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Veröffentlicht am 21.05.2019

So echt, so perfekt und doch nur ein Abbild

Deine kalten Hände
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„Was andere für echt hielten, zweifelte ich hartnäckig an, und womit sich alle zufrieden gaben, reichte mir nicht aus. Dafür entdeckte ich Schönheit, wo sonst niemand welche fand. Auf diese Weise versuchte ...

„Was andere für echt hielten, zweifelte ich hartnäckig an, und womit sich alle zufrieden gaben, reichte mir nicht aus. Dafür entdeckte ich Schönheit, wo sonst niemand welche fand. Auf diese Weise versuchte ich zum Inneren der Dinge vorzudringen, deren Äußeres man sehen, hören, riechen und berühren konnte.“


Inhalt


Unhyong Jang lernt schön früh, dass sich Menschen hinter einer Maske verstecken, dass selbst ein freudestrahlendes Gesicht, wie das seiner Mutter, nur aufgesetzt sein kann und die echten Charakterzüge verbirgt.

Als Erwachsener entwickelt er eine ganz besondere Form der Kunst, mit deren Hilfe er die äußere Wahrheit zeigen möchte aber gleichzeitig auch ihre Zerbrechlichkeit und Lüge. Er nimmt von verschiedenen Frauen Gipsabdrücke, dabei konzentriert er sich immer auf ein anderes Körperteil. Zunächst sind es die Hände, dann ganze Körper oder nur das Gesicht – je nachdem welchen Teil der Frau er abbilden möchte. Doch seine Modelle sind in erster Linie besonders und entsprechen nicht dem gängigen Schönheitsideal.

In zwei Frauen verliebt er sich – die eine ist ein wahres Schwergewicht und in ihren Körperformen kann er sich verlieren, doch bald schon entwickelt sie psychische Probleme, die sie in eine schwerwiegende Krankheit führen, die Unhyongs Einfluss nicht mildern kann. Die andere ist zwar äußerlich wunderschön, erstarrt aber immer wieder in ihrer Art, sie scheint etwas zu verbergen, was sie niemandem verraten möchte. Doch damit kann der junge Künstler leben, er nimmt sich die Zeit auch diese Frau zu erkunden, um ihr wahres Ich zu enthüllen. Doch die zerstörerische Kraft dieser Beziehung ändert auch seine Sicht auf die Dinge …


Meinung


Die koreanische Schriftstellerin Han Kang hat mit ihren Werken mittlerweile internationale Erfolge gefeiert und widmet sich in diesem Buch einer Person, die selbst auf der Suche nach Nähe und Ehrlichkeit ist und nur durch stetiges Beobachten und einige Rückschläge ihrem Lebenssinn etwas näherkommt. Auf die Geschichte über die Möglichkeiten des Ausdrucks mittels künstlerischer Gestaltung aber auch die Grenzen, die nicht überwunden werden können, war ich sehr gespannt, weil mir allein die Inhaltsbeschreibung noch keine Auskunft geben konnte, ob diese Erzählung meinen Lesegeschmack treffen könnte oder eher nicht.

Im Grunde genommen passiert sehr wenig: Ein Mann verschwindet und hinterlässt Tagebuchaufzeichnungen und sein Gesamtkunstwerk, welches er minutiös in Schriftform festhält, inklusive der einzelnen Ereignisse, die zu den Objekten passen. Dennoch gelingt es der Autorin, den Leser zu unterhalten und ihn gewissermaßen für die kleinen, feinen Details der Schaffensgeschichte zu begeistern. Dabei wahrt sie jedoch eine kühle Distanz, die ebenso wie die Skulpturen zwar eine äußere Fassade besitzt, aber gleichermaßen eine hintergründige Aussage.

Die Frage der Schönheit kommt immer wieder auf, sie wird auf subtile Art und Weise hinterfragt und zeigt erschreckend deutlich, welche Auswirkungen eine gebrochene Seele auf den menschlichen Körper haben kann aber auch umgekehrt, wie viel Aufmerksamkeit dem Äußerlichen zu Teil wird, ohne jemals in die Tiefen des Herzens geblickt zu haben. Die Frage nach Schein und Sein dominiert den Text und man findet verblüffende Parallelen, Beispiele aus dem ganz normalen Alltag, die ebenfalls diese Schnittmenge aufweisen und denen ich normalerweise kaum Beachtung schenke.

Die Sprache ist poetisch, wenn auch kühl, die Charaktere bleiben weitestgehend anonym, haben nicht einmal richtige Namen. Die Geschichte überzeugt dennoch, schon allein aufgrund ihres ungewöhnlichen Ansatzes, ihrer Ausführung und der stillen, unbestimmten Entwicklung aller Personen, die die Gedankenwelt des Lesers eher am Rande streifen, als sich in ihr festzusetzen.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen ausdrucksstarken Roman, der eine Thematik anschneidet, mit der ich einerseits wenig Berührungspunkte habe, die mir aber in ihrer Form durchaus wertvolle Inhalte vermitteln konnte. Besonders einprägsam wird der Text, weil er gänzlich ohne Bewertungen auskommt. Jedwedes Verhaltensmuster scheint tiefen Ursprungs zu sein, der Betrachter erhascht jedoch nur kleine Momentaufnahmen, so dass eine Anmaßung über korrektes oder schuldhaftes Verhalten erst gar nicht zur Sprache kommt.

Interessant empfand ich auch die Kraft der Selbstzerstörung auf Grund gesellschaftlicher Normen, die ein Individuum nicht immer erfüllen kann. Im Kern habe ich dabei den Aspekt der Selbstliebe gefunden, der Akzeptanz all jener Fehler, die den Menschen so liebenswert und einmalig machen, auch dann, wenn alle Hüllen zerbröckeln. Prädikat: Lesenswerte Belletristik mit Unterhaltungswert.

Veröffentlicht am 25.04.2019

Einsamkeit trotz immerwährender Beziehungen

Die zehn Lieben des Nishino
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„Nishino zu küssen war wunderschön. Schöner als alles, was ich bisher gekannt hatte. Und doch fühlte es sich einsam an. Es war der einsamste aller Momente von Einsamkeit, die ich je erlebt hatte.“


Inhalt


Nishino ...

„Nishino zu küssen war wunderschön. Schöner als alles, was ich bisher gekannt hatte. Und doch fühlte es sich einsam an. Es war der einsamste aller Momente von Einsamkeit, die ich je erlebt hatte.“


Inhalt


Nishino sucht die Liebe seines Lebens, die immerwährende, alles umfassende Liebe, die er mit jeder neuen Frau an seiner Seite entdecken möchte. Doch trotz seiner Zuneigung zum weiblichen Geschlecht, seines Charmes und der Fähigkeit, jeder Frau das zu geben, was sie bisher nicht einmal vermisst hat, bleibt er ein Einzelkämpfer. Ein Mann, der sich über die Unendlichkeit des Universums beschwert, der seltsam unverbindlich und gleichermaßen fordernd auftritt. Der heiraten möchte und alle Frauen liebt, der während einer Beziehung mit der einen gleich noch die nächste Bekanntschaft pflegt. Ein Mann, der innere Verbundenheit sucht und doch nur oberflächliche Zuneigung findet. Eigentlich tritt er kaum in Erscheinung, ist manchmal schon wieder verschwunden, während er eine neue Liebe entdeckt und hinterlässt immer seltsam bestürzte Frauen, die sich unablässig fragen, ob sie ihn nicht lieben können, weil er so ist wie er sich gibt oder die ihn gerade deshalb verehren und ihn nur nicht halten können, weil sie ihn selbst zu wenig lieben.


Meinung


Die japanische Autorin Hiromi Kawakami, die bereits zahlreiche Literaturpreise ihres Landes für sich beanspruchen konnte, setzt mit ihrem neuesten Buch einem sehr unbestimmten Mannsbild ein Denkmal und schafft mit ihrer Erzählung, aus der Perspektive der Frauen ein stimmiges Gleichnis über die Unberechenbarkeit der Liebe.

Der Schreibstil selbst besticht durch leise, unaufgeregte kleine Erzählungen, bei der jede Frau dem Charakter des Nishino ein weiteres Attribut hinzufügt. Dadurch kann der Leser diesen besonderen Mann nach und nach immer besser einschätzen und wird sich bald darüber bewusst, worin die Kunst dieser Liebe bestehen mag, oder im Gegenteil, welche Ursachen immer wieder dazu führen, dass eine hoffnungsvolle Beziehung zerbricht.

Das Porträt des Herrn Nishino macht deutlich, wie Einsamkeit auch in andauernden Paarbeziehungen vorhanden sein kann, warum es immer leichter scheint sich einen neuen Partner zu suchen, wenn der gegenwärtige nicht mehr die eigenen Bedürfnisse erfüllt. Aber sie zeigt ebenso die Kehrseite der Medaille – ein ständig wechselndes, unverbindliches Zusammenleben ohne allzu tiefe Gefühle und nur wenige Entbehrungen.

Im Kern spürt man die Melancholie und Schmerzanfälligkeit dieses Mannes, der es nicht vermag, Konstanz in seine Beziehungen zu bringen. Dabei finde ich es sehr gelungen, wie wertungsfrei und offen die Autorin sein Verhalten aber auch das seiner Gefährtinnen darstellt. Wer kann etwas dafür, wenn Partnerschaften im Sande verlaufen? Warum ist es nicht nur die Treue, die Menschen an einander binden kann? Findet wirklich jeder irgendwann im Leben den passenden Partner? All diese teilweise philosophischen Betrachtungen fliesen in den Text hinein, ohne explizit genannt zu werden – dieses literarische Spiel mit den Figuren hat mir sehr gefallen, denn sie bleiben alle irgendwie substanzlos und dennoch bringen sie die Geschichte voran.

Ein klitzekleiner Schönheitsfehler, der mich etwas gestört hat, war das ineinander verschlungene Netz der Geschichten, die weder chronologisch noch mit deutlich verschiedenen Stimmen erzählt werden. So richtig kann man da nicht mitzählen, wie viele Frauen es tatsächlich waren, wer welche Ansprüche hatte und warum sie nicht erfüllt wurden. An dieser Stelle hätte ich mir vielleicht mehr Klarheit gewünscht, um die Frauenfiguren noch etwas besser einordnen zu können. Rückblickend betrachtet bleibt nur die Tatsache, dass es viele waren, die alle nicht fanden, was sie suchten.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen faszinierenden Roman über die Liebesfähigkeit eines Menschen, die sowohl fiktiv sein könnte als auch auf Realität basierend. Es ist kein klassischer Text über eine Person, die man vielleicht kennen könnte, doch die Verhaltensweisen an sich erscheinen äußerst plausibel. Zurückhaltung, Abstand und eine gewisse Distanziertheit bleiben bestehen, doch umso intensiver entfalten sich die diversen Interpretationsmöglichkeiten, die noch dazu sehr fremd und unbestimmt wirken.

Wer sich auf dieses Gedankenexperiment einlassen kann, findet hier Zugang und einen ungewöhnlichen Ansatzpunkt, dennoch hatte ich das Gefühl, nicht restlos in die Erzählung und ihre Tiefe vordringen zu können. Vielleicht bietet sich hier ein zweimaliges Lesen an, um noch mehr zu entdecken.

Veröffentlicht am 18.04.2019

Onkel Willis letzte Reise

Rückwärtswalzer
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„Wir haben gelernt, dass man nicht jedem jede Geschichte erzählen kann. Manche Geschichten sind dafür da, dass man sie allen erzählt. Andere dafür, dass man sie nur mit wenigen ausgewählten Menschen teilt.“


Inhalt


Lorenz ...

„Wir haben gelernt, dass man nicht jedem jede Geschichte erzählen kann. Manche Geschichten sind dafür da, dass man sie allen erzählt. Andere dafür, dass man sie nur mit wenigen ausgewählten Menschen teilt.“


Inhalt


Lorenz Prischinger wird von seinen Tanten mit einer ebenso schwierigen wie verantwortungsvollen Aufgabe betreut. Er soll seinen toten Onkel Willi zusammen mit den drei alten Damen von Wien nach Montenegro bringen, damit Willi dort seine letzte Ruhestädte findet, so wie er es sich zu Lebzeiten gewünscht hat. Als einziges Transportmittel kommt nur das Auto in Frage, da allen Prischingers das Geld für eine offizielle Überführung des Leichnams fehlt. Nach anfänglichen Zweifeln bleibt dem jungen Mann, der selbst gerade eine schwierige Lebensphase durchmacht, nichts weiter übrig als sich den Wünschen seiner drei beherzten Tanten zu beugen. Und gemeinsam erleben sie auf einer gut 12 stündigen Fahrt allerlei turbulente Vorkommnisse und ganz nebenbei führen sie tiefgreifende Gespräche über ihr Leben, die Vergangenheit und erfüllte oder verschobene Lebenswünsche. Onkel Willis letzte Reise setzt ihm ein Denkmal, ist Totenwache und Familienrat gleichermaßen und bestärkt die Prischingers in ihrem seit Kindertagen geltenden Motto: „Niemand wird zurückgelassen.“


Meinung


Dies war mein erster Roman aus der Feder der österreichischen Autorin Vea Kaiser, die mit ihren anderen Werken „Blasmusikpop“ und „Makarionissi“ bereits Bestseller landete. Die vielen positiven Lesermeinungen haben mich darin bestärkt, nun endlich mal ein Buch der Jungautorin kennenzulernen.


Und tatsächlich, der Roman verspricht eine unterhaltsame Geschichte, einen abenteuerlustigen Roadtrip und letztlich ein unvergessliches Familienepos und kann all das irgendwie auch bieten. Das große Plus dieser Erzählung ist nicht unbedingt der Humor, obwohl auch dieser nicht fehlt, nein es sind die warmherzigen Charakterbeschreibungen mehrerer Familienmitglieder, die hier alle gleichberechtigt und authentisch zu Wort kommen und die trotz ihrer Macken und Fehler, immer beherzte Entscheidungen treffen und sich mit den Konsequenzen arrangieren. Dieses sehr genau Bild gelingt durch ein stilistisches Mittel noch besser, denn abgesehen von der Gegenwartshandlung in einem beengten Panda mit einer gefrorenen Leiche auf dem Beifahrersitz, entführt Vea Kaiser den Leser in die Vergangenheit der jeweiligen Protagonisten.


So lernt man die älteste Schwester Mirl kennen, die sich mit dem dicken Gottfried einen echten Schürzenjäger als Mann zulegt, dessen Bauch als Beamter ebenso schnell wächst, wie als hungriger Ehemann. Die mittlere Schwester Wetti, die immer sehr präsent ihr Wissen kundgibt und sich für die Natur und ihre Entwicklung weit mehr interessiert als für Liebesgeplänkel und letztlich die jüngste Hedi, die sich mit Willi als Ehemann glücklich schätzt, sich aber doch nicht immer verstanden fühlte und auch den ein oder anderen Fehltritt zu Lebzeiten zu verantworten hat.


Tatsächlich haben mir die eher ernsthaften Ausflüge in die Familiengeschichte weit besser gefallen als die skurrilen Begebenheiten der „Leichenfahrt“, dort waren mir stellenweise die Handlung und die Vorkommnisse etwas zu dick aufgetragen und nicht mehr ganz so lustig wie beabsichtigt, obwohl es natürlich ein erfundener Roman mit einem bewusst gewählten Szenario ist, hätte ich mir an dieser Stelle eine etwas realistischere Ausführung gewünscht.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für einen sehr unterhaltsamen, humorvollen Roman voller Empathie und kleiner liebenswerter Anekdoten, der in seinem Gesamtbild eine unverwechselbare, einprägsame Familiengeschichte erzählt, die einem ans Herz wächst. Die Reise wird nur zum Anlass genommen, um die eigentliche durch Jahrzehnte reichende Lebenswelt der Familie Prischinger lebendig werden zu lassen. Ein Buch, welches unter der Hand an das Verständnis des Lesers appelliert, an die Möglichkeit trotz verschiedener Lebenswege einen intakten Zusammenhalt zu wahren und sich nicht davor zu verstecken, zu den eigenen Fehlern zu stehen, aber anderen diese ebenso großmütig zu verzeihen. Empfehlenswert ist das Buch für alle engagierten, lebensbejahenden Menschen, die sich gerne auf eine kleine Reise zu den Herzen anderer Menschen begeben möchten. Vielleicht nehmen sie sogar ein Stück Kuchen mit, für ihr eigenes Leben – denn auch darin sind sich die Prischingers einig: mit Essen wird alles etwas leichter.

Veröffentlicht am 31.03.2019

Die unerschütterliche Verbindlichkeit einer Beziehung

Der Wald
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„Sie hat schon zu viel verloren und weiß, dass es keine Sicherheit mehr gibt. Alles, was wir wirklich wissen, ist das, was der gegenwärtige Moment enthält. Sie muss sich selbst vor der Zukunft schützen ...

„Sie hat schon zu viel verloren und weiß, dass es keine Sicherheit mehr gibt. Alles, was wir wirklich wissen, ist das, was der gegenwärtige Moment enthält. Sie muss sich selbst vor der Zukunft schützen und vor dem, was sie am Ende bringen könnte.“


Inhalt


Pawel wächst in gutbürgerlichen Verhältnissen in Warschau auf und ist durchaus privilegiert, was Bildung und Wohnort anbelangt, doch der Krieg rückt immer näher, der Vater ist im Widerstand gegen den Nationalsozialismus unterwegs, die Mutter und Großmutter rücken zusammen, der Junge merkt, dass sein heiles Leben jeden Moment auseinanderbrechen könnte. Als sein Vater Karol schließlich einen schwer verletzen britischen Soldaten mit nach Hause bringt, hoffen sie nur noch auf das Glück, nicht entdeckt zu werden und als Vaterlandsverräter hingestellt zu werden. Doch bald bleibt ihnen kein Ausweg mehr: Pawel und seine Mutter Zofia, die er abgöttisch liebt, müssen gemeinsam in einer Scheune leben, verborgen im Wald, während Karol immer wieder abtaucht und sie vor der Öffentlichkeit versteckt. Viele Jahre später, der Krieg ist längst vorüber, leben Mutter und Sohn in Großbritannien und immer noch verbindet sie ein gemeinsamer Erfahrungsschatz. Doch so sehr sie sich auch bemühen, die Verbindlichkeit und Verpflichtung, die ihre enge Beziehung geprägt hat, wird nun erneut auf eine harte Probe gestellt.


Meinung


Nachdem ich im bereits „Die Farbe von Milch“ der englischen Autorin Nell Leyshon gelesen habe, war ich sehr gespannt auf den neuen Roman aus ihrer Feder, zumal mich hier sowohl der Schauplatz als auch die Hintergründe des Krieges, die dieses Buch verspricht, sehr angesprochen haben. Mir hat es auch um einiges besser gefallen, als der Vorgänger, obwohl sich beide Geschichten nur schwer miteinander vergleichen lassen und auch im Schreibstil nicht erkenntlich ist, dass sie von ein und derselben Person verfasst wurden.


Grundlegend unterteilt Nell Leyshon ihr Buch in drei große Abschnitte, die Zeit während des Krieges, in der sich die Familie Palinski noch in ihrem häuslichen Umfeld aufhält, die Zeit im Wald, die sich auf das Überleben einer Kleinstgruppe konzentriert und letztlich die Gestaltung der Gegenwart mit verdrehten Rollen, denn nun ist die Mutter gealtert und auf die Hilfe ihres Sohnes angewiesen. Während mir die ersten beiden Abschnitte richtig gut gefallen haben, nimmt der letzte einen doch entscheidenden Stellenwert ein, entfernt sich aber sehr von der ursprünglichen Geschichte. Die Gegenwartshandlung hat dann auch nicht meine Erwartungshaltung an das Buch erfüllt und bietet wenig Parallelen zum Titel und der Ausgangssituation.


Das Hauptaugenmerk dieser Geschichte beruht auf der Betrachtung einer Mutter-Sohn-Beziehung, die sich nicht nur auf eine bestimmte Lebensperiode konzentriert sondern sehr detailliert und umfassend die Gefühle der Beteiligten aufgreift und sich mit den Veränderungen innerhalb des Gefüges und der Zeit beschäftigt. Dabei wechselt auch das Verständnis des Lesers für die Emotionen der beiden Hauptprotagonisten. Während in Pawels Kindheit ersichtlich wird, dass sich der Sohn noch viel mehr um die Liebe seiner Mutter bemüht hat, diese aber nur partiell dazu im Stande war, die Bedürfnisse ihres Kindes zu erfüllen, zeigt sich, das in Pawels Erwachsenenleben nach wie vor eine Kluft zwischen den mütterlichen Bedürfnisse und denen des Sohnes klafft. Fast scheint es, als ob beide Parteien einander mehr Verantwortungsgefühl schenken als wahre Zuneigung und dieser Umstand erfüllt mich doch mit einer gewissen Traurigkeit, die allerdings mit dem Kriegsausbruch und seinen Folgen überhaupt nichts zu tun hat.


Der Schreibstil ist sehr unaufgeregt, eher still und eindringlich. Er verbreitet keine Dramen, keinen übertriebenen Aktionismus, sondern vielmehr die Entwicklung zweier Charaktere, die beide Kinder ihrer Zeit sind, die sich binden und lösen müssen, Hoffnungen begraben und Träume nicht verwirklichen können. Doch auch die neue Zeit bringt Herausforderungen, denen nicht jeder in gleichem Maße gewachsen ist.


Die Schwermut einerseits und der Wille zur Herausforderung andererseits sind auf jeder Seite spürbar, das macht die Erzählung sehr einheitlich und wirkungsvoll. Und obwohl die Distanz zwischen den echten Gefühlen und den erfolgten Taten doch sehr groß ist, empfinde ich diesen Roman auch als eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Thematik unerschütterlicher Verbindlichkeiten zwischen Kindern und Eltern. Füreinander da sein, sich um den anderen bemühen, aufeinander zugehen, miteinander entscheiden – alles ist möglich, wenn die Beteiligten auch einmal von ihren höchstpersönlichen Wünschen zurücktreten, um allen ein erträglichen Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Nell Leyshon bringt diese Kluft zwischen den egoistischen Wünschen eines Individuums und den auf Liebe basierenden Verzicht für einen anderen Menschen direkt und schnörkellos auf den Punkt. Auch wenn wir nicht alles verwirklichen können, was wir uns wünschen, so bleibt doch die Möglichkeit miteinander einen Teil des Weges zu gehen.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen nachdenklich stimmenden Roman über Mütter, Söhne und den Verlauf des Lebens ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten Einzelner. Die versprochene Geschichte habe ich aber nicht ganz gefunden, gerade die Episode des Krieges kam mir eindeutig zu kurz und scheint nur der äußere Rahmen zu sein, da habe ich mir im Vorfeld mehr historische Gegebenheiten erhofft. Empfehlenswert ist dieser zeitgenössische Roman für Leser, die sich mit einem vielschichtigen Beziehungsgeflecht auseinandersetzen möchten und die Einblicke in Eltern-Kind-Beziehungen wünschen. Zum Nachdenken regt das Buch an – besonders in Hinblick auf den Umgang mit Menschlichkeit, Verantwortung und Selbstverwirklichung. Mir hat es gut gefallen.

Veröffentlicht am 21.03.2019

Die Freiheit der leibeigenen Frau

Der Report der Magd
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„Es gibt mehr als nur eine Form von Freiheit, sagte Tante Lydia, Freiheit zu und Freiheit von. In den Tagen der Anarchie war es Freiheit zu. Jetzt bekommt ihr die Freiheit von. Unterschätzt sie nicht.“


Inhalt


Desfred ...

„Es gibt mehr als nur eine Form von Freiheit, sagte Tante Lydia, Freiheit zu und Freiheit von. In den Tagen der Anarchie war es Freiheit zu. Jetzt bekommt ihr die Freiheit von. Unterschätzt sie nicht.“


Inhalt


Desfred trägt wie Ihresgleichen nur auffallend rote Kleider und einen Schutzschirm um ihren Kopf. Sie ist die Dienerin des Kommandanten und bekommt die ehrenvolle Aufgabe, ihm ein Kind zu schenken, denn Nachwuchs ist das Fundament, auf dem der totalitäre fiktive Staat Gilead aufgebaut ist. Alle Frauen bekommen innerhalb der Gesellschaft eine Rolle zugeteilt und erfüllen entsprechend dieser ihre Pflichten und nutzen ihre Rechte. Alternativen gibt es keine, denn entweder man gliedert sich ein oder wird verbannt bzw. hingerichtet. Desfred lebt nun mit der Frau des Kommandanten Serena Joy und seinen Dienstboten in einem Haushalt und wartet auf ihre Befruchtung, erfolgt in einem streng reglementierten Geschlechtsakt unter Anwesenheit der Ehefrau. Doch ungeachtet der Vergangenheit, in der sie einen eigenen Namen hatte, einen eigenen Mann und eine Tochter, fügt sie sich in ihr Schicksal. Doch die Männer, die nun an ihrer Seite sind, wollen ebenso wie sie ein bisschen mehr Freiheit als ihnen zugestanden wird. So unternimmt Desfred in Anwesenheit des Kommandanten verbotene Ausflüge in elitäre Clubs und trifft sich heimlich mit dem Dienstboten Nick, der ihr nun endlich ein Kind machen soll, welches sie an die Ehefrau Serena abgeben muss, die sich nichts sehnlicher wünscht als ein gesundes Baby.


Meinung


Dieser Roman aus der Feder der aus Kanada stammenden Autorin Margaret Atwood hat nach seinem Erscheinen 1985 bereits für Furore gesorgt und zählt mittlerweile schon zu den Klassikern, die man gelesen haben sollte. Die Autorin selbst bezeichnet ihren Roman als spekulative Fiktion, die durchaus irgendwann zur Realität werden könnte. Beeindruckend wird die Geschichte aber weniger auf Grund der geschilderten Handlungen in einem totalitären Staat, davon gibt es zahlreiche ebenso gute Ideen und schriftstellerische Umsetzungen, sondern durch die Reflexion der Protagonistin, die hier ganz klar ein Vorher-Nachher-Szenario aufzeichnet, dessen Handlungen und Folgen sich erst nach und nach für den Leser offenbaren.


Zunächst bin ich mit dem Erzählstil nicht so richtig warm geworden, weil man eben nur Bruchstücke aus der Vergangenheit und Gegenwart erfährt – ein für mich mühseliges Unterfangen, weil einerseits nicht viel passiert, andererseits aber sämtliche Voraussetzungen für den Aufbau der Republik in Nebensätzen verpackt sind. Dieses Vorgehen fand ich für den Lesefluss insgesamt nicht vorteilhaft, manches bleibt eher bruchstückhaft und wenig greifbar. Zwar erfährt man schlussendlich sämtliche Hintergründe, doch dafür muss man wirklich genau lesen und sich in den Staat Gilead „eindenken“. Der Wechsel zwischen den Voraussetzungen und dem täglichen Leben erfolgt dann wieder abrupt und etwas ungelenk.


Doch nachdem ich mich in die Geschichte eingelebt hatte, entfaltet sich ein schockierendes, umfassendes Bild über die Thematik der Unterdrückung, die Kunst der Akzeptanz, der Wille zu Überleben und ganz allgemein die Frage, in wie weit kann der Einzelne einen derartigen Überwachungsapparat unterwandern und ihn zu seinen Gunsten lenken. Letztlich ist es eben doch keine reine Dystopie, sondern hat viele Parallelen zur Realität, wenn auch nicht bis ins letzte Detail. Doch der Grundtenor der staatlichen Reglementierung, der Überwachung und des abgeschafften Rechtssystems ist sehr glaubwürdig und lebensecht beschrieben. Der bleibende Eindruck, den dieser Roman hinterlässt, basiert auch auf der starken Protagonistin Desfred, die letztlich alles verloren hat, was ihr wichtig war und die nun gezwungen ist, sich anzupassen, selbst wenn ihr Bewusstsein dafür enorm geschärft und aufmerksam geworden ist. Letztlich bleibt sie nur eine Marionette im großen Spiel, die alles ertragen muss und was noch viel schlimmer ist, sie ist nur eine von Tausenden.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für eine schriftstellerische Leistung, die so vielschichtig und nahbar die Schrecken eines aus den Fugen geratenen Regimes vermittelt, dass man als Leser unweigerlich in den Bann des Geschehens gezogen wird. Ungeachtet der Tatsache, dass mich weder der Schreibstil noch die Lebensumstände der Personen wirklich gefangen genommen haben, so liegt der Mehrwert in den sich anschließenden Gedankengängen, die sich unweigerlich einstellen, wenn man versucht den Menschen hinter der Rolle wahrzunehmen. Die Faszination liegt hier im Detail, dort verbirgt sich auch eine tiefe Psychologie der menschlichen Seele, eine ungeahnte Milde gegenüber der Entwicklung und die verborgene Kraft im Herzen einer Frau. Wäre der Erzählstil geradliniger und die Zusammenhänge schneller greifbar gewesen, hätte ich sicherlich noch mehr Freude am Lesen gehabt, so schafft es dieses Buch für mich nicht ganz in die Top-Liga.