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heinoko

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 07.02.2018

Ein Buch wie Bitterschokolade

Der Sommer des Raben
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Es fällt mir schwer, diesem kleinen großen Roman gerecht zu werden.
Da gibt es eine klare Handlung: Felix stirbt durch einen unglücklichen Unfall und Siri, seine Lebensgefährtin, erlebt die dunkelste ...


Es fällt mir schwer, diesem kleinen großen Roman gerecht zu werden.
Da gibt es eine klare Handlung: Felix stirbt durch einen unglücklichen Unfall und Siri, seine Lebensgefährtin, erlebt die dunkelste Zeit ihres Lebens. Sie flieht in ohnmächtiges Verharren, lässt andere bestimmen, gewährt dem inneren Stillstand und aufblitzenden Erinnerungsbildern sehr viel Raum. Schließlich nimmt sie, von Beruf Agentin für Puppenexponate, die von Felix begonnene Suche nach der Raben-Marionette Havran aus der weltberühmten tschechischen Werkstatt Spejbl & Hurvinek wieder auf, und mit dieser geradezu besessenen Suche beginnt sich auch ihr inneres Leben wieder in Bewegung zu setzen.
Mir war beim Lesen dieses Buches meistens kalt. Die beschriebene Trauer fiel mich an wie eine plötzliche Erkältung. Und Siri’s ergebenes Stillhalten ließ auch mich erlahmen. Die sehr detailgenau erzählte Welt der Marionetten war einerseits faszinierend, andererseits blieben die Puppen und Marionetten und Raben im gesamten Buch leblos. Ursprung und Besitz, ja – aber an keiner Stelle des Buches wurden sie zum Leben erweckt, nahm sich ein Puppenspieler ihrer an und hauchte ihnen Persönlichkeit ein. Und so fühlte ich mich auch beim Lesen: An den Fäden der Autorin hängend, ihrer erzählten Geschichte folgend, aber ohne eigenes Leben. Hingerissen von ihrem intensiven, feinsinnigen Schreibstil, in dem sich eine nüchterne, fast abgehackte Schreibweise mit Stellen von lyrischer Schönheit abwechselt. Übrig bleibt mir vom Buch der Geschmack von Bitterschokolade – süß und bitter gleichermaßen.

Veröffentlicht am 16.01.2018

Literarische Herzsuche

Die Herzen der Männer
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„Die Herzen der Männer“ – ja, sie sind zu finden in diesem Buch. Man bahnt sich 480 Seiten lang schier endlos scheinende Wege durch einen Urwald von Gewalt, von Abwehr und gnadenloser Härte. Und während ...


„Die Herzen der Männer“ – ja, sie sind zu finden in diesem Buch. Man bahnt sich 480 Seiten lang schier endlos scheinende Wege durch einen Urwald von Gewalt, von Abwehr und gnadenloser Härte. Und während man sich innerlich bereits abgewendet hat, entrüstet oder angeekelt ist, blitzt es plötzlich hervor, so ein Männerherz, so weich, so verletzlich, dass es den Leser im Tiefsten berührt.

Zentrum des Geschehens, der Rote Faden im Buch, ist ein Pfadfinder-Lager in Wisconsin. Im Jahr 1962 lernen wir Nelson kennen, einen traurig-einsamen Jungen, dessen Intelligenz und Perfektionsdrang seine gesamte Umwelt auf Abstand hält oder sie herausfordert zu Quälereien sondersgleichen. „Ich muss klüger sein als die.“ Mit diesem Ansporn rückt er noch weiter weg von den anderen. Er ist auf eine ganz altmodische Weise ganz und gar rechtschaffen. Alle Prügel seines Vaters konnten daran nichts ändern. Jonathan ist der einzige Jugendliche, der auf versteckte und doch tröstliche Weise zu Nelson hält.
1996, gute 30 Jahre später leitet Nelson, der im Vietnamkrieg im Einsatz gewesen war, das Pfadfinder-Lager. Jonathan’s Sohn Trevor nimmt daran teil. Im Verlauf dieses Lageraufenthaltes lernt Trevor seinen Vater von einer Seite kennen, die seine heile Familienwelt-Vorstellung brutal zerstört.
2019 befinden wir uns wieder im gleichen Pfadfinder-Lager, in dem der alte Nelson inzwischen dauerhaft lebt. Dieses Mal lernen wir Thomas kennen, den Sohn von Trevor. Die moderne Zeit lässt das Pfadfinder-Leben fast lächerlich wirken. Das Ende dieses Sommer-Camps ist symbolhaft…

Die unglaublich intensive Sprache des Autors fängt den Leser ein und lässt ihn nicht mehr los. Sie trägt den Leser zum Beispiel durch die grenzenlose Einsamkeit eines Nelson, ohne Chance des Entkommens. Oder durch in Rückblicken angerissene Szenen vom Krieg, von erlittenen Grausamkeiten, die von den Vätern unreflektiert hart an die Söhne weitergegeben werden. Man möchte sich abwenden, will nichts mehr lesen vom schicksalhaften Gefangensein in liebloser Strenge. Man hat genug von den verzweifelten und letztlich vergeblichen Bemühungen, ein wenig Glück zu erhaschen. Aber die Sprache lässt dieses Abwenden nicht zu. Mitten im Berichten abscheuungswürdigen Geschehens gibt es plötzlich Naturschilderungen von atemberaubender Schönheit oder eingestreute kleine Momentaufnahmen aufblitzenden liebenden Verstehens, winzige Augenblicke nur. Aber dennoch sind es Blicke mitten ins Herz, in das Herz von Männern, in vom Leben beschädigte, verletzte Seelen.

Veröffentlicht am 15.01.2018

Zeitgeschichte gut lesbar verpackt

Die Jahre der Schwalben
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Leider kenne ich den ersten Band „Das Lied der Störche“ nicht. Das machte mir zwar keine Probleme beim Einstieg in den Roman „Die Jahre der Schwalben“, aber ich hätte im Nachhinein doch sehr gerne mehr ...


Leider kenne ich den ersten Band „Das Lied der Störche“ nicht. Das machte mir zwar keine Probleme beim Einstieg in den Roman „Die Jahre der Schwalben“, aber ich hätte im Nachhinein doch sehr gerne mehr über die Geschehnisse vor Beginn des zweiten Bandes erfahren, insbesondere da ja die Grundlage der Romane die wahre Lebensgeschichte der Friederike Wilhelmine von Plato und deren Familienmitglieder ist. Das Nachwort der Autorin offenbart, wie klug sie Wahres und Fiktives zusammengefügt hat und wie viel mühsame Recherchearbeit in der Schilderung von Örtlichkeiten und zeitlichen Gegebenheiten liegt. Mein Tip also vornweg: Lesen Sie alle drei Bücher dieser groß angelegten und bewegenden Ostpreußen-Saga!
Der vorliegende Band beginnt mit dem Jahr 1930 und endet im November 1944. Frederike’s Mann Ax ist schwer an Tuberkulose erkrankt und stirbt schließlich. Die blutjunge Frederike ist deshalb gezwungen, die Führung des riesigen Gutes Sobotka zu übernehmen, eine schwere Last. Ernsthaftes Pflichtbewusstsein und die für einen so jungen Menschen typischen Lebensträume stehen in stetem Widerstreit. Frederike wählt den Weg der Pflicht und lernt immer mehr, ihren Aufgaben als Gutsherrin gerecht zu werden. In Gebhard findet sie schließlich den verlässlichen und kompetenten Mann an ihrer Seite. Trotz des Vormarsches der NSDAP, der zunehmenden Zukunftsängste, der Atmosphäre von Misstrauen und Verrat und schließlich der Kriegswirren mit all seiner Not, verliert Frederike letztlich nie die Zuversicht.
Das Buch versteht es, den Leser von Anfang bis Ende zu fesseln. Es schildert so detailreich und farbig das Gutsleben und seine Bewohner, dass man das Gefühl hat, das alltägliche Leben mit ihnen zu teilen, mit ihnen zu arbeiten, mit ihnen am Essenstisch zu sitzen und alle stillen, aber auch einschneidenden Momente des Lebens in direkter Weise mit ihnen gemeinsam zu erleben. Die politische Entwicklung dieser Jahre bewegt die Menschen und wir erfahren, wie blindes und denunziantes Mitläufertum, aber auch geheimer Widerstand wachsen. Die Angst vor einer ungewissen Zukunft liegt über allem…
Das Buch ist ein fesselnder Roman, packend, detailreich, romantisch und realistisch gleichermaßen. Gerade durch die fesselnde Erzählweise wird der geschilderte Zeitausschnitt in seiner brisanten politischen Entwicklung und den Folgen auf das Alltagsleben der Menschen hautnah, geradezu beängstigend nah erfahrbar. Absolut lesenswert!

Veröffentlicht am 04.12.2017

Zurücklehnen und genießen!

Inselcocktail
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Wir lernen vier Frauen kennen, vom Äußeren und vom Wesen her sehr unterschiedlich, aber alle Vier auf der Suche nach einem, nach dem Partner, der all ihre Sehnsüchte stillen kann. Auf Datingportalen sind ...

Wir lernen vier Frauen kennen, vom Äußeren und vom Wesen her sehr unterschiedlich, aber alle Vier auf der Suche nach einem, nach dem Partner, der all ihre Sehnsüchte stillen kann. Auf Datingportalen sind sie einem „Johannes dwsw“ näher gekommen und reisen, ohne voneinander zu wissen, für ein erstes Kennenlernen auf die Insel Norderney, nervös, gespannt, mit großen Erwartungen. Ein schwerer, orkanartiger Sturm zieht auf und eine Frauenleiche wird am Strand aufgefunden…

Dieses Buch ist wie ein großes, weiches Sofa, in das man sich hineinfallen lässt, eine kuschelige Decke überwirft und so voller Wärme den erzählten Menschen und Geschehnissen folgt. Ohne Hast, ohne Eile, gemächlich-gemütlich und wohlig. Das Buch fordert Zeit, genaues Hinschauen, genaues Hinhören, so genau, dass die Beschreibung, wie sich Sahne in der Teetasse wölkchenartig verteilt, eine innere Ruhe vermittelt, als sei man bereits mehrere Wochen zu Urlaub auf Norderney. Nicht jeder Leser mag einen Krimi in dieser Beschaulichkeit lesen wollen, aber wer sich gerne für das Lesen eines Buches Zeit nimmt, nicht nur Seiten konsumiert und Lust hat, die Protagonisten und Örtlichkeiten in ihrer jeweiligen Besonderheit genauer kennen zu lernen, wer Freude an sorgsamer bildhafter Erzählweise hat, verbunden mit einer im Hintergrund immer lauernden Bedrohung und der daraus resultierenden immanenten Spannung, für den ist das vorliegende Buch ein Genuss. Mir gefällt die aufmerksam-subtile, detailfreudige Erzählweise der Autorin sehr!

Veröffentlicht am 30.11.2017

Bewundernswerter Ideenreichtum

Instabil - Die Vergangenheit ist noch nicht geschehen
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Mit einem lauten Rumms wird man in ein Geschehen katapultiert, das seinesgleichen sucht.
Patrick Richter wird von einem Sonderkommando festgenommen und soll innerhalb weniger Stunden wegen Verbindung zu ...

Mit einem lauten Rumms wird man in ein Geschehen katapultiert, das seinesgleichen sucht.
Patrick Richter wird von einem Sonderkommando festgenommen und soll innerhalb weniger Stunden wegen Verbindung zu einer terroristischen Vereinigung den Amerikanern überstellt und nach Guantanamo ausgeflogen werden. Doch dazu kommt es nicht, denn Patrick verschwindet auf völlig unerklärliche Weise…
Mehr sei nicht verraten, denn der Leser wird durch das weitere Geschehen restlos durcheinandergeschüttelt und einer Art von Verwirrung unterworfen, die ihresgleichen sucht.

Die beiden Autoren haben sichtlich Spaß daran, uns Leser schwindelig zu schreiben, und sie verstehen es meisterhaft, eine nicht abreißende Spannung aufzubauen und bis zum Ende (und über das Ende hinaus) durchzuhalten, so dass man das Buch nicht mehr weglegen mag. Die Protagonisten werden derart intensiv geschildert, dass man sich ihnen nahe fühlt, im Guten wie im Schlechten, und deshalb die Geschehnisse fast körperlich mitempfindet.

Es mag ja nicht die gesamte Handlung an jeder Stelle logisch sein und Menschen, die minutiös und detailverliebt alles hinterfragen, haben vermutlich den einen oder anderen Kritikpunkt zu entdecken – ich jedenfalls habe mich vom Buch von Anfang bis Ende absolut spannend unterhalten gefühlt. Der außergewöhnliche Plot mit seinen vielen überraschenden Wendungen hat mich völlig in seinen Bann gezogen. Das Buch war an etlichen Stellen witzig, oft regelrecht komisch, mitunter auch kritisch gegenüber Beamtentum und Pressewesen, versehen mit lebendigen Dialogen und mit einer Handlung, die Irreales so real darstellt, dass man als Leser fast geneigt ist, den Autoren alles zu glauben, was sie uns in größter Fabulierlust anbieten.