Entscheidung, diese Lebenseinstellung aus Überzeugung gut an. Immer wieder wird sie mit dem Thema konfrontiert, verliert den Kontakt zu Freunden, die Eltern geworden sind, stößt auf Unverständnis, wenn sie Einladungen zu Spielplatzbesuchen absagt. Besonders die Beziehung zu ihrem Freund Philip leidet, denn er bezweifelt, dass sie so jemals eine gemeinsame Zukunft haben würden. Als dann ihre beste Freundin Anniken ein Kind bekommt, ändert sich alles und die junge Frau sieht sich dem Thema „Kind“ stärker ausgesetzt als je zuvor.

In ihrem Roman „Nie, nie, nie“ geht Linn Strømsborg auf Themen ein, mit denen vermutlich jede Frau an einem Punkt in ihrem Leben konfrontiert wurde oder die sie beschäftigen: Familiengründung, Kinderwunsch, Zukunftsplanung. Doch wieso ist unsere Gesellschaft der Ansicht, dass jede Person mit Uterus automatisch Kinder haben will oder muss, als lebten wir noch in der Steinzeit und müssten für das Fortbestehen einer aussterbenden Art sorgen? Ist eine Familie nicht auch ohne Kinder eben das: eine Familie? Eindrücklich und emotional beschreibt die namenlose Ich-Erzählerin, die, stellvertretend für eine breite Masse, sich dazu entschlossen hat, kinderlos bleiben zu wollen, welche Gründe sie dazu bewegen und wie übergriffig, verständnislos und verletzend nicht nur fremde Menschen zu ihrer Entscheidung stehen, sondern auch ihre Familie, ihre Mutter, die weiterhin beharrlich Babysocken strickt; Arbeitskolleg:innen, die plötzlich nur noch über Windeln und erstes Brabbeln sprechen wollen; ihr Freund, der sich eine gemeinsame Zukunft ohne Kinder nicht vorstellen kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 13.05.2021

Erwachen werden

Hard Land
0

„Das Leben ist nicht einfach, es ist hart und schnell. Die meisten Menschen machen eine Menge durch und denken dabei kaum nach... Ich weiß bis heute nicht, wer ich eigentlich war.“ (S. 98)

Sam ist fünfzehn, ...

„Das Leben ist nicht einfach, es ist hart und schnell. Die meisten Menschen machen eine Menge durch und denken dabei kaum nach... Ich weiß bis heute nicht, wer ich eigentlich war.“ (S. 98)

Sam ist fünfzehn, findet in der Schule keinen Anschluss und weiß mit seinem Leben nichts anzufangen. Nun gibt es in der Kleinstadt Grady in Missouri, wo er gemeinsam mit seinen Eltern wohnt, aber, abgesehen von den 49 Geheimnissen, von denen er kein einziges kennt, aber auch nichts Spannendes zu erleben. Doch das soll sich ändern, als er in diesem alles verändernden Sommer einen Ferienjob im alten Kino annimmt: Er findet in dem toughen Cameron und dem sensiblen Quarterback Hightower wahre Freunde, die ihm ohne großes Zutun dabei helfen, zu sich zu finden, aus sich herauszukommen, mutig zu sein. Und – kein Sommer ohne Herzschmerz: Kirstie, die Tochter des Kinobesitzers, lockt Sam aus dem Schatten ins Licht und entfacht in ihm Gefühle, die er bis dahin noch nicht erlebt hat, eine wahre Sommerliebe. Aber Sam weiß, dass all das nicht von Dauer ist, denn die drei werden nach diesem Sommer die Stadt verlassen und an den Colleges des Landes studieren – und ihn auf sich allein gestellt zurücklassen. Nun gilt es, das beste aus der gemeinsamen Zeit herauszuholen und sich dem Leben mit all seinen Hochs und Tiefs zu stellen.

Benedict Wells‘ neuster Roman „Hard Land“ lebt von seiner Atmosphäre, einem gewissen „Feel Good“-Moment, und der Hoffnung darauf, dass alles besser werden wird. Der Protagonist Samuel leidet unter Angstattacken und wird daher in der Schule als Außenseiter angesehen, und so will niemand etwas mit ihm zu tun haben. Als er sich in diesem Sommer im Jahr 1985 aber darüber klar wird, dass das Leben endlich ist, dass seine Mutter, die einen Hirntumor hat, bald sterben würde, beschließt er, dass sich etwas ändern muss, dass er – für sie – stark sein muss, dass das „sein“ Sommer wird.

Da allerdings von Beginn an klar ist, was einen erwartet, wie dieser Sommer Sams Leben ändern wird, erlebt die Geschichte keine überraschenden Turning points, lebt vielmehr von der seichten, beschützenden Umarmung, die Benedict Wells‘ Worte sind.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 13.05.2021

Eindrucksvolle Darstellung

Das große Herz
0

"Ich habe immer gedacht, ich könnte dich retten, aber vielleicht kann man niemanden vor sich selbst retten. Vielleicht wusstest du die ganze Zeit, dass es nie gehen würde, und nur ich habe geglaubt, du ...

"Ich habe immer gedacht, ich könnte dich retten, aber vielleicht kann man niemanden vor sich selbst retten. Vielleicht wusstest du die ganze Zeit, dass es nie gehen würde, und nur ich habe geglaubt, du würdest es auch wollen." (S. 295)

Als „heile Welt“ würde Jackie ihre Kindheit nicht bezeichnen. Oftmals streiten ihre Eltern, verschwinden plötzlich für einige Tage, trennen sich schließlich. Jackie lebt bei ihrer Mutter Lone, als ihr Vater nach einer weiteren durchzechten Nacht, die das Fass zum Überlaufen brachte, in eine Psychiatrie eingewiesen wird. Damals war sie vierzehn Jahre alt. Jackie besucht ihn fast täglich in Beckomberga, der größten Nervenheilanstalt Schwedens, und erlebt jedes Mal eine Reise ins Zauberland: Schnell fühlt sie sich heimisch, freundet sich mit Sabina, einer anderen jungen Patientin an, die viel Zeit mit ihrem Vater verbringt, führt tiefsinnige Gespräche mit dem Arzt Edvard, der fragwürdige Behandlungsmethoden praktiziert – und lernt den ersten Mann ihres Lebens kennen. Sie lernt ihren Vater von einer anderen Seite kennen, erkennt sein großes Herz und fragt sich, wieso es ihre Familie nicht zusammenhalten konnte.

In ihrem dritten, von der wunderbaren Ursel Allenstein ins Deutsche übersetzten Roman „Das große Herz“ (OT: Beckomberga. Ode till min familj) entfaltet Sara Stridsberg nach und nach, wie es dazu kommen konnte, dass Jackies Eltern sich voneinander entzweiten, das Kind dabei auf der Strecke blieb und jeder seiner Wege ging. In einem Augenblick hell und humorvoll wird schnell klar, dass jede Situation, jede Entscheidung auch ihre dunklen, ihre Schattenseiten hat, und so spielt Sara Stridsberg mit kurzen, prägnanten Episoden aus der Vergangenheit, der Zeit in der Psychiatrie, und der Gegenwart, in der Jackie selbst Mutter ist, mit ihrem Sohn Marion auf Erkundungstour der alten Gemäuer geht. Dort lernte sie selbst, dass die Grenze zwischen Düsternis und Geborgenheit hauchzart ist, sich alles von einem Augenblick zum nächsten schlagartig ändern kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere