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Veröffentlicht am 27.09.2019

Historie in Märchenform

Wolgakinder
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Dass im osteuropäischen, russischen Raum Märchen eine sehr große Rolle spielen, muss man, glaube ich, an dieser Stelle zunächst noch einmal betonen. Ich selbst bin ja so ein kleiner Fan dieses recht eigenen ...

Dass im osteuropäischen, russischen Raum Märchen eine sehr große Rolle spielen, muss man, glaube ich, an dieser Stelle zunächst noch einmal betonen. Ich selbst bin ja so ein kleiner Fan dieses recht eigenen Gattung und daher habe ich mich auf "Wolgakinder" von Gusel Jachina doch so ein bisschen mehr gefreut.

"Konnte eine Welt, die so greifbar und voller Gerüche, so gegenständlich wie immer war, für eine bestimmte Zeit ihre Festigkeit verlieren und zu einem bodenlosen Sumpf werden? Oder hatte er sich das alles nur eingebildet? [...] "Ist das wirklich wahr? [...] Soll alles, was mir heute passiert ist, in Wahrheit geschehen sein?"

In ihrem zweiten Roman entführt uns Jachina nach Gnadental, einem deutschen Ort an der russischen Wolga. Es ist 1916, also noch Zarenzeit, als Jakob Bach in dem kleinen Dorf ein recht einfaches, unbekümmertes Leben als Schulmeister führt. Doch dies sollte sich mit einer einzigen Einladung auf das abgeschottete Grimmsche Anwesen auf der anderen Flussseite schlagartig ändern. Hier soll er die Bauerntochter Klara unterrichten. Doch aus anfänglicher Zurückhaltung und Skepsis entwickelt sich schnell die große Liebe. Als Klara dann zu ihm ins Dorf flüchtet, ernten die beiden nur Spott und Abneigung. Die große Welt, möchte sie nicht, sodass sie gezwungen sind die Wolga erneut zu überqueren. Hier leben sie nun fern ab von allem und recht glücklich, doch das Unheil naht. Klara wird von Einbrechern vergewaltigt, wird schwanger und stirbt bei der Geburt. Für Bach ein Trauma mit weitreichenden Folgen. Er erzieht Annchen unter schwierigsten Bedingungen, kehrt nach und nach in die sich ständig verändernde Realität auf der anderen Wolgaseite zurück und erlebt die Geschichte auf eine ganz besondere Art...

"Diese schreckliche Zeit nannte er das Jahr der Hungernden. Er glaubte, etwas Schlimmeres könnte es nicht geben. Damit hatte er unrecht. Ein Jahr später kamen kaum noch erwachsende Wanderer, stattdessen zogen Kinder über das Eis der Wolga. Kleine Greisengesichter, finstere Tieraugen, vom Skorbut schwarze Zähne, Hinterköpfe wie Hundefellchen voller Krätze [...]. An einem Tag bestattete Bach drei von ihnen."

"Wolgakinder" ist ein klassischer, russischer Roman. Leicht traditionell und märchenhaft erzählt Gusel Jachina von den Wolgadeutschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vom Krieg gebeutelt und vom aufstrebenden Kommunismus unterdrückt - ein Dorf, am Rande der Wolga im Wandel der Zeit. Und zwischendrin befindet sich Bach, der den größten Teil der Geschichte abseits verbringt und immer mal wieder seinen Weg zurück in die Realität findet. So spielt dieser Roman auch in zwei verschiedenen Welten, die Jachina gekonnt miteinander verwebt. Teils poetisch, teils sehr intensiv menschlich, voller Angst und doch so voller Liebe... Sprachlich wie inhaltlich erzeugt sie ein faszinierendes und detailliertes Bild, welches jedoch ab und zu von Kapiteln über Lenin/Stalin durchbrochen wird. Wahrscheinlich wird dieses Buch nicht bei jedem Anklang finden, denn auf dieses ganz besondere Märchen muss man sich einlassen können und wollen. Der historisch unterfütterte Kern, bleibt in diesem Fall eher eine Randerscheinung und lässt sich daher nicht mit ihrem Vorgängerroman "Suleika öffnet die Augen" vergleichen. Für mich war dies nicht sonderlich schlimm, denn Märchen strahlen auch eine besondere Form der Hoffnung aus und gerade dieser Stil hat dieses Buch/diese Geschichte dann auch zu etwas ganz Eigenem gemacht. Auch der entwickelte Kalender des Jakob Iwanowitsch Bach, von 1918 mit dem Jahr der Verwüsteten Häuser, bis zu dem Jahr des großen Kampfes (1934) und des Ewigen Novembers (1935) fasziniert mich total und hat mich damit noch einmal aus historischer Sicht gepackt. Zumindest finde ich diese Idee der jährlichen Begegnungen, an der sich die Geschichte Bachs bzw. des Dorfes Gnadental entlang hangelt sehr interessant. Es ist die Zeit des Umbruchs, des Leids, der Veränderung und genau das kommt den Erzählungen des ehemaligen Schulmeisters enorm zu Gute. Doch dann gibt es da eben auch noch die Abschnitte von Lenin und Stalin, die zwar noch einmal eine neue Perspektive bieten, aber irgendwie total unnötig sind und den Lesefluss unterbrechen. Die Geschichte um Bach, Klara und Annchen finde ich toll, aber für eine Euphorie reicht es hier dann leider nicht.
Am Ende bleiben einige Dinge ungewiss, die Gesamtaussage irgendwie kaum greifbar und man fragt sich, ob es nun an der Übersetzung liegt, eine Kürzung stattgefunden hat oder es im russischen Original von Gusel Jachina tatsächlich so angedacht war. Es ist nicht ganz rund, aber irgendwie trotzdem schön.

Veröffentlicht am 27.09.2019

Vegetarisch. Nordisch. Grün.

Immergrün: Die nordische Gemüseküche
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Die Natur ist nicht nur Zufluchtsort und Heimat der Menschheit, sie ist auch die Grundlage allen Lebens. Wer nun denkt, wo Wasser ist, da ist auch Leben, der täuscht sich. Denn nicht automatisch enthält ...

Die Natur ist nicht nur Zufluchtsort und Heimat der Menschheit, sie ist auch die Grundlage allen Lebens. Wer nun denkt, wo Wasser ist, da ist auch Leben, der täuscht sich. Denn nicht automatisch enthält die Verbindung aus Wasser- und Sauerstoff auch Keime, Bakterien, andere Stoffe, die eben das Leben sind und deren verschiedene Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sie sich vermehren, leben, existieren. Auch der Mensch würde mit Wasser einige Zeit überleben können, doch feste Nahrung ist eigentlich das entscheidendere. Daher ist es nun mal auch wichtig, dass wir mit dem, was uns die Natur gibt arbeiten und sie dafür schützen und bewusst mit ihr umgehen. In diesem Bereich fallen hauptsächlich die nordischen Gegenden auf. Es scheint, dass sie im Einklang mit der Natur leben und alles so lange wie möglich erhalten wollen. Und gerade davon, könnten wir uns eine große Scheibe abschneiden. Wie ich nun darauf komme? Das liegt irgendwie an einem Kochbuch, auf das ich mich tatsächlich lange schon sehr gefreut habe. Immergrün - Die nordische Gemüseküche von dem bekannten dänischen Kultkoch Mikkel Karstad ist vor kurzem im Prestel Verlag erschienen und natürlich konnte ich es nicht erwarten einen Blick hineinzuwerfen.

"Immergrün - das sind Pflanzen, die ihre Blätter im Winter nicht verlieren und das ganze Jahr über grün bleiben. Im Englischen bezeichnet man sie als Evergreen - ein Wort, das wir auch im übertragenen Sinne für etwas verwenden, das die Jahre überdauert und nie aus der Mode kommt."

Immergrün ist ein rein vegetarisches Kochbuch, umgeben von einem ganz eigenen Lebensgefühl. Grün zieht sich dabei durch jede einzelne Seite, umringt von harmonisch, stimmigen Bildern und sehr viel Genuss. Jedes einzelne Gericht und Bild, zeugt vom bewussten Umgang mit der Natur und so finden z.B. auch Wildkräuter, Rapsblüten oder Buchenblätter ihren Platz in einem sehr reduzierten und dennoch faszinierenden Menü. Mikkel Karstad widmet sich den verschiedenen saisonalen Gemüsesorten - von Zucchini, Erbsen, Bohnen, Brokkoli, Möhren bis hin zu Rote Bete, Topinambur und Zwiebeln. So entstehen dann leckere, teilweise ungewöhnliche Gerichte, wie "Möhren-Schokoladen-Pfannkuchen mit Möhrenmarmelade, Haselnüssen und Minze" oder "Gebratener Brokkoli mit einem Dressing aus gesalzenen grünen Pflaumen, Dickmilch, Eisenkraut, Kapuzinerkresse und Leinsamen". Auch wenn es nun nach komplizierten Gerichten klingt, so komplex sind sie gar nicht und so ist dann auch für jeden was Schnelles, Einfaches bis hin zum Anspruchsvollen mit etwas mehr Zeitaufwand dabei. Und gerade dadurch macht Karstad Lust darauf, sich mehr mit der Natur und dem Gemüse auseinanderzusetzen, zu experimentieren und hauptsächlich auch Neues auszuprobieren.

Und es ist in diesem Fall auch kein einfaches Kochbuch mit Bild und Rezept, auf einer Seite dahingeramscht. Es ist ein Designbuch. Äußerlich durch das sehr reduzierte, klare, dunkelgrüne Design mit passendem Farbschnitt und Prägung ist es bereits ein Buch, das man gar nicht mehr aus der Hand legen möchte. Im Inneren warten dann neben den Rezepten auch Makroaufnahmen einzelner Gemüsearten, Landschaftsaufnahmen, Eindrücke mit viel Weißraum und Übersichtlichkeit. Gerade an diesem Punkt kann man sich etwas stören, denn im Endeffekt könnte man den Umfang dieses Buches auf gut die Hälfte reduzieren und gerade da fehlt dann das Umweltbewusstsein. Es ist toll, keine Frage, denn es ist bildlich, farblich wie inhaltlich alles sehr ansprechend und aufs Immergrüne 'abgestimmt'. Also nichts wie los, die nordische Küche und damit auch die Natur wartet entdeckt zu werden.

Veröffentlicht am 27.09.2019

Von Traurigkeit und Zuversicht zwischen Begegnungen.

Der traurige Gast
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"Willkommen in Berlin!" bzw. eigentlich leben die Protagonisten in Matthias Nawrats Roman "Der traurige Gast" alle schon eine Weile dort und sind trotzdem nie so wirklich angekommen. Aufgrund einer gefundenen ...

"Willkommen in Berlin!" bzw. eigentlich leben die Protagonisten in Matthias Nawrats Roman "Der traurige Gast" alle schon eine Weile dort und sind trotzdem nie so wirklich angekommen. Aufgrund einer gefundenen Visitenkarte meldet sich der Ich-Erzähler bei einer Architektin und möchte mit ihr seine Wohnung renovieren. Er selbst hat gerade erst geheiratet, hat noch keine Kinder und doch hat er in dem Moment den Wunsch nach Veränderung. Aber dazu kommt es scheinbar nie, denn ihre Treffen schweifen oftmals in die persönlichen Erzählungen der ehemals aus Polen stammenden Architektin ab. Und so hört er sich stets ihre Erlebnisse, Verluste, Geschichten an, bis dann keine Zeit mehr bleibt und sie ein erneutes Treffen vereinbaren müssen. Aber er spricht nicht nur von ihr, sondern auch von seiner Begegnung mit einem alten Mann in einem polnischen Lokal, von der Verkäuferin in dem polnischen Laden oder von den Gesprächen mit einem ehemaligen Kommilitonen von der Universität und von Dariusz, der Tankstelle und dessen Leben. Einem jedem schenkt er Raum und Aufmerksamkeit und stellt damit ein faszinierendes Bild verschiedenster Stadien einer immigrierten Gesellschaft her. Menschen, die alles aufgeben und verlassen, um anzukommen und es doch nie so wirklich schaffen.

Zugegeben, dieser Roman war für mich keine einfache Hürde. Nawrat schafft insgesamt eine eher bedrückte Atmosphäre, die dann Seite für Seite zunimmt und scheinbar auf ihn überspringt. Willkommen und Abschied. Aufbruch, Veränderung und Stagnation. Der traurige Gast ist in diesem Fall wahrscheinlich Nawrat selbst. Er, der wie der Mann ohne Namen ursprünglich auch aus dem polnischen Opole stammt und als Kind nach Deutschland/Berlin migrierte. So schildert er sehr eindrucksvoll einzelne Treffen mit alten 'Vertrauten' bzw. eigentlich lernt er seine Gesprächspartner erst kennen und dennoch herrscht zwischen ihnen bereits eine Verbindung. Ihre Vergangenheit schweißt sie zusammen und doch sind sie eher einsam. Sie teilen mit ihm ihre Geschichten und Eigenarten, ihren Verlust und Schmerz... Am Ende entsteht ein recht eigenartig düsteres, harmonisches, graues Bild, das den Leser mit nimmt, überrascht, aber auch deprimiert zurücklässt. Ich kann es wirklich nur ganz schwer in Worte fassen... es herrscht dieses beklemmende, bedrückende Gefühl in Verbindung mit Hoffnungslosigkeit und doch geht es irgendwie immer weiter oder endet teilweise so ganz plötzlich und abrupt. Und gerade das in Kombination mit dieser Nähe und Menschlichkeit... Puh, ich bin beeindruckt; also nicht mal wirklich so wahnsinnig von der Geschichte begeistert, denn das schafft anspruchsvolle Literatur eher selten, aber dafür so aufs Tiefste berührt und melancholisch mitgerissen. Und daher möchte ich in diesem Fall auch mit eine, wie ich finde, sehr passenden Zitat enden:



"... Menschen können ohne Zuversicht nicht leben. Ohne Zuversicht beginnen sie zu hassen. Und schließlich, über kurz oder lang, fangen sie an, sich für diesen Mangel an Zuversicht zu rächen. Ihre Wut lenkt um [...] Dabei ist die Zuversicht, so scheint es mir, eine Entscheidung. Jeder kann in jedem Moment von heute auf morgen entscheiden, zuversichtlich zu sein. Und damit wenigstens hier, in diesem konkreten Welt jetzt, das Schlimmste verhindern."

Veröffentlicht am 26.09.2019

Jugendliebe - Über das Finden und sich wieder verlieren, das große Glück und den tiefen Fall

Den Himmel stürmen
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In Paolo Giordanos Roman "Den Himmel stürmen" besucht Teresa, wie jedes Jahr in den Sommerferien, ihre Oma in Apulien. Eigentlich ein sehr ruhiger Ort und für das Mädchen scheint das Leben dort oftmals ...

In Paolo Giordanos Roman "Den Himmel stürmen" besucht Teresa, wie jedes Jahr in den Sommerferien, ihre Oma in Apulien. Eigentlich ein sehr ruhiger Ort und für das Mädchen scheint das Leben dort oftmals still zu stehen. Doch dies soll sich schleunigst ändern, als sich Bern und Teresa erstmals in die Augen sehen. Bern, Tommaso und Nicola werden auf dem benachbarten Hof von Cesare und seiner Frau sehr isoliert, unter dem Schirm Gottes erzogen. Sie seien eine Art Sekte, so heißt es.

Als Teresa sie dann eines Abends im Pool ihrer Oma entdeckt, ist es um sie geschehen. Teresa wirkt fasziniert von den Jungs und möchte mehr über sie erfahren. Angezogen von Bern, besucht sie die Jungs nun beinahe täglich auf dem Hof. Zwischen den Vieren entwickelt sich zunächst eine Freundschaft und mit den nachfolgenden Sommern entfacht zwischen ihr und Bern auch die erste große Liebe. Als er dann im darauf folgenden Jahr nicht mehr da ist, möchte Teresa von Apulien nichts mehr wissen. Sie verlieren sich aus den Augen.
Als Teresas Oma verstirbt und ihr die Villa vermacht ist sie beinahe gezwungen zurückzukehren. Beim Begräbnis taucht Bern wieder auf, die Anziehung entfacht sich neu und es beginnt für Teresa ein neues, altes Abenteuer. Sie bricht ihr Studium ab, zieht zu Bern und seinen Freunden, die nach dem Verschwinden Cesares den Hof besetzt haben und nur im Einklang mit der Natur leben wollen. Am Rande der Legalität setzen sie sich für die Freiheit von Tieren und insbesondere für Olivenbäume ein. Doch alles scheint sich mehr und mehr zuzuspitzen bis Teresa am Ende beinahe alles verliert. Aus dem einstigen Abenteuer, wird ein Kampf um die Existenz, um Freundschaft und vor allem um Verständnis.

Dieses Buch nahm mich mit auf eine Reise. Eine Reise über 20 Jahre hinweg, in ein fremdes Leben, das ganz und gar nicht einfach erscheint und im Vergleich zu meinem gänzlich verschiedenen ist.Teresa und Bern, eine blinde Liebe, die normalerweise schöner nicht sein könnte, aber hier oftmals zur Genervtheit meinerseits führte. Gerade Teresas Naivität und das Hinterherlaufen mit der rosaroten Brille, die ihr ganzes Leben durcheinander bringt, fernab von Sinn und Verstand empfand ich häufig als sehr schwierig - nicht im Sinne vom Lesen und Verstehen, sondern vom Menschlichen aus betrachtet. Dennoch verursachten die Handlungen und Gespräche mit und um sie herum ein sehr emotionales Erlebnis aus Mitfreude, Hoffnung, Trauer, Frust und Wut. Giordano hat es geschafft im Rahmen dieser Geschichte ein Wechselspiel aus Sehnsucht, Nähe, Verlust, Angst, Vertrautheit und einen Hauch Glauben und Beständigkeit einzufangen, umgeben von der Weisheit und Liebe der Familie und der Großmutter Teresas. Die Aufs und Abs machen diese Geschichte so spannend möglich. Sie ist wie das Leben selbst. Für mich war hier kein Wort zu viel, keine Handlung zu wenig. Giordano hat mich mit seiner Geschichte in den Bann gezogen, denn wenn er etwas kann, dann Gefühle und Stärke in einzelne Worte und Umschreibungen zu packen, die manchmal erst etwas brauchen, bis sie ihre gesamte Wirkung entfalten und einen gänzlich aufwühlen.
Es ist ein Roman, für alle, die etwas mit Empathie, Gefühlen und Liebe anfangen können, fern ab von schnulzigen Happy Ends, mit großartigen Wendungen und einem großen Geheimnis.

Veröffentlicht am 26.09.2019

Der Wunsch nach Veränderung - Im Bann eines fremden Lebens

Farben der Nacht
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"Farben der Nacht" von Davit Gabunia ist ein Roman der mich sehr stark beeindruckt hat. Nicht aufgrund seiner Länge oder Geschichte als solches, eher durch das erschaffene Abbild einer ganzen Gesellschaft. ...

"Farben der Nacht" von Davit Gabunia ist ein Roman der mich sehr stark beeindruckt hat. Nicht aufgrund seiner Länge oder Geschichte als solches, eher durch das erschaffene Abbild einer ganzen Gesellschaft. Grob gesagt geht es in dem Roman nämlich um fünf Menschen auf der Suche nach ihrem Glück, für das sie im Endeffekt alles aufs Spiel setzen - ihr Leben, ihren Glauben und alles um sie herum. Über ein Land im Aufbruch und Wandel, über Aufstände und Machtwechsel, Chancen und Veränderung.

Surab, ein eigentlich glücklicher Mann und Vater zweier Kinder, hat vor einer Weile seinen Job verloren und wird zum Hausmann degradiert. Seine Frau geht arbeiten und er? Er versinkt bekümmert in der Wohnung eines trostlosen Wohnblocks und soll nun auf die Kinder aufpassen, mit ihnen 'blöde' Spiele spielen und sich langweilen. Statt nach einer neuen Arbeit zu suchen, vegetiert er auch noch spät nachts auf dem Sofa vor sich hin und beginnt irgendwann den neuen Nachbar von gegenüber mit seinem roten Alfa Romeo zu beobachten. Auch spät in der Nacht sind die Fenster des Nachbarn noch hell erleuchtet. Surab starrt gebannt auf das fremde Leben und beobachtet das bunte Treiben der Männer auf der anderen Seite. Fast regelmäßig erscheint in dessen Wohnung ein höherer Beamter im Anzug und Surab beobachtet durch das Fenster das homosexuelle Liebesspiel der beiden.

Von Irrsin, Faszination und Aufregung getrieben, beginnt Surab die beiden zu observieren, Fotos zu schießen und diese säuberlich auf dem Rechner abzuspeichern. Er geht auf in der Rolle des Spitzels und sein ganzes Leben scheint sich nur noch darum zu drehen. Eines Tages beobachtet Surab einen furchtbaren Streit zwischen den beiden. Eine Vase fliegt, der Beamte verlässt schnellstens die Wohnung und Surab wittert seine Chance. Eine Chance auf ein besseres Leben. Eine Chance auf Veränderung. Doch nicht nur sein Leben bewegt sich in eine ganz andere Richtung ...

Gabunia erschafft mit seinem Buch ein sehr eindrucksvolles Bild einer Gesellschaft im Wandel. Es ist der Sommer 2012 in dem die Menschen auf die Straße gehen. Ein Sommer, der die Regierung zum Sturz bringt. Es entstehen neue Chancen, Möglichkeiten und Hoffnungen. Surab und seine Familie stehen für mich sinnbildlich für die Perspektivlosigkeit, fernab aller Hoffnung, die aufgrund dramatischer Ereignisse und Veränderungen, neue Möglichkeiten erlangen. Es ist ein literarisch sehr starkes, raffiniertes und spannendes Abbild, dessen Ende ungewiss bleibt.
Was soll ich anderes sagen? Mich hat dieser Roman sehr mitgerissen, bewegt und irgendwie auch betrübt. Gerade diese stets mitschwingende trostlose Vegetation und Schwere, die ich bereits bei "Das Birnenfeld" oder "Das achte Leben (für Brilka)" erlebt habe, macht diesen Roman so wahnsinnig intensiv und faszinierend. Es ist diese Vielschichtigkeit innerhalb dieser Geschichte, die zunächst mit einem Ende beginnt und dann Schritt für Schritt die Beobachtungen, Gedanken und Erlebnisse der Protagonisten schildert.