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Veröffentlicht am 07.03.2023

ein gedankenreicher Roman über das erdrückende Erbe, Erwartungen, Macht, Schatten und und und

Männer sterben bei uns nicht
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"Wir Frauen der Familie wohnten in einem Anwesen am See, das vor Pracht, Verheißung und Verhängnis vibrierte wie sonst nur große, destruktive Lieben. Allein in meiner Kindheit wurden zwei Frauen angeschwemmt, ...

"Wir Frauen der Familie wohnten in einem Anwesen am See, das vor Pracht, Verheißung und Verhängnis vibrierte wie sonst nur große, destruktive Lieben. Allein in meiner Kindheit wurden zwei Frauen angeschwemmt, die sich aus Liebeskummer ertränkt hatten. Dass es ein unglücklicher Zufall war, erfuhr ich erst viel später, änderte aber nichts an der Tatsache, dass das Anwesen diese Anziehungskraft besaß, die für Frauen selten glücklich endete. Männer starben bei uns nie, Männer kamen und gingen."

Dies sind die ersten Worte und Gedanken in Annika Reichs Roman "Männer sterben bei uns nicht" und gleich war ich mehr als begeistert von diesem Buch - sprachlich, inhaltlich und gedanklich weiterschweifend. Schon allein in diesen wenigen Worten sind mehre, riesige Bilder enthalten, die diesen Roman prägen. Das Anwesen, ein Hof mit einem Herrenhaus und vier kleineren Häusern in der Nähe eines Sees. Hier leben die Frauen einer Familie; das männliche Geschlecht hat es nie lange ausgehalten, nur seine gewaltigen Schatten hinterlassen, die das Verhalten der Frauen, den Umgang mit den Gesellschaftsnormen und die Familie bis ins kleinste Detail prägten, wenn nicht sogar ein Korsett schnürten, das Generationen überdauert, strikt weitergegeben und immer enger wurde. Erst mit dem Tod der Großmutter, dem stets forderndem Oberhaupt, bricht dieses Schema auf und doch stehen wieder nur die Bewertungen der anderen und das Erbe im Raum, das erneut Schatten, Anforderungen, sowie Erwartungen auf zukünftige Generationen und in diesem Fall auf Luise wirft.
In diesem Roman erzählt sie von der Beerdigung ihrer Großmutter und durchkramt in zahlreichen Rückblenden ihre Erinnerungen an einzelne Gespräche, Erlebnisse und das Leben auf dem Anwesen. Als Leserin lernt man so die einzelnen Frauen der Familie, ihre Gedanken und (Lebens-)Erwartungen, sowie Zweifel und Trauer in all ihren Facetten und verschiedenen persönlichen Ausprägungen kennen, befasst sich fast sich schon automatisch mit dem, was es bedeutet die zugewiesene Rolle und damit einhergehende Erwartungen zu (er-)füllen, sich dem Druck der Macht und dem vorherrschenden Gesellschaftsnormen zu beugen oder eben übergangen zu werden und doch stets auf der Suche nach Antworten zu sein.

"Großmutter denkt, dass sie nur leben kann, wenn sie's wie die Männer macht. Sie denkt, Macht wäre immer nur die Macht der Männer und dass sie sie nur behalten kann, wenn sie herrscht wie sie. Dass sich Macht auch teilen lässt, daran glaubt sie nicht. Sie denkt übrigens, dass du die Einzige von uns bist, die klug genug ist, sich nicht von vornherein auf die Seite der Opfer zu schlagen. [...] Sie dachte immer, du wärst die Einzige, die so ein Leben zu schätzen weiß."

Ach, ich habe dieses Buch geliebt, habe mir unzählige Gedanken über Erwartungen und das Erbe bzw. die Weitergabe von Familien'anforderungen' gemacht und bewundert wie Annika Reich sich diesem sehr komplexen und heiklen Thema nähert. Dabei liefert sie nicht unbedingt viele Antworten, aber das Bedarf es vielleicht auch gar nicht, da jede
r Leser*in eine eigene Geschichte mitbringt und vielleicht ähnliche Situationen und Gedanken nachempfinden kann. Mit knapp 200 Seiten ist es ein recht dünnes, aber dafür, wie ihr vielleicht schon gemerkt habt, sehr schweres Buch, das Zeit und Raum benötigt; nicht einfach so hinuntergeschlungen werden kann. Das Leben der Frauen dieser Familie, die Veränderungen, die mit dem Tod des Oberhaupts eintreten, die vorherrschende gesellschaftliche Norm und Vererbung... man kann sich in allen Ausprägungen der einzelnen Protagonistinnen, die alle so unterschiedlich und doch nahbar sind, wiederfinden.
Die weitervererbte Last der Erwartungen, zugewiesene Rollen und Machtkämpfe - das sind Themen, die auch mich immer wieder beschäftigen und mit denen ich bei fast jedem Besuch in der Heimat erneut konfrontiert sehe. Vielleicht ist es gerade auch deshalb ein Buch, das mich gerade in diesen Punkten sehr bewegt hat. Und es ist halt nicht nur eine Geschichte, es ist die Geschichte einer jeden nachfolgenden Generation, die sich immer wieder mit dem Umgang der alten, vorherrschenden Strukturen befassen, sich neu finden und neue Rollen erkämpfen muss. Oder sich für dem Familienfrieden fügt und in eine Rolle gepresst wird, die nicht unbedingt ins eigene Weltbild passt und sich dennoch in ihr beweisen und weiterkämpfen muss. Ich könnte nun noch über weitere Gedanken, die angeschwemmten Frauen, die einzelnen Familienmitglieder, die Bedeutungen des Anwesen mit dem Herrenhaus und dem heruntergekommenen Haus mit samt den gesammelten 'Andenken' des männlichen Geschlechts und und und sprechen. In diesem Roman gibt es so viel zu entdecken und erstaunlicher Weise ist es doch nur so ein komprimierter Roman. Ich hätte Luise und ihre Familie, die Auseinandersetzungen mit ihren Erinnerungen, dem Schicksal und dem Leben, die ganzen Gedankenwelten und zwischenmenschlichen Interaktionen wirklich gerne noch viel länger begleitet. Von mir eine große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 21.12.2022

"Verbrenn all meine Briefe" - eine ergreifende, wahre Liebesgeschichte, die beinahe eine ganze Familie spaltet und deren Wut Generationen überdauert

Verbrenn all meine Briefe
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Ich bin ja kein großer Fan von Liebesromanen und hätte ich nur den Titel "Verbrenn all meine Briefe" gelesen, wäre dieser Roman wahrscheinlich auch an mir vorbei gegangen, aber Alex Schulman verbinde ich ...

Ich bin ja kein großer Fan von Liebesromanen und hätte ich nur den Titel "Verbrenn all meine Briefe" gelesen, wäre dieser Roman wahrscheinlich auch an mir vorbei gegangen, aber Alex Schulman verbinde ich seit "Die Überlebenden" mit einer sehr starken, intensiven Geschichte und einer ganz besonderen Art des Erzählens, sodass ich diesem Buch zumindest eine Chance geben wollte. Ein Glück, denn was sich mir bot war kein einfacher, schnulziger Liebesroman, sondern die sehr aufwühlende und mitreißende Geschichte einer Frau, die ihr Leben nach ihrem narzisstischen und egomanischen Mann ausrichtete, sich neu verliebte, sich befreien wollte und doch gefangen blieb.

Ausgangspunkt dieses Romans ist allerdings ein ganz anderer. Eines Tages spürte Schulman ein gewisses, stetes Unbehagen, wenn seine Tochter etwas anstellte oder der Meinung war, ihrem Vater etwas nicht recht zu machen. Sie entschuldigte sich häufig, schreckte zurück oder hatte gar Angst vor ihm. Und auch seine Frau wies ihn hin und wieder auf seine wütenden Ausfälle hin, sie litt mehr oder weniger unter seinem Verhalten. Doch woher kommt diese Wut und Aggression, die seine Familie schon sein Generationen nicht mehr loslässt? Schulman begibt sich in Therapie und setzt sich mit seiner Familiengeschichte auseinander. Auffällig ist vor allem, dass väterlicherseits stets alles sehr harmonisch und ausgeglichen wirkt, aber die Beziehungen mütterlicherseits eher wie ein großes Schlachtfeld aus Trennungen, Streitigkeiten und Auseinandersetzungen, gar Hass daherkommen. Umso mehr er sich nun damit beschäftigt umso eher glaubt Schulman, dass sein Großvater, der bekannte Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und -kritiker, Übersetzer, Journalist... einer der gebildetsten Schweden Sven Stolpe Ausgangspunkt für alles ist.

">Papas auffälligster Charakterzug war die Wut<, sagte Mama. >Er wollte leben und erscheinen wie ein guter Christ. Aber in Wahrheit war es kein Glaube und keine Ideologie, die ihn antrieb, sondern Wut.<
Aus unterschiedliche Weise zerstörte Stolpe das Leben seiner Kinder. Und das Gift wirkte über Generationen fort. Wir lernten alle, einander und die Welt zu hassen."

Bei seiner Recherche - und da gibt es tatsächlich viel, denn von Sven Stolpe existieren sehr viele Romane, zwischen 1929 und 1959 erschienen ganze fünfzehn Stück, auch Briefe und andere Schriftstücke wurden eingelagert und aufbewahrt - kehrt Schulman immer wieder auf den Sommer 1932 zurück. Stolpe schreibt in seinen Memoiren über einen Sommer, in dem er "den Glauben an die Menschheit verlor", auch seine plötzlich schicksalsschweren, sentimentalen Texte umschwirren immer eine ähnliche Situation und später heißt es "Im Sommer 1932 wurde ich Opfer eines sexuellen Attentats.". Das ist es also, ein Trauma, das sich seitdem seine Wege bahnt und anscheinend mehr mit seiner Großmutter Karin zutun hat, als ihm lieb ist. Doch was ist, wenn das Opfer, eigentlich der Täter der ganzen Misere ist? Denn Stolpe war es scheinbar, der seine Frau erpresste bei ihm zu bleiben und ihr damit drohte sich selbst, Katrin und ihre große Liebe, den ebenso bekannten Schriftsteller Olof Lagercrantz zu erschießen, sobald sie sich von ihm lossagt.

"Es scheint einen Punkt in Sven Stolpes Leben zu geben, an dem das Dunkle seinen Anfang nahm. Ein banaler Gedanke, kindisch sogar, aber mir gefällt die Idee, dass die dunkle Seite, die ich geerbt habe, von diesem Ereignis herrührt, das vor langer Zeit im Leben meines Großvaters stattgefunden hat."

Und damit, mit dieser Faszination, beginnt eine sehr erdrückende und faszinierende Reise durch die Zeit. Schulman schafft es mit einer Kombination aus Tagebucheinträgen, Briefen, Rückblenden und eigenen Gedanken ein sehr persönliche und aufwühlende, sowie auf wahren Gegebenheiten beruhende Geschichte zu erzählen, die einen als Leser*in komplett in den Bann zieht. Teilweise war es für mich spannender als jeder Krimi, sodass ich das Buch kaum noch aus der Hand legen konnte. Ohne nun zu viel vorweg zu nehmen, ist es ein Roman, bei dem man schnell weiß, dass nichts auf ein Happy End hinausläuft und dennoch gibt es einige überraschende Wendungen, bei denen man immer noch hofft, dass alles ein gutes Ende nehmen wird. Ich habe dieses Buch auf so vielen Ebenen geliebt, bin durch die Zeilen und Zeiten gerast und stelle nun erneut fest, dass Schulman einfach ein großartiger Erzähler von menschlichen Abgründen, Traumata und deren Auswirkungen ist. Und das in einer Form, die nie niederschmetternd, aber sehr mitreißend und aufwühlend ist. Auch die Auseinandersetzung mit der Wut, seiner eigenen Geschichte und die Recherchearbeit, fand ich in diesem Fall wahnsinnig spannend. Für mich ein ganz besonderer Roman und ich freue mich schon jetzt darauf, dass diese erschütternde Geschichte bereits den Weg in die schwedischen Kinos geschafft hat und hoffe nun natürlich auch da auf eine eine deutsche Version.

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Veröffentlicht am 15.06.2022

Kein Sommer ohne den passenden Roman... "Man vergisst nicht, wie man schwimmt" oder etwa doch?

Man vergisst nicht, wie man schwimmt
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Krüger wollte, dass die Zeit verging, was sollte er in seinem Heimatkaff in dieser brütenden Hitze auch anderes machen, als daheim auf kühlere Zeiten zu warten oder mit seinem besten Freund Vik das neu ...

Krüger wollte, dass die Zeit verging, was sollte er in seinem Heimatkaff in dieser brütenden Hitze auch anderes machen, als daheim auf kühlere Zeiten zu warten oder mit seinem besten Freund Vik das neu herausgekommene "Tony Hawk Pro Skater" auf der Playstation zu zocken? Sommer, für viele Spaß und die Gelegenheit im Schwimmbad die Mädels zu beeindrucken, aber nicht für ihn, denn seitdem er nicht mehr schwimmen kann, hasst Pascal Friedrich, wie er wirklich heißt, die Hitze. Doch der 31. August 1999 war trotzdem anders, vielleicht war es sogar der Tag, der ihn aus dieser Erstarrung herausgerissen hat...

"Jeder von uns hat diese Menschen, an die man ab und an denkt und bei denen wir uns fragen, wie ihre Geschichte weiterging. Der witzigste Junge der Welt, der mit uns vielleicht nur ein halbes Jahr in der Klasse war und dann wegzog. Eine ältere Dame, neben der man eine Zugfahrt lang saß. Ein Punk, mit dem man ein Gespräch auf einer Parkbank führte. Die Sängerin [...] Ein Urlaubsflirt. Was macht sie, was macht er heute?
Bei mir ist dieser Mensch das Zirkusmädchen mit den feuerroten Haaren, den wasserblauen Augen und keiner Angst vor nichts."

Jacky lernt er auf sehr ungewöhnliche Weise kennen. Zuerst beobachtet er sie, wie sie in der Glatzen-Filiale ein Nokia 3210 in ihrer Tasche verschwinden lässt und dann klaut sie ihm auf der Flucht vor dem Filialleiter auch noch seinen Rucksack. Er folgt ihr zunächst unglaublich wütend, doch dann ist er nur noch wahnsinnig fasziniert von diesem geheimnisvollen Mädchen mit den roten Haaren, das einfach keine Angst zu haben scheint. Mit seinem Freund Viktor lernt er das Zirkusmädchen Jacky nach und nach kennen und sie erleben in diesem sehr überschaubaren Ort Bodenstein innerhalb eines Tages ein Abenteuer, das Pascal nie wieder vergessen kann. Es ist einfach ein Tag... nein, was sag ich... ein ganzer Sommer, wie ihn der 15-Jährige schon lange nicht mehr hatte und gleichzeitig ist es ein Tag, an dem er sich so einigen Fragen, sich selbst und seiner Vergangenheit stellen muss. Warum schwimmt er nicht mehr? Warum nennt man ihn Krüger? Und warum darf er sich nicht verlieben? Was ist mit Pascal passiert? Jacky findet irgendwie den Draht zu ihm, holt ihn heraus aus seiner Lethargie und auch, wenn dieser Tag nicht endlos ist, noch so viele vor ihnen liegen, muss Pascal ihr wenigstens eins versprechen, von nun an keinen einzigen Tag mehr zu verschenken.

"Nie werde ich diesen Moment vergessen. Dieses Aufeinanderprallen, das meine Welt aus der Umlaufbahn schmiss. Es hatte lediglich den Bruchteil einer Sekunde gebraucht. Hätte ich eine Armlänge versetzt gestanden, wäre dies ein Tag wie jeder andere geworden.
Doch: Sie war mit Wucht in mich hineingekracht."


Dieser Roman hat mich sehr begeistert und mich mal herausgeholt aus dieser komischen Welt voller Sorgen, Ängste und Probleme. Schon alleine der Gedanke an die Geschichte versetzt mich zurück in meine Kindheit/in die 90er, lässt mich mit Krüger, Jacky und Viktor mitfiebern, Spaß haben und ein wohliges, freudiges Gefühl breitet sich in mir aus. Auch die mitgelieferte Playlist von "Californication" über "A-N-N-A" bis hin zu "My Name is" tut da ihr übriges und lässt neben der passenden Stimmung für dieses Buch eigene Erinnerungen aufblitzen. Kaum zu glauben, dass Christian Hubers Roman fast nur von einem Tag spielt und er dabei so eine tolle, intensive Geschichte erzählt, die zeitgleich noch so viele Themen abdeckt, denn von Bekanntschaft schließen, wilden Partys, Verliebtheit, ein wenig Action, einem Geheimnis, dem großen Verlust, Schmerz, Freude, der Freiheit - endlich über den eigenen Schatten zu springen, Freundschaft und natürlich sehr viel Sonnenschein und Wärme ist alles dabei. Ein bisschen amerikanisch, draufgängerisch und wild, aber zur Unterhaltung ist das eine echt gute Mischung. Und so saugt man diesen unvergesslichen, flirrenden Tag in Krügers Leben und seine Erinnerung nur so auf und möchte weder dass der Tag noch das Buch endet und man dieses kleine Heimatkaff, den Zirkusplatz, die Bucht, den angrenzenden Wald wieder verlassen muss. Für mich ist dieses Buch so viel besser und logischer als Ewald Arenz' "Der große Sommer" und ich kann dann auch nur eine große Empfehlung aussprechen - für mich ist es das Sommerbuch dieses Jahres, auch wenn es laut Roman um den letzten Tag des Sommers geht, den 31. August 1999.

"Was mir von diesem Tag und dieser Nacht [...] geblieben ist, passt in eine Metallbox. Darin sind auch mein Sturmfeuerzeug und Jackys Klappmesser [...] Das Messer würde mir Jacky schenken, hatte Vik gesagt. Sie brauche es nicht mehr. Ebenso wie das Nokia 3210. Und das Foto von uns dreien. Das Polaroid-Bild von Jacke, Viktor und mir aus dem Colorado, auf dessen Rückseite Jacky eine mit Kugelschreiber geschriebene Nachricht für mich hinterlassen hatte..."

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Veröffentlicht am 14.05.2022

ein kulinarischer Genuss mit überraschenden Noten in Richtung Traditionen, Freundschaft, Feminismus und Befreiung

Butter
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Dass japanische Romane bzw. Bücher aus dem asiatischen Raum immer etwas spezieller, zumindest für unsere Breiten recht ungewöhnlich und wild sind, ist glaube ich, kein Geheimnis. Daher bin ich normalerweise ...

Dass japanische Romane bzw. Bücher aus dem asiatischen Raum immer etwas spezieller, zumindest für unsere Breiten recht ungewöhnlich und wild sind, ist glaube ich, kein Geheimnis. Daher bin ich normalerweise immer etwas vorsichtiger, wenn ein hochgelobter Roman aus dieser Region ins Deutsche übersetzt wurde... Aber wer kann bei Genuss in Kombination mit einer Serienmörderin, Gesellschaftskritik, Freundschaft, einer Auseinandersetzung mit Traditionen, Befreiung und und und schon nein sagen? Genau, ich nicht. So ist dann Asako Yuzuki mit ihrem Roman "Butter" in der Übersetzung von Ursula Gräfe in meinem Regal gelandet und ich muss ganz ehrlich sagen, es hat sich innerhalb kürzester Zeit zu einem meiner liebsten Japan-Romane entwickelt.

Alles beruht auf der Geschichte einer Frau, die Männer, die sie über Datingwebsites und Heiratsbörsen kennenlernte, mit aufwändigen Gerichten verführte, ihnen Geld abluchste und sie dann sterben ließ. Es könnten allerdings auch Selbstmorde gewesen sein; allerdings sehr Auffällige. Nun sitzt die mehrfache Mörderin, der neben Betrug in fünf Fällen eigentlich nur zur Last gelegt wurde, dass sie sich in unmittelbarer Nähe zu den Opfern befand, lebenslang im Gefängnis. Dieser Fall, die Person Manako Kajii, ihr Vorgehen und vielleicht auch ihre Lebenseinstellung zog sehr viel Aufmerksamkeit und Aufregung auf sich. Doch was ist wirklich geschehen und wieso legt sie dabei so viel Wert aufs Essen?

"Mir macht es Spaß, Männern Freude zu bereiten, es ist keine Mühe für mich, wie Sie das sehen. Sich um Männer zu kümmern, sie zu unterstützen und zu wärmen ist meine gottgegebene Aufgabe als Frau, und ich fühle mich verpflichtet, ihr nachzukommen. In Ausübung dieser Pflicht wird jede Frau schön, eine Göttin. Verstehen Sie das nicht?"

Auf den ersten Blick wirkt diese rundliche Frau, wie aus einer anderen Welt, in der Margarine und Feminismus Fremdworte sind, und doch zieht ihr Auftreten viele in den Bann. Auch die junge Journalistin Rika möchte die Serienmörderin kennenlernen und ihrem Geheimnis für einen Artikel auf die Spur kommen. Doch dies scheint einfacher gedacht als getan. Erst als ihre Freundin Reiko ihr den Tipp gibt Kajii über ihre Rezepte näherzukommen, möchte diese sie im Gefängnis treffen. Und schwups ist es tatsächlich um Rika geschehen. Mit Aussagen wie "In der Gegend gibt es ein tolles Teppanyaki-Restaurant. Natürlich ist das abgehangene Miyazaki Steak fantastisch, aber für den Reis mit Knoblauchbutter [...] könnte ich sterben. Den müssen Sie probieren und mit Ihren Eindruck schildern. Von Ihnen zu hören ist das Einzige, worauf ich mich momentan freuen kann." lotst sie Rika durch die Welt voller Genüsse, traditioneller Gerichte und zeigt ihr, dass es da draußen mehr gibt, als die Welt, die sie kennt. Butter bildet neben Kajii so ein anziehendes Hauptelement, dass sich kunstvoll durch den Roman zieht, immer wieder auftaucht und eine Verbindung zwischen diesen geschilderten Lebenswelten darstellt. Generell prallt hier sehr viel aufeinander, Rika und Reiko verrennen sich, finden sich wieder, steuern bewusst dem Abgrund entgegen um dem Geheimnis Kajiis auf die Spur zu kommen, doch was dann folgt ist alles andere, als man anfänglich erwartet...

"Ich war genau wie Kajiis Opfer. So hat sie es immer gemacht, sie ist auf den Leuten rumgetrampelt und hat gewonnen. Und es geht weiter. Es gibt mehr und mehr Menschen wie sie. Leute wie ich verkümmern, vielleicht sterben wir auch aus."

Thematisch ist es ein großartiges Buch, dass wirklich alles von Traditionen, Feminismus, patriarchalen Rollen- und Geschlechterzuschreibungen, Aufbruch, Freundschaft, Gesellschaftskritik, etwas Spannung und eine Auseinandersetzung mit dem Spruch "alles eine Frage der Perspektive" bereithält. Kajii steht für mich für die alten Traditionen, die frisch entdeckt sehr toll, anziehend und aufregend sein können, aber rückblickend betrachtet auch sehr starr, aufdrängend und festgefahren. Manchmal führt dies dann sogar so weit, dass Menschen unglücklich werden oder wie in diesem Fall sterben. Und so ergeht es dann auch Rika im Verlauf des Romans. Nach anfänglicher Begeisterung fürs Essen und insbesondere für Butter, sowie Kajiis Anziehung, zahlreichen Gesprächen, die nicht unbedingt so laufen, wie sie sich das wünscht, findet sie irgendwann ihren eigenen Weg und muss sich mit dem gesellschaftlichen Druck auseinandersetzen. So geht es zeitweise z.B. um die Optik, dass sehr dünn als das Schönheitsideal Japans gilt und Normalgewichtig/'der gesunden Norm entsprechend' als liederlich und verkommend. Auch, dass es scheinbar fast nur Margarine zu kaufen gibt und kaum jemand Butter und andere Milchprodukte zu schätzen weiß oder sich Zeit für aufwändige, traditionelle Gerichte nimmt, gibt so einen gewissen Blick auf diese sehr schnelllebige, nicht ganz gesunde Gesellschaft. Oder dann gibt es noch ganze Abschnitte über das Beziehungsgefüge, während ihre Freundin unbedingt ein Kind will und dafür alles zurückstellt, gibt Rika alles um mit der berühmten Serienmörderin ein exklusives Interview führen zu können. Ihre Partner finden sich nicht wirklich in ihren Lebensvorstellungen wieder, sie beschreiten verschiedene Wege und das klassische Familienbild wird durch eine große, befreundete Gruppe ersetzt. Und das scheint in diesem Roman schon etwas ganz besonderes für das traditionelle Japan zu sein. Auch in den Morden, den Beziehungen, die verschiedenen Typen von Männern, Kajiis Sinneswandel und Co kann man noch wahnsinnig viel reininterpretieren, Anmerkungen finden oder so wie ich, ständig begeistert sein. Und ich warne schon vor, trotz einiger kleinerer Längen, macht dieser Roman unglaublich Appetit. Reis mit Butter und Sojasoße hat es mir zum Beispiel sehr angetan und immer wenn ich an dieses Buch denke, denke ich automatisch an dieses simple Rezept. Und so ist es dann insgesamt eine etwas skurrile Geschichte, die die verschiedensten Sinne anregt, zum Nachdenken einlädt, sehr viel Spaß macht und über das eigene Leben nachdenken lässt. Mehr möchte ich dann auch noch nicht vorweg nehmen, ich finde diesen Roman jedenfalls sehr besonders und für mich ist es schon jetzt ein Highlight des Jahres.

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Veröffentlicht am 08.03.2022

ein beeindruckendes Schauspiel aus Flammen, Kunst und dem erdrückenden Selbst

Die Feuer
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Während in Australien die Temperaturen unaufhörlich steigen und die Buschbrände in den Bergen immer weiter vorrücken, scheint im Theater in Melbourne noch kühle Normalität zu herrschen. Zahlreich sind ...

Während in Australien die Temperaturen unaufhörlich steigen und die Buschbrände in den Bergen immer weiter vorrücken, scheint im Theater in Melbourne noch kühle Normalität zu herrschen. Zahlreich sind die Menschen gekommen um die Aufführung von Samuel Becketts Stück "Glückliche Tage" anzuschauen. Winnie, "[d]ie Frau ist in einer grellen, eindeutig brutalen und schroffen Landschaft gefangen, doch ihre einzige Angst ist es, ihr Mann könnte sie nicht sehen." - Sie sehen, wie sie langsam von einem stetig wachsenden Erdhügel verschluckt wird und Tag ein, Tag aus ihre Habseligkeiten in einem Beutel ordnet, während Willie seit einiger Zeit wieder im Freien ist und sich scheinbar nicht einen Hauch an ihrer misslichen Lage stört. Doch Winnie sorgt sich, nicht mal um sich selbst, sondern um ihn und häuft immer weitere Sorgen an.
Wahrscheinlich könnte man sich mit dieser Szene nun ewig auseinandersetzen, dabei ist es nicht mal die 'Hauptfigur' in Claire Thomas Roman "Die Feuer", es ist mehr das Skelett , das den Geschichten und Gedanken dreier Frauen Halt gibt und sie miteinander vereint. Margot, die Literaturprofessorin, hadert schon lange mit ihrer Ehe mit dem dementen John, der immer wieder wild um sich schlägt. Ivy, erlebt immer wieder ihr Trauma vom plötzlichen Kindstod ihres Erstgeborenen. Und die zweiundzwanzigjährige Summer, die Schauspielschülerin und Platzanweiserin im Theater, kämpft mit ihrer Angststörung und den Gedanken über ihre Herkunft, die Umwelt und ihre Freundin, die sich den aufbausenden Feuer entgegenstellt. Sie alle scheinen, so wie Winnie, irgendwie festzustecken in ihren Sorgen und Gedanken, Ängsten und in ihren zugeteilten Rollen innerhalb ihrer Beziehungen und der Gesellschaft. Doch die Pause des Stücks, in der die drei Frauen aufeinander treffen und das anknüpfende, unausweichliche Schicksal Winnies im zweiten Akt setzen so einiges in Bewegung.

"Auf der Bühne versucht Winnie jetzt, die Grenzen ihrer Realität zu erfassen. Was sie von der Außenwelt wahrnimmt und was von ihrem Innenleben.
Ich höre natürlich Schreie. Aber sie sind wohl in meinem Kopf."

Um so mehr ich über diesen Roman, die einzelnen Geschichten der Frauen, die gesellschaftlich vorgegebene Rolle der Frau und das stetig voranschreitende und sich immer wieder ins Gedächtnis rufende Theaterstück nachdenke, umso begeisterter bin ich von diesem Buch. Claire Thomas schafft es in der Übersetzung von Eva Bonné mühelos die Grenzen zwischen Schauspielkunst, gesellschaftlichen Herausforderungen der heutigen Zeit und den intimsten Gedanken, zugleich die tief verankerten Ängste und Sorgen ihrer Protagonistinnen aufzuhebeln. Und das literarisch so fein, kreativ und welteneröffenend...wow. Ich mag die Darstellung der Beziehungen und Begegnungen auf vielerlei Ebenen, sowie deren Einfluss auf jeden selbst wahnsinnig gern. Der nach außen hin aufrecht erhaltene Schein, die Rollen in die jeder im Laufe seinesihres Lebens geschlüpft ist, die bröckelnde Fassade und das ständige eigene Hinterfragen. Ich mag die sich ergänzenden Einblicke in diese ganz verschiedenen Leben und Gedankenwelten. Das Spiel zwischen Frau und Mann - auf der Bühne und ganz privat. Und ich mag das sich schnell manifestierende Gefühl mit den Protagonistinnen zusammen im Publikum zu sitzen, von den Menschen drum rum genervt zu sein, sich ständig unangenehm beobachtet zu fühlen und zeitgleich andere zu beobachten, und diesem absurden Stück zu folgen, Elemente wahrzunehmen, abzudriften, wieder aufzuwachen und präsent zu sein.

"Winnies Hügel wird sich nicht bewegen, selbst wenn das richtige Gerät im richtigen Winkel mit dem richtigen Druck und für die richtige Dauer angesetzt würde. Niemand wird sie retten oder freilegen. Sie steckt in der Erde fest, und je früher wir alle das einsehen, desto besser. Genau."

Aufgeteilt ist dieser Roman grob in drei Teile - zwei Akte mit je wechselnden Ausschnitten aus der Gedanken und Szenenbeschreibungen der drei Frauen und einer Pause, die einem Textbuch eines Theaterstücks gleicht und dem Ganzen nicht nur eine Auflockerung, sondern auch eine neue Wendung gibt.
Alles in allem kann ich sagen, dieses Buch hat was mit mir gemacht. Die Geschichte hat mich emotional zwar nicht überrollt, aber schon nach wenigen Seiten war ich so gebannt, so fasziniert und begeistert, dass ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen wollte. Und auch noch im Nachhinein hänge ich ihm hinterher, denke über sehr viele Gegebenheiten nach, über die Menschheit, das Offensichtliche und doch Unsichtbare und irgendwie frage ich mich die ganze Zeit, wie hätte diese Geschichte wohl aus der Perspektive ihrer Partner*innen gewirkt? Was würden sie machen? Wie sich erklären? Würden sie das Leid und die Sorgen ihrer Geliebten wirklich nicht wahrnehmen? Und wie sähe ihr Weltbild aus? Wobei... will man das dann wirklich wissen?
Für mich ist "Die Feuer" jedenfalls ein großes Highlight, an das ich sicherlich noch sehr lange denken werde und für dessen Tiefe und Offenheit ich sehr dankbar bin.

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