Profilbild von herrfabel

herrfabel

Lesejury Star
offline

herrfabel ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit herrfabel über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 24.01.2022

eine wahnsinnig bewegende Geschichte - mein Highlight 2021

Shuggie Bain
0

Wenn man mich nach meinen Lieblingsbüchern des letzten Jahres fragen würde, wäre "Shuggie Bain" von Douglas Stuart (in der Übersetzung von Sophie Zeitz) eins der ersten, die mir da in den Sinn kommen. ...

Wenn man mich nach meinen Lieblingsbüchern des letzten Jahres fragen würde, wäre "Shuggie Bain" von Douglas Stuart (in der Übersetzung von Sophie Zeitz) eins der ersten, die mir da in den Sinn kommen. Dieses Buch enthält so eine besondere, wahnsinnig intensive und tragische Geschichte und hat mich gedanklich wirklich sehr lange beschäftigt. Teils von der Härte seiner eigenen Vergangenheit inspiriert, hat Douglas Stuart einen Debütroman geschrieben, in der er das tragische Schicksal einer Familie aufgreift, die im Laufe der Zeit durch die Alkoholsucht der Mutter nahezu in den Ruin getrieben wird. Agnes wurde von den Männern in ihrem Leben verlassen, gebrochen und in die Abhängigkeit getrieben. Ihr Sohn Shuggie erzählt hier von seinem Leben, seinen tragischen Erlebnissen; er erzählt vom einstigen Stolz der Mutter, ihrem Umzug der Familie von Glasgow in eine abgehängte Arbeitersiedlung nach Pithead, dem weiteren Absturz und dessen Folgen.

"Wenn Shuggie sie jetzt trinken sah, wusste er, dass sie es nicht tat, um sich zu amüsieren. Sie trank, um sich zu vergessen, weil sie keinen anderen Weg kannte, um den Schmerz und die Einsamkeit loszuwerden."

Wahrscheinlich wiederhole ich mich nun zum zigsten Male, aber diese Geschichte um Shuggie und seine Geschwister, seine Mutter Agnes, ihr langsamer sozialer Abstieg, seine rührende Naivität und die eigenen Probleme mit sich und seinem Umfeld, sowie diese tiefe Verbundenheit zwischen Mutter und Sohn, die Hilflosigkeit und diese emotionale Schilderung lässt einfach niemanden kalt. Es ist ein Roman, der die Leser:innen in seinem Ganzen und auf unterschiedlichsten Ebenen fordert, berührt und sie bedröppelt, aber auch fassungslos zurücklässt. Diese gnadenlose Porträt einer Familie, in dem der Sohn bis zum Schluss für seine Mutter kämpft und irgendwann doch einsehen muss, dass er nichts mehr für sie tun kann, ist einfach krass. Doch das Schlimmste an dieser Geschichte ist nicht mal das Ende und auch nicht 'der Weg' dort hin, es ist das verdammte, gute Jahr - ein Jahr hat es seine Mutter geschafft trocken zu bleiben und es war wahrscheinlich die schönste Zeit in Shuggies jungem Leben, aber dann... nun ja.

"Shuggie wollte nicht mehr hier sein. Er wollte nicht so tun, als wäre es okay, mit Mädchenspielzeug zu spielen oder die schmutzigen Teile von Jungs in der Oberschule anzufassen. Er wollte nicht wie das Limonadenmädchen sein. Er wollte nicht wie Agnes sein. Er wollte normal sein."

Eine große, bewegende Geschichte und eine noch größere Leseempfehlung von mir!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 09.01.2022

Auf einen Tee in Marokko

Auf Basidis Dach
0

Dieses Buch ist eine Entdeckungsreise, eine persönliche Erinnerung, ein Stück weit Reiseführer und Augenöffner zugleich. Man stellt sich bereits binnen weniger Seiten vor, wie Mona selbst einem gegenübersitzt ...

Dieses Buch ist eine Entdeckungsreise, eine persönliche Erinnerung, ein Stück weit Reiseführer und Augenöffner zugleich. Man stellt sich bereits binnen weniger Seiten vor, wie Mona selbst einem gegenübersitzt und bei einer Tasse Tee, warmer Abendluft, umringt von fernen Gerüchen und Stimmen, ihre Geschichte erzählt. Und ich denke, jeder, dieder Mona aus dem Radio oder von Instagram her kennt, wird es ähnlich gehen- Man hat schon nach den ersten Sätzen ihre Stimme im Ohr, nimmt ihre stete Freude und das Glück ihrer Erzählung und Erinnerungen oder bei den ernsteren Themen die Betrübtheit wahr und merkt gleichzeitig wie toll und schwer es ist zwischen zwei doch so unterschiedlichen Ländern und Kulturen aufgewachsen zu sein. Mona erzählt von sehr privaten Momenten und Gesprächen mit ihrem Vater, ihrem Basidi, sucht nach dem, was andere ihr als Herkunft oder Wurzel zuschreiben und nähert sich dabei nicht nur dem Land, aus dem ihre Eltern stammen, sondern auch ein Stück weit sich selbst an. Sie weist in diesem Buch auf viele Missstände hin und guckt hinter die Fassaden “oberflächlicher Orientromantik und rassistischer Stereotype”… Journalistin eben. Aber dieses Buch hat auch so viele tolle Momente, so tiefgründige und ruhige Gedanken über den Menschen, Kulturen, Traditionen… eben das, was wir als unser Leben und Alltag bezeichnen, und ist so locker leicht, unaufdringlich und unterhaltsam, dass es Spaß macht durch die Seiten zu fliegen. Und so stellt man sich auch vor, wie es wohl gerade in Marokko wäre, fühlt das gesellige Beieinander, schlendert mit Mona und ihrem Vater über die Märkte, trinkt Tee und genießt. Alles wirkt plötzlich so vertraut nah und diese einzelnen Geschichten sind so lebendig, so bildlich einnehmend und auch als nicht Reisefreund verspürt man den Drang Marokko live erleben zu wollen. Und genau dafür liebe ich dieses Buch über Mona Ameziane, ihre Familie und eben auch ein wundervolles Land. Würde es nun von Mona geführte Reisetouren geben… ich glaube, ich wäre sofort dabei. Große Empfehlung, großes Highlight aus 2021.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 08.07.2021

Carolina Setterwalls zutiefst bewegende Auseinandersetzung mit dem Glück des Lebens und dem plötzlichen Ende

Betreff: Falls ich sterbe
0

Das Leben schreibt die emotionalsten Geschichten, so oder so ähnlich könnte man dieses Buch kurz zusammenfassen, denn was Carolina Setterwall (in der Übersetzung von Susanne Dahmann) mit ihrem autofiktionalen ...

Das Leben schreibt die emotionalsten Geschichten, so oder so ähnlich könnte man dieses Buch kurz zusammenfassen, denn was Carolina Setterwall (in der Übersetzung von Susanne Dahmann) mit ihrem autofiktionalen Roman „Betreff: Falls ich sterbe“ ist nichts anderes als das harte, schicksalhafte Leben, ihr Leben und bittere Realität. Ihr Freund Aksel stirbt in der Nacht, während sich Carolina um ihren gemeinsamen Sohn Ivan kümmert, an einem Herzanfall. Er war gerade einmal Mitte dreißig, sie wollten sich eine Familie aufbauen, ihr Sohn erblickte vor wenigen Monaten die Welt und nun ist... ist alles schwarz. Im Schock bewegt Carolina sich durch die nächsten Tage, Wochen, Monate und wird eigentlich nur noch von ihren Freunden und der Familie gehalten.
Sie muss wieder lernen mit dem Leben und ihrem neuen Alltag klar zu kommen, erneut Fuß zu fassen und mit ihrem Schmerz umzugehen. Sehr nahbar, bewegend und intensiv lässt Carolina uns an den Gedanken, dem Leben und der Trauer an dem Leben ihrer Protagonistin teilhaben. In zwei parallel verlaufenden Erzählsträngen berichtet sie von der schlimmsten Zeit ihres Lebens und dem Kennenlernen ihres Freundes, ihrer Beziehung, sowie alltäglichen Momenten, Gedanken, Diskussionen. Sehr aufwühlend, persönlich und nahbarer erzählt sie von dem, was in ihr vorgeht und wie sie sich langsam ihren Weg zurück ins Leben kämpft und dabei stets diese schmerzvolle Erfahrung erinnert wird. Bereits die ersten 50 Seiten haben mich wahnsinnig mitgenommen und es wird auch nur minimal besser. Ich war schockiert, aufgelöst, bewegt von Carolinas Schicksal, konnte sie zwar nicht immer verstehen, noch fand sie wahnsinnig sympathisch, aber puh... das macht was mit einem. Dieses Buch hat es einfach in sich, berichtet sehr offen, reflektiert und ehrlich von gedanklichen Abgründen, von den schwierigen, verzweifelten Phasen der Mutterschaft, der Partnerschaft und Elternschaft, gibt Einblicke wie es ist mit Ängsten und Therapien umzugehen, beweist was Familie heißt, was Selbstbestimmung bedeutet und macht und was eben auch das Schicksal für einen gewaltigen Einfluss hat.
Das Leben ist kostbarer und fragiler Schatz und ja, ich glaube das muss einem irgendwie viel häufiger bewusst werden. Bewusst sein.
Am liebsten würde ich nun sowas sagen wie: das müsst ihr einfach lesen, aber dieser Roman ist wahrscheinlich nichts für sehr nah am Wasser gebaute Menschen. Dieses Buch trifft tief ins Herz und das auf eine wahnsinnig ergreifende, bewundernde und schonungslose Art und Weise. Unvergleichbar toll.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 17.06.2021

eine Krise, eine weitere Herausforderung und der Blick in das Leben des Pianisten Igor Levit

Hauskonzert
0

Die Corona-Krise hat uns allen so einiges abverlangt. Die alten Gewohnheiten wurden von jetzt auf gleich über Bord geworfen, viele haben sich neben dem Job von zuhause aus intensiv um ihre Kinder kümmern ...

Die Corona-Krise hat uns allen so einiges abverlangt. Die alten Gewohnheiten wurden von jetzt auf gleich über Bord geworfen, viele haben sich neben dem Job von zuhause aus intensiv um ihre Kinder kümmern müssen, hatten plötzlich gar keine Anstellung mehr oder saßen in ihren vier Wänden fest. Andere verloren sich aufgrund der vielen Einschränkungen in Hoffnungslosigkeit und Angst. Und wieder andere sahen diese Zeit der Ruhe als eine Art Neustart und Raum der Möglichkeiten. Es kam vieles zusammen und gerade die Veranstaltungs- und Kulturbranche hat sehr unter den Einschnitten gelitten. Künstlerinnen, die normalerweise tagtäglich vor gefüllten Hallen spielen, tausende Menschen Abend für Abend mit ihrer Musik oder Show beglückten, sahen sich plötzlich mit der Stille konfrontiert. Doch wie ergeht es Künstlerinnen, die von heute auf morgen nicht mehr im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, in ihre Wohnung zurückgedrängt werden und dabei nicht nur unter den normalen Kontaktbeschränkungen, sondern auch unter der Trennung von ihren Fans und dem direkten Feedback, ja mehr oder weniger, leiden?! Künstlerinnen, Musikerinnen und Artistinnen leben (neben den Einnahmen) vom Applaus und von der Begeisterung ihrer Fans und den Kulturinteressierten. Für den Pianisten Igor Levit blieb mit Beginn der Pandemie förmlich die Welt stehen. Sein ständiges Verlangen zu spielen und seine innere Unruhe ließen ihn in dieser Zeit neue Wege beschreiten, denn nichts ist für ihn und für andere Künstlerinnen so fatal und belastend wie Stillstand, Ruhe und Isolation. Und so spielte er dann auch weiterhin, versuchte über die Socialmedia Plattform Twitter auch weiterhin sein Publikum zu erreichen und mit ihnen die Musik zu teilen. Was zunächst noch recht einfach und aus einem Impuls heraus begann, wurde binnen kürzester Zeit zu einer festen Größe und Igor Levits Hauskonzerte zum Tageshöhepunkt für hunderttausende Zuschauerinnen.

In dem Buch "Hauskonzert" von Igor Levit und Florian Zinnecker geht es nun um genau diese für ihn sehr bewegende Zeit. In einer Mischung aus Interview und Bericht schildert Zinnecker sehr eindrucksvoll was in den Gedanken des Jahrhundertpianisten Levit vorgeht, wie er sich ständig neu (er)findet, positioniert und von welcher Unruhe er getrieben wird. "Was bliebe, wenn man jemandem, der so Klavier spielt, das Klavierspielen nimmt? Ginge das überhaupt? Wie hält es jemand, der so spielt, mit sich selbst aus?" sind dabei die Kern- und Ausgangsfragen dieses Buchs und wie man es sich bereits vorstellen kann... nein, das ginge nicht so einfach. Levit, der sich immer wieder neu herausfordert, eine ständig (neue) Auseinandersetzung mit der Musik fordert, schuf für sich mit den Hauskonzerten ein Ventil, das ihn am Leben hält und seinem Tag einen Sinn verleiht. Und das eben so ganz privat, losgelöst und von zuhause aus. So entstehen dann auch ganz intime Momente, die nicht nur ihm in dieser schwierigen Zeit halfen und einen Grund lieferten zu spielen, sondern auch Tausenden, die weltweit zeitgleich mit seinem Klavierspiel in Kontakt traten, ein Stück weit die Welt der klassischen Musik entdeckten und dabei noch Trost, sowie Halt fanden. Dieses unabhängige Gemeinschaftsgefühl und die tägliche Verbindung zwischen dem Musiker, seinen Gedanken, der Musik und den Zuhörer
innen war gerade in dieser Zeit etwas ganz besonderes.

"Ich weiß, das Leben ist kein Konzertsaal. Aber Musik ist Leben, wir alle hier zusammen, Sie hören mir zu, ich höre Ihnen zu. Einander zuhören - das ist Zivilisation. Die große Musik, die wir teilen, erschafft ein Band zwischen uns und erinnert uns an das Beste, das menschliches Leben erschaffen und miteinander teilen kann."

Sein Werdegang ist dabei jedoch nicht ganz zu vernachlässigen. Dieses Buch zeigt nicht nur wie üblich die Höhen und Resultate seines Werdegangs, es eröffnet auch einen Blick auf die Herausforderungen und Tiefpunkte in Levits Leben. Auch wenn man nun meinen könnte ein Jahrhundertpianist und der gefragteste Beethoven-Interpret, der mit dem besten Studienabschluss an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und seit dem die verschiedensten Preise und Auszeichnungen für einzelne Variationen, sein politisches Engagement und Wirken erhielt, hat unwahrscheinliches Talent bewiesen und Glück gehabt. Ja, sicherlich, aber dahinter stehen eben auch sehr viele Tiefpunkte, Lehrerwechsel, (Selbst-)Zweifel, Anfeindungen und Hasstiraden. Sein Weg dahin verlief bisher alles andere als gradlinig. Und gerade durch seine Herkunft und seinen Glauben sieht er sich häufig mit Antisemitismus, Hass und Wut konfrontiert. Das geht sogar soweit, dass Levits Management nach einem Talkshow-Auftritt Morddrohungen erhielt. Aber Levit lässt sich dadurch nicht einschüchtern und erhebt auch weiterhin an der Seite der Demokratie seine Stimme gegen Unrecht, Antisemitismus, Rassismus, Menschenhass in jeglicher Form und setzt sich für eine gerechtere, klimafreundlichere Welt ein.

"DAS ALSO IST die Geschichte, Igor Levit, 32, nicht ausgelastet damit, Jahrhundertpianist zu sein, und zugleich völlig erschöpft davon. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, und über Monate auch erst einmal auf der Suche nach der Frage selbst: Wer bin ich, und was soll ich tun."

Was ich an diesem Buch so liebe und zeitgleich so faszinierend finde, ist der ungeschönte Einblick in das Leben dieses Supertalents. Auf der einen Seite begleitet man Igor Levit auf Konzerte oder seinen 33. Geburtstag, auf der anderen beschreibt er seine Empfindungen über die ersten Anzeichen der Pandemie, seine Zweifel und Überforderung mit dieser für ihn sehr schwierigen Zeit, es folgen politische Anmerkungen, kleinere und größere Aufreger, tiefgründige Gedanken, Ausschnitte aus seiner Vergangenheit, die Bedeutung der Musik... Ich hatte mit jeder Seite das Gefühl ihm als Person näher zu kommen, ihn zu verstehen und eben das auch zu fühlen. Den Menschen hinter der Musik kennenzulernen. Ich fand es großartig, wie reflektiert Levit mit sich selbst ins Gericht geht, sich selbst aber auch häufig einfach so impulsiv neu herausfordert und vieles einfach nur geschieht, weil er gerade Bock darauf hat. Worte wie "Ich habe in dieser Zeit - vielleicht zum ersten Mail überhaupt - gespürt, dass ich kein Fake bin. Dass ich nicht nur so tue, als ob. Ich habe mir zum ersten Mal selbst geglaubt, dass ich Pianist bin." oder "Es gibt aber kein >Koste es, was es wolle<. Es gibt Kosten, die sich mit Geld nicht decken lassen. Ich will auch keinen Trost - es gibt nichts zu trösten. Wir alle, die wir von der Musik leben, wurden unserer Existenz beraubt. Und nochmal: Daran ist kein Politiker schuld, daran ist niemand schuld, nur die Zeit selbst." haben mich z.B. sehr beeindruckt. Levit ist so herrlich bodenständig und bricht doch hier und da häufig einfach mal aus, mal mehr trotzig und kindlich, mal mehr aus Lust sich herauszufordern oder eben seine Meinung kundzutun. Und so ganz nebenbei lernt man die Musik einfach mehr zu schätzen. Durch ihn habe ich nun begonnen klassische Stücke zu hören und auf mich wirken zu lassen. Und wenn man dann immer an seine Worte denkt, ergibt es so ein herrlich bewegendes Gesamtbild, das mich emotional zwar hin und wieder auch überfordert, aber auch neugierig macht. Ich kann dieses Buch so auch in keine Schublade packen, es ist mehr ein verbindendes Element zwischen der Musik, der Emotion, unterschiedlichsten Gedanken und den Herausforderungen der heutigen Zeit. Und dann ist da eben noch Levit, der einem fast freundschaftlich aus seinem Leben erzählt, von Höhen und Tiefen berichtet, teilweise gar eine Vorbild- und Mut-mach-Funktion einnimmt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.05.2021

eine außergewöhnliche Geschichte über einen Jungen, die Natur und das unvorhersehbare Schicksal eines gesamten Dorfes

Das Flüstern der Bienen
0

Wir machen eine kleine Zeitreise. Es geht zurück in die Anfänge des 20. Jahrhunderts. Eine Zeit, die durch viele Umbrüche und große Herausforderungen geprägt wurde. In dem kleinen mexikanischen Ort Linares ...

Wir machen eine kleine Zeitreise. Es geht zurück in die Anfänge des 20. Jahrhunderts. Eine Zeit, die durch viele Umbrüche und große Herausforderungen geprägt wurde. In dem kleinen mexikanischen Ort Linares spielte sich zu dieser Zeit eine sehr magische Geschichte ab. An einem Oktobermorgen im Jahre 1910 findet die alte Nana Reja unter einer Brücke ein abgelegtes Kind, doch niemand sonst hatte es schreien hören. Stets von einem Bienenschwarm umhüllt und von einer Missbildung der Oberlippe entstellt, sorgt der kleine Simonopio zunächst für eine Menge Unruhe und Unheilprophezeiungen bei den Dorfbewohnern. Dennoch nehmen Nana Reja und die etwas wohlhabendere Familie Morales, die bereits seit Generationen Zuckerrohrfelder bewirtschaften, das Kind und eben auch die ihn begleitenden Bienen bei sich auf. Gegen aller Erwartungen wächst der Junge ganz normal heran, aber bis auf einige unverständliche Laute wird er nie wirklich sprechen können. Im Laufe der Jahre entwickelt eine ganz besondere Gabe und was das Verständnis der Natur anbelangt, wird ihm nie jemand etwas vormachen. Es scheint als würden er und seine Bienen eine unzertrennliche Symbiose eingehen, so als würden sie ihn führen und stets allem einen Schritt voraus seien. Er vertraut ihnen, rennt ihnen hinterher und erkundet die Umgebung, manchmal sogar tagelang. Und er erahnt eben auch das Unheil, das durch den Bürgerkrieg und später durch die spanische Grippe naht und wird die Familie dadurch nicht nur einmal vor Schlimmeren bewahren. Aber es gibt auch etwas, vor dem sich Simonopio fürchtet. Seine Lieblingsgeschichte ist eine von Vater Franciscos Fabeln und dieser gab ihm folgenden Rat: "Eine Fabel zeichnet sich dadurch aus, dass die Tiere menschliche Eigenschaften haben, gute und schlechte. Wer die Fabel kennt, kann sich entscheiden, ob er die Gazelle oder die Maus sein will. Aber du, Simonopio, bist ganz gewiss der Löwe. Du musst dich nur vor dem Kojoten hüten." Und ja, dieser Tag, an dem sich Kojote und Löwe begegnen werden, wird kommen. Nicht heute, aber die Gefahr lauert stets im Verborgenen und ob dann seine Intuition und die Bienen immer rechtzeitig davor bewahren können oder er die Familie und die Bewohner der Hacienda ins Verderben stürzt, wird sich im Laufe der Zeit und eben dieser Geschichte zeigen.

"Die Bienen waren geduldig mit ihm gewesen: Jahrelang hatten sie darauf gewartet, dass er bereit wäre, die Reise mit ihnen zu vollenden. Am Ende des Weges wartete etwas Wichtiges auf ihn, etwas, was sie ihm schon immer hatten mitteilen wollen, etwas, was sie ihm zu verstehen geben wollten.
Bald würde er es sehen."

Sofía Segovias Roman "Das Flüstern der Bienen" ist für mich eine der größten Überraschungen in diesem Frühjahr. Zwar hatte ich bereits nach dem Lesen des Klappentextes eine spannende, etwas übersinnlich angehauchte Schicksals-Geschichte erwartet, aber dieser Roman bietet einfach so viel mehr und beinhaltet eine so bewegende 'Brüder'-Geschichte, dass ich nur begeistert davon sprechen kann. Dieses Buch ist eine Art Familien-/Generationenroman, der in den Anfängen des 20. Jahrhunderts in Mexiko spielt und ein spannendes Abbild des Lebens und der Gesellschaftsschichten während der spanischen Grippe, der Landreform in Mexiko und einer sich stets weiterentwickelnden Welt mit all ihren Herausforderungen, technologischen Fortschritten und Anforderungen darstellt. Es ist aber auch ein Spannungsroman, ein Krimi und ein Stück weit Traumaverarbeitung oder vielleicht auch eher ein Drama, das sich in der Familiengeschichte der Morales abgespielt hat. Jedenfalls hat sich dieses Buch, sei es aufgrund seiner thematischen Vielschichtigkeit und Verflechtungen oder doch aufgrund dieses ganz besonderen Jungen und Findelkinds Simonopio, nach und nach zu einer meiner liebsten Geschichten in diesem Jahr entwickelt.

Zu Anfang war ich allerdings noch etwas skeptisch und brauchte einige Seiten um mich in dem Erzählstil einzufinden. Eher ruhig und unaufgeregt erzählt Sofia Segovia diese Geschichte aus verschiedenen Perspektiven bzw. die einzelnen Kapitel folgen jeweils einem anderen Blickwinkel. Sie springt dabei von einem allgemeinen Erzähler, der mal aus Sicht der Mutter, des Vaters oder des Bruders… die Situation schildert, zu dem Ich-Erzähler Francisco, dem Sohn der Morales, der auf sein Leben zurückblickt. Dadurch kommt es insgesamt zu einer sehr vielstimmigen und von diversen Emotionen und Ansichten begleiteten Erzählung, die die Leserinnen sehr intensiv mit den einzelnen Protagonisten verbindet. Seite für Seite lernt man dabei das Geheimnis um Simonopio und seine Bienen, sowie die familiäre Beziehung zwischen den Morales und ihren Angestellten und Freunden kennen und schätzen. Sofia Segovia verflicht dabei sehr faszinierend dieses 'familiäre Band' mit zahlreichen historischen und technischen Fakten und Gegebenheiten. Inspiriert von einer realen Geschichte eines Dorfes in Mexiko, nimmt sie ihre Leserinnen mit in eine ganz andere Zeit und diese stolpern dann quasi ganz nebenbei von einer aufwühlenden Geschichte in die nächste. Und das macht dann vielleicht auch den Reiz dieses Buches aus. Es ist ein Stück weit genreübergreifend und eine Mischung aus historischem Roman, Familienroman, Spannungsroman und doch irgendwie zeitweise auch ein Krimi. In Mexiko/Lateinamerika war dieses Buch ein Publikumsliebling und monatelang in den Bestsellerlisten vertreten und das meiner Meinung nach zurecht. Während andere Romane nämlich sehr schnell ins Kitschige, leicht Unterhaltsame oder Vorhersehbare kippen, punktet dieses Buch bis zum Schluss durch seine Wendungen, Umbrüche und neuen Herausforderungen und hält dabei stets einen gewissen literarischen Grad aufrecht. Ich glaube mehr möchte ich an dieser Stelle auch nicht verraten, für mich war es jedenfalls ein großes Lesevergnügen und obwohl ich gerne einen Bogen um dicke Bücher mache, dieses hätte ruhig noch etwas dicker sein können.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere