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Veröffentlicht am 27.09.2019

Schonungslos. Krass. Menschlich.

Licht über dem Wedding
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Menschlichkeit ist heute so ein großer Begriff, teilweise ganz unvorstellbar, dass jeder mit jedem harmonieren könnte. Zu verschieden sind die Ansichten, Erwartungen, die Kindheit, die familiäre Bindung, ...

Menschlichkeit ist heute so ein großer Begriff, teilweise ganz unvorstellbar, dass jeder mit jedem harmonieren könnte. Zu verschieden sind die Ansichten, Erwartungen, die Kindheit, die familiäre Bindung, das Leben als solches. Ein jeder verrennt sich in seiner Vorstellung. Manche schüren Hass, Neid und Missgunst und äußern dies mit Gewalt. Andere hingegen scheinen alles andere verdrängen zu wollen und flüchten in eine visuelle Scheinwelt. Unterschiedliche Welten prallen tagtäglich aufeinander und doch begleitet uns alle der Drang des Lebens und irgendwie damit auch die Angst des Versagens, der Einsamkeit, der Leere.
In Nicola Karlssons Roman Licht über dem Wedding beschäftigt sich genau mit den verschieden stark ausgeprägten Differenzen. Hannah hat einen Modeblog und verdient ihr Geld als Influencer und Model im SocialMedia. Doch gerade ihre Bilder beschreiben nicht ihr Leben, denn eben dieses gerät nach und nach aus den Fugen. Und die unliebsame Begegnung mit der einen Nachbarstochter könnte dabei eine recht große Rolle zu spielen. Wolf ist alleinerziehender Vater, ist dem Alkohol verfallen und scheint nichts mehr in den Griff zu kriegen. Er und seine Tochter Agnes, wohnen in dem Hochhaus, in dem auch dieses 'Püppchen' vor kurzem eingezogen ist. Sie sind bereits unten angekommen. So kaputt und gewalttätig. Handgreiflichkeiten sind in ihrem Leben keine Seltenheit und auch ihre Ängste scheinen mehr in Aggression zu münden, als Zutraulichkeit zu erzeugen. Und doch sind sie alle sind auf der Suche, nach dem großen Ganzen, dem Leben und der Hoffnung. Aber sie verrennen sich und werden vom Strom der Einsamkeit mitgerissen, bis...



Dieser Roman ist ein gewaltiger Brocken, im wahrsten Sinne des Wortes. Und das kann man jetzt nicht mal auf den Umfang beziehen, denn tatsächlich reißen die 57 Kapitel einen einfach so mit. Schon nach den ersten Seiten wird man als Leser schonungslos in das Leben der Protagonisten gezogen und so schnell auch nicht mehr losgelassen. Man könnte beinahe meinen es wäre ein übelst spannender Krimi und doch ist es eigentlich 'nur' ein Gegenwartsroman, der die aktuelle Situation innerhalb der Großstadt nicht besser darstellen könnte. Welten die auf kleinsten Raum aufeinanderprallen und trotz der gewaltigen Unterschiede so viel gemein haben.
Hannah, Agnes und Wolf sind Figuren, mit denen ich in meinem Umfeld so gar nichts anfangen könnte, zu groß wären hier Spannungen und so war ich dann auch innerhalb des Romans recht wütend, aufgebracht, hassend. Hannah, die irgendwie alles für ein Bild machen würde und in einer so oberflächlichen Welt lebt, alles andere verdrängt und doch so recht wenig vom Leben versteht. Sie hat eine ganz spezielle und für heute recht typische Einstellung, die mich bereits im Geiste herausfordert und zum Teil auch auf die Palme bringt. Wolf, der Schläger und Säufer, und seine Tochter, hingegen sind Menschen denen ich recht wenig über den Weg traue und um die ich wahrscheinlich auch stets einen großen Bogen machen würde. Und so bauten sich dann zwischen dem ganzen Unverständnis, auch Aggressionen in mir auf, die ich gar nicht beschreiben kann. In dieser Form hat mich die Situation und jede Handlungen der einzelnen Protagonisten so wahnsinnig aufgewühlt und wütend gemacht. Doch mit der Zeit wirkten sie dann eher verletzlich, leicht neben der Spur und neben der Wut empfand ich plötzlich Mitleid, Trauer und Hoffnung, dass sich für sie alles zum Besseren wenden wird. Und irgendwie ändert sich in ihrem Leben ja auch was, nur eben so ganz anders als erwartet, mehr überrumpelt, krass und... puh.

Licht über dem Wedding lebt gerade von der Sprache und diesen recht konträren Charakteren. Ein jeder hat seine spezielle Geschichte und gerade das macht diesen Roman so tief, nahbar und ganz besonders. Nicola Karlsson verleiht Menschen eine Stimme, die irgendwo auf dem Abstellgleis herumdümpeln und durch jeden Verlust und jede Begegnung sich neu herausfordern, sich verängstigen lassen und irgendwie auch menschlicher werden. Für mich war dieser Roman eine ganz besondere Lesererfahrung und daher gibt's von mir auch eine ganz, ganz große Empfehlung!

Veröffentlicht am 27.09.2019

Die Geschichte geht weiter...

Abendrot
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Nach dem "Lied der Weite" nimmt uns Kent Haruf mit seinem neuen Roman "Abendrot" wieder mit ins kleine Städtchen Holt, Colorado. Die McPheron-Brüder stehen in diesem Teil vor einer neuen Herausforderung, ...

Nach dem "Lied der Weite" nimmt uns Kent Haruf mit seinem neuen Roman "Abendrot" wieder mit ins kleine Städtchen Holt, Colorado. Die McPheron-Brüder stehen in diesem Teil vor einer neuen Herausforderung, die Einfluss auf ihr ganzes Leben nimmt. Auch die Hilfe ihrer 'Pflegetochter' wird wieder gebraucht und sie zieht kurzzeitig mit ihrer Tochter Katie zurück auf den Hof. Aber nicht nur das, auch Luther und Betty haben am ganz anderen Ende der Stadt große Sorgen. Sie fürchten, dass man ihnen die beiden verbliebenen Kinder wegnehmen könnte. Sie leben abseits in einem Trailer am Existenzminimum und gemeinsam mit ihrer Sozialarbeiterin Rose Tyler versuchen sie alles richtig zu machen und doch kann eine einzige, unerwartete Begegnung, alles ins Wanken bringen. Auch DJ und sein Opa geraten in diese drohende Auseinandersetzung.



"Alles ist gut gegangen. Danke, dass du gekommen bist. Ich hab nicht gewusst, was ich ohne dich machen soll [...] Ich hab's einfach nicht verhindern können..."



An dieser Stelle möchte ich dann auch schon gar nicht mehr so viel sagen, außer, dass dieser Teil so einige unerwartete Wendungen mit sich bringt. Nachdem es im vorherigen Teil hauptsächlich um Hilfe, Aufnahme und Vertrauen ging, so dreht sich jetzt vieles um Verluste, Abschiede und Angst. Die Angst etwas neues zu wagen oder vor dem was kommen mag. Kent Haruf schafft es mal wieder mit seiner sehr ruhigen, bedachten Art ein großartiges Stück Erzählung aufzubauen und damit auch sehr besonderen Figuren eine Stimme zu geben. Es gibt nicht sonderlich viel Diskussionsbedarf oder fragwürdige Elemente, denn bei Haruf hat man stets das Gefühl, dass seine ganze Geschichte harmonisch bis aufs kleinste Detail abgestimmt ist und dadurch so mitreißend wirkt, ohne dass sonderlich viel Abgefahrenes passiert. Haruf beschreibt das Leben in all seinen Facetten, samt Gedanken und Herausforderungen. Man schließt viele seiner Figuren ins Herz und möchte sie begleiten. Und so hoffe ich dann auch, dass ein weiterer Teil nicht allzu lange auf sich warten lässt, denn Holt hat sich irgendwie zu einem meiner Lieblingsorte entwickelt. Von mir eine ganz klare Leseempfehlung, die dann allerdings schon bei "Lied der Weite" beginnt.

Veröffentlicht am 27.09.2019

Wenn alles vorbeirauscht

Fliegen
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In Deutschland pendeln wahnsinnig viele Menschen täglich zwischen ihrer Wohnung und der Arbeitsstätte. Für einige von ihnen sind es nur wenige Minuten Weg, für manche Stunden und für wieder andere große ...

In Deutschland pendeln wahnsinnig viele Menschen täglich zwischen ihrer Wohnung und der Arbeitsstätte. Für einige von ihnen sind es nur wenige Minuten Weg, für manche Stunden und für wieder andere große Reisen. Doch was ist, wenn man alles verloren hat, man sich die Wohnung nicht mehr leisten kann und einzig ein Fahrticket und eine kleine Reisetasche übrig bleibt? Genau so ergeht es der Protagonistin in Albrecht Selges Roman "Fliegen".

Das Buch handelt von einer Frau auf ständiger Reise, abgeschottet von der Außenwelt reist sie täglich von Bahnhof zu Bahnhof, von Nord nach Süd und wieder zurück. Früher hatte sie ein ganz normales Leben mit einer eigenen Wohnung, einem Beruf, ein paar Liebschaften. Heute bleibt ihr einzig eine kleine Reisetasche, ein paar Dokumente, ein kleines gelbes Buch und ihre beste Freundin Lilo, die sie hin und wieder einmal anruft oder besucht. Ihre Rente lässt sie sich einmal im Jahr auszahlen und davon leistet sie sich eine Bahncard100. Ihr Leben fliegt nun auf Schienen. Die Bahn, ihr neues Zuhause stets auf wechselnder Strecke, im gleichen wöchentlichen Rhythmus samt Verspätungen und Hindernissen. So erzählt sie nun in einzelnen Fragmenten von ihrem Innersten, das was sie sieht und erlebt, was in der Außenwelt passiert und wie sie abgeschottet in ihrer 'hohlen Röhre' durchs Land zieht und ihr Leben lebt.

Ihre Geschichte hat mich irgendwie total getroffen, fasziniert und doch unberührt zurückgelassen. Selge beschäftigt sich sehr intensiv mit dieser Frau und doch bleibt sie bis zum Ende fast ein Rätsel. Man weiß, sie hat ihre Wohnung verloren, ist Rentnerin, hat einiges in der Bahn erlebt, hat Lilo und dann war's das beinahe auch schon. Aber das ist dann auch gar nicht weiter schlimm, denn auch wenn man täglich die gleichen Menschen in der Bahn trifft, so weiß man auch nach Jahren des Nebeneinandersitzens recht wenig voneinander und doch, kann man sich leiden. Sprachlich finde ich "Fliegen" teilweise sehr poetisch, manchmal etwas wirr, manchmal echt und manchmal einfach ganz sensibel und melancholisch. Selge schafft es in "Fliegen" eine in sich ruhende Bahnatmosphäre zu erzeugen, einen Raum zu schaffen, in dem sich einfach so viel gedanklich und real abspielt. Und auch wieder nicht. Es ist eine Reise wie das Leben selbst. Dass sich dann auch noch gegen Ende einzelne Erzählungen in ähnlicher Art wiederholen, finde ich zum Beispiel sehr faszinierend, zumal es die ständige Routine des Reisens wiederspiegelt, aber auch den Alltag so herrlich beschreibt. Die Protagonistin schaut hinaus in die Welt. Sie blickt hinein in den Spiegel der Dunkelheit und sieht sich selbst. Sie erlebt kaum etwas und scheint doch in ihrer 'Kapsel' zu ruhen, obwohl alles stets in Bewegung ist. Und gerade das macht sie als ältere, kleine Frau dann auch wieder so unheimlich zerbrechlich. Wie sie so dasitzt, hofft, dass sie niemand mehr belästigt, und darauf wartet anzukommen. Schon allein der Anblick einer Bahn, reißt mich immer wieder zurück in diesen Bann und nimmt mich erneut mit, gedanklich in die Geschichte, die Unbekanntheit und das Leben der Protagonistin einzutauchen. Wahrscheinlich wird sie mich nun immer begleiten.

Veröffentlicht am 27.09.2019

so verstörend, klaustrophobisch, gewalttätig, anders.

Mein loser Faden
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Dennis Cooper redet nicht lange um den heißen Brei und so ist dann auch der Einstieg von "Mein loser Faden". Er spielt mit der Verwirrung und Zerrissenheit und so wird auch der Leser in eine Situation ...

Dennis Cooper redet nicht lange um den heißen Brei und so ist dann auch der Einstieg von "Mein loser Faden". Er spielt mit der Verwirrung und Zerrissenheit und so wird auch der Leser in eine Situation reingeworfen, die er zwar noch nicht ganz überblicken kann und deren Ursachen, beteiligte Personen und vorangegangene Geschehnisse zunächst fraglich bleiben. Nach den ersten Zeilen ist klar, es ist etwas Schlimmes geschehen und so baut sich ein Gefühl auf, das sagt, dass alles einfach nur noch schlimmer werden kann...

Larry plagen Schuldgefühle. Vor einem Jahr ist ist sein Freund Rand gestorben und er glaubt, dass die Auseinandersetzung mit ihm und ein zu fester Faustschlag ihm das Leben genommen haben. Aber nicht nur das, Larry steckt in etwas viel Größerem fest. Sein Umfeld? Eine Katastrophe. Seine Mutter? Alkoholikerin. Sein Vater? Schwerst krebskrank. Sein Bruder? Ähnlich gestört wie er selbst. Vielleicht ist auch Larry daran schuld, denn er fühlt sich zu seinem Bruder Jim hingezogen. Misshandlungen und Vergewaltigungen sind keine Seltenheit. Als wäre das alles noch nicht schlimm genug, gibt es noch weitere Charaktere, die den Abgrund immer größer werden lassen. Pete bekam von Gilman, dem Anführer einer rechtsextremen Gruppierung, den Auftrag Bill zu töten und diesem ein Notizbuch abzunehmen. Er bittet Larry um Hilfe, doch dieser ist in seiner Abstrusität aus Lügen, Fragen und Gedächtnislücken gefangen. Und gerade dieses Notizbuch wird alles noch einmal in ein anderes Licht rücken. Er versucht einen Ausweg zu finden, zu verstehen, zwischen Lüge und Wirklichkeit zu unterscheiden, doch wenn Gewalt im Spiel ist, kann alles einfach nur noch schlimmer werden.

Puh, was für ein furchtbar aufwühlendes, beklemmendes und zugleich verstörendes Buch. Hier zu sagen, dass es mir sehr gefallen hat, wäre irgendwie fragwürdig, da es schließlich von Gewalt, Missbrauch, Mord, Depression und Liebe handelt, aber genau das hat es letztendlich getan. Diese thematische Wucht in Form eines sehr direkten, kurzen Romans zu verpacken, gleichzeitig die Verwirrung und Zerrissenheit so spürbar zu machen, ist einfach dermaßen erschütternd eindrucksvoll, dass ich Cooper hier hohen Respekt zollen muss. Ich könnte nicht mal genau sagen warum, denn zu sehr fehlen mir hier auch noch Tage nach dem Lesen die Worte. Und ich würde nun lügen, dass mir dieser 'Ausflug' leicht gefallen wäre, denn zu sehr behindern die zahlreichen Charaktere und Dialoge das Verständnis, sodass mir vieles erst im Nachhinein so wirklich klar geworden ist. Es ist schlicht und ergreifend die deprimierende Gewalt in Buchform. Im Buch selbst heißt es: "Mein loser Faden ist eine Reportage über jugendliche Depression, moralische Leere und die Verwirrungen der Liebe, es ist klaustrophobisch und das Erschütterndste daran ist die Erkenntnis, wie nahe Gewalt an Liebe oder besser dem Wunsch danach liegt." Und genau das ist es. Ich kann es nicht besser beschreiben. Und daher spreche hier eine vorsichtige und doch ganz klare Empfehlung aus, allerdings ist diese dann natürlich nur mit Vorsicht zu genießen.

Veröffentlicht am 27.09.2019

ein Generationenroman über das Auseinanderdriften einer ganzen Familie und den Verlust ihrer Heimat

Die Kunst zu verlieren
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Dass verschiedene Generationen kaum noch Berührungspunkte zu haben scheinen, ist heutzutage ja leider schon recht normal geworden. Wie ist es dann allerdings, wenn es nicht nur die fehlenden gemeinsamen ...

Dass verschiedene Generationen kaum noch Berührungspunkte zu haben scheinen, ist heutzutage ja leider schon recht normal geworden. Wie ist es dann allerdings, wenn es nicht nur die fehlenden gemeinsamen Interessen betrifft, sondern schon an der Sprache und Nähe hapert? Alice Zeniters Roman "Die Kunst zu verlieren" setzt genau dort an, bzw. führt uns zunächst nach Algerien zu Naimas Großeltern Ali und Yema.

Nachdem Ali im Sturzbach eine Olivenpresse findet, kommt alles wie von allein und er, seine Brüder, seine Verwandten und Freunde sind angesehene Menschen im Dorf. Doch dieser Erfolg sollte nicht ewig bestehen. Der algerische Unabhängigkeitskrieg macht sich selbst in dem abgelegenen Dorf hinter den Gebirgskämmen bemerkbar. Unruhen, Auseinandersetzungen, einmarschierende Truppen der FLN, der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, halten seine Familie und die Bewohner auf Trab. Als Ali dann bei der französischen Armee um Schutz bittet, wird er von den nationalen Befreiern als sogenannter 'Harki' abgestempelt und muss nun nicht nur um seinen Hof, sondern auch um Yema und seine drei Kinder Hamid, Kader und Dalila bangen. Er will sie retten. Er will sich retten und so gibt es auch nur eine Möglichkeit - die Flucht nach Frankreich.

In Frankreich folgen weitere Auseinandersetzungen. Die Familie verbringt gut 2 Jahre in einem Auffanglager in Jouques bis ihnen endlich eine kleine Wohnung zuteil wird. Die Kinder besuchen eine französische Schule und mit der Sprache wächst dann nach und nach auch die Distanz zu ihren Eltern. Hamid wendet sich von allem ab, zieht nach Paris und will auch von der Vergangenheit nichts mehr wissen. "Li fat met" - Die Vergangenheit ist tot. In Paris gründet er dann etwas später mit Clarisse seine eigene Familie, aus der dann seine Tochter Naima hervorgeht und gerade sie ist es dann auch, die Fragen stellt...

Naima möchte mehr über ihre Vergangenheit, ihre Heimat und den familiären Ursprung erfahren. Doch Hamid will ihr dazu keine Auskünfte geben, denn schon alleine das Fluchtjahr bzw. Jahr ihrer Immigration 1962 lässt negative Rückschlüsse zu. Ali hat bereits das Zeitliche gesegnet und mit ihrer Großmutter Yema kann sie sich kaum verständigen. Als sie dann durch einen Zufall mit der Aufgabe betraut wird, die Bilder eines algerischen Künstlers zusammenzutragen, zögert sie. Wird sie die Reise in ihre Vergangenheit auf sich nehmen? Und wie wird man dort auf sie, die Verwandte eines Verräters, reagieren?

Ich glaube, ich habe mit "Die Kunst zu verlieren" bereits mein Jahreshighlight gefunden. Alice Zeniter schafft es, mich für ein Land zu interessieren, dessen Entwicklung ich, ehrlich gesagt, kaum auf dem Schirm hatte. Der Algerienkrieg, ein Krieg um die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich in der Zeit von 1954 bis 1962 gehörte bei mir nicht so wirklich zum damaligen Geschichtsunterricht (oder ich habe grade da nicht aufgepasst) und gerade in der Romanform beschäftigt man sich nicht einfach nur mit Daten und Zahlen, sondern hauptsächlich mit den Menschen, deren Erlebnissen und Beweggründen. Die Auswirkungen des bewaffneten Konflikts auf die Algerier und die Flucht der "Harkis", deren Aufnahme und Neubeginn in Frankreich und der damit einhergehenden Ungewolltheit, Angst, Verdrängung sowie Neugier und Suche späterer Generationen nach ihrer verlorenen Heimat hat Zeniter wirklich eindrucksvoll in ihrem Generationenroman verwoben. In Hinblick auf die Globalisierung, Migration und vorherrschenden Auseinandersetzungen in vielen südlichen Ländern, ist dieser Roman für mich hochaktuell. Die flüchtenden Menschen verlieren nicht nur ihr zuhause, sondern auch ihre Heimat, ihre Vergangenheit, ihr bisheriges Leben und auch wenn sich die Situation irgendwann wieder beruhigen wird und sie zurückkehren können, so wird es nie wieder das Gleiche sein. Auch zukünftige Generationen der Großfamilien werden nicht einfach so wieder zusammenfinden, zu groß ist die Distanz, sei es kulturell oder sprachlich gesehen. Dieses Auseinanderdriften einer Familie und die Auswirkungen auf die einzelnen Folgegenerationen spielt in diesem Roman eine sehr große Rolle und die Autorin schafft es auf eine sehr empathisch kluge und lebendige Art und Weise eben dieses aus den verschiedenen Perspektiven einzelner Familienmitglieder darzustellen. Vielleicht liegt es daran, dass ihre Großeltern selbst "Harkis" waren und sie mit ihrem Roman somit auch einen Teil über sich erzählt. Vielleicht ist es auch nur Zufall und sie ist einfach eine Meisterin in der Erschaffung charakterstarker Protagonisten. Beinahe jede ihrer Figuren habe ich in gewisser Weise ins Herz geschlossen. Und so fiebert man mit und fragt sich, was alles passieren mag, wenn die Familie bereits auf den ersten Seiten dieses Romans mit den Bedrohungen des Krieges konfrontiert wird. Genauso freut man sich auch über so Kleinigkeiten, sei es, dass Yema in Frankreich ohne jegliche Sprachkenntnisse einkaufen geht und sich einzig an den Bildern der Produkte orientiert und stolz auf sich ist oder als sich Ali überraschender Weise mit Mohand, einem Mann aus seinem Dorf, der Vergangenheit, in Paris trifft und sie somit irgendwie wieder zusammenfinden. Oder man erfährt einfach mehr über das doch so unbekannte Land, den Glauben und die Traditionen...

Zeniter gibt den Verdrängten Algeriens eine Stimme und das so bewegend, dass man diesen Roman und diese Familie einfach nur mögen kann. Ich würde gar sagen, wer "Das achte Leben (für Brilka)" von Nino Haratischwilli gelesen und gemocht hat, wird "Die Kunst zu verlieren" mindestens genauso lieben.