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Veröffentlicht am 20.03.2018

Der Vergleich zwischen lebendig und tot

Still Chronik eines Mörders
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„Der Tod nicht nur als Weg aus diesem Leben heraus, sondern als Lebensweg. Sich dort einbringen, wo dieses Dasein nicht allein durch die Beschwerlichkeit des Existierens zur Marter wird, sondern Bitterkeit ...

„Der Tod nicht nur als Weg aus diesem Leben heraus, sondern als Lebensweg. Sich dort einbringen, wo dieses Dasein nicht allein durch die Beschwerlichkeit des Existierens zur Marter wird, sondern Bitterkeit erfährt durch das Vorhandensein der Mitmenschen.“


Inhalt


Karl Heidemann, der als Baby nur schreit, weil er die Geräuschkulisse der Welt nicht erträgt, der seine Kindheit nach der erschreckenden Einsicht seiner Eltern in einem umgebauten Kellerraum verbringt und erst beim Selbstmord seiner Mutter an die Oberfläche kommt, entdeckt voller Faszination die Metamorphose zwischen lebendig und tot. Und ihm ist ausschließlich und endgültig klar, dass die Menschen einen großen Fehler begehen, wenn sie ihr Leben über die Schönheit, den Frieden, die Stille des Todes stellen. Wozu all das Aufbegehren, wenn doch die Erlösung erst mit dem Tod eintritt? Er beschließt nun selbst dafür zu sorgen, seinen Mitmenschen das Wunder des Sterbens näherzubringen, in dem er sich zum Mörder entwickelt. Und erst als er in seiner Jugend das taubstumme Mädchen Marie kennenlernt, die von ihrem gewalttätigen Vater misshandelt wird, tritt ein Motiv in sein Bewusstsein. Karl kann nicht nur töten, er wird sich auch rächen und er hat dafür alle Zeit der Welt.


Meinung


Thomas Raab, der erfolgreiche österreichische Autor, der sich mit seinen Kriminalromanen um den Restaurator Willibald Metzger einen Namen gemacht hat, entwirft mit seiner Chronik über einen Mörder, ein faszinierendes, tiefgründiges und beeindruckendes Porträt über einen verzweifelten Menschen, der einfach auf Grund eines körperlichen Defizits und daraus resultierender Fehler seiner Erzieher, eine dunkle Seite entwickelt hat, die er bald vielversprechender erachtet als ein Leben in der menschlichen Gemeinschaft. Und auch wenn sich dieser Thriller scheinbar an der Idee von Patrick Süßkinds Roman „Das Parfum“ orientiert, steht er diesem in nichts nach. Während hier der Hörsinn der Auslöser für die Geburt eines Mörders ist, war es dort der Geruchssinn und beide Bücher sind doch ganz einmalig und in ihrer Gesamtheit ein erschreckendes Bildnis über die Verfehlungen der menschlichen Seele.


Der Autor widmet sich intensiv und von Kindesbeinen an der Entwicklung des Karl Heidemann, so dass der Leser sehr gut die eigentlichen und die endgültigen Verfehlungen der Umgebung unterscheiden kann. Dabei wählt er eine distanzierte Erzählperspektive, die alles sehr objektiv und ohne Melodramatik auskommen lässt. Generell ein formschöner Satzbau, der Nachklang erzeugt und nicht auf Effekthascherei abzielt. Er legt Wert darauf zu zeigen, dass auch im landläufigen Begriff von „böse“ manchmal nur die Unkenntnis von „gut“ verankert ist und sich durchaus ein alternativer Lebensweg beschreiten lässt, sofern die äußeren Möglichkeiten gegeben sind. Und dieser Fakt ist das Besondere des Buches. Denn trotz der grausamen Handlungen des Täters, kommt man nicht umhin, in Karl einen Menschen zu sehen, der Gefühle hat, der sucht und Nähe finden möchte, dem aber die Still des Todes doch so angenehm erscheint, dass er sie dem Wirbel des Lebens vorzieht.


Thomas Raab vermag es, Mitgefühl und Verständnis heraufzubeschwören, dort wo eigentlich keines sein sollte. Er bedient sich gekonnt diverser Nebenfiguren, die Karl immer ein Stück des Weges begleiten, die ihn formen und prägen und dennoch nicht aufhalten können. Auch sein Schachzug mit der Liebe, die ganz plötzlich und unverhofft in Karls Leben tritt, ebnet den Weg hin zu einem Menschen, der sich Gedanken macht über den Sinn des Lebens und explizit über seine Stellung im Gefüge. Dieser Thriller, der mehr einer Studie der menschlichen Psychologie zu sein scheint, fängt so viele verschiedene Facetten ein, dass ich voller Begeisterung den Handlungsverlauf folgen konnte. Nie war es zu grausam, nie zu unverständlich, nie zu abstrakt, sondern eher wie eine fortwährende Spirale, die immer tiefer hinein in das Gedankengut eines Serienmörders führt.


Fazit


Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen ungewöhnlichen, tiefgründigen Thriller, der viele Elemente eines guten Spannungsromans beinhaltet und sich mehr mit dem Seelenleben des Einzelnen, mit einer persönlichen Geschichte voller Unwegbarkeiten auseinandersetzt, als mit dem Ergebnis selbst. Dabei greift die Erzählung auf vielfältige Grundsätze zurück und beschäftigt sich mit Motivation ebenso wie mit Abwehr, mit Liebe gleichermaßen wie mit dem Tod, mit fehlendem Gewissen und greifbarer Gewissheit. Karl Heidemann - dass Synonym für einen Mörder, der sein Leben der Stille gewidmet hat und doch nicht bewirken konnte, dass andere ihn restlos verstehen, selbst ich nicht als Leser, doch das tut dieser grandiosen Geschichte keinen Abbruch.

Veröffentlicht am 02.03.2018

Der Meister der Düfte

Das Parfum
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„Was er begehrte, war der Duft gewisser Menschen: jener äußerst seltenen Menschen nämlich, die Liebe inspirieren. Diese waren seine Opfer.“


Inhalt


Jean-Baptiste Grenouille kämpft sich ins Leben und ...

„Was er begehrte, war der Duft gewisser Menschen: jener äußerst seltenen Menschen nämlich, die Liebe inspirieren. Diese waren seine Opfer.“


Inhalt


Jean-Baptiste Grenouille kämpft sich ins Leben und nistet sich dort ein. Obwohl er von allen Menschen die ihm begegnen verachtet oder mit Argwohn betrachtet wird, gelingt es ihm zu einem hinreichend erwachsenen Jüngling heranzureifen und sich unbemerkt und wie eine Zecke solange an einen Wirt zu hängen, wie dieser ihm nützlich erscheint. Nur um sich dann still und leise auf den Weg zu noch Größerem zu machen und dabei eine Spur des Todes zu hinterlassen. Schon sehr früh sind ihm die Menschen seiner Umgebung verhasst, denn ihre Gerüche erzeugen bei ihm nur Ekel. Er hat das unbeschreibliche Talent, jedweden Gegenstand auf seine Geruchskomponenten zu reduzieren und nimmt seine Umwelt vielmehr durch die Nase als durch die Augen wahr. So verhilft er fast maroden Parfümerien und ihren Inhabern wieder zu Wohlstand und Ansehen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Sein Ziel ist es vielmehr einen Duft zu kreieren, bei dem alle Menschen verzückt sind und sich in der Liebe verlieren. Sein Plan ist die Gewinnung eines besonderen Parfums, welches ihm zum Glück verhelfen soll. Und er weiß auch schon, welche Komponenten er dafür benötigt. Doch der Liebreiz manifestiert sich olfaktorisch in jungen, rothaarigen Mädchen, die an der Schwelle zur Pubertät stehen und diese sind nicht so leicht einzufangen, wie pflanzliche Duftstoffe …


Meinung


Dieses Buch, war einst Schullektüre und ich habe es vor 20 Jahren bereits gelesen und hatte es als ein äußerst einprägsames Werk in Erinnerung. Nun konnte ich mich erneut davon überzeugen, dass Patrick Süßkind mit diesem ungewöhnlichen Buch ein wirklich faszinierender Kriminalroman gelungen ist, der vielmehr Reize anspricht als so manch anderes Buch. Denn hervorzuheben und immer wieder ausschlaggebend für die Bedeutsamkeit der Geschichte ist diese geniale Idee: Ein Mann ohne Duft, ausgezeichnet mit einem Wahnsinnstalent, ersinnt eine Wahnsinnstat und kann auf herkömmlichem Wege nicht gestoppt werden, da jeder der ihm begegnet, nicht ahnt, was seine wahren Beweggründe sind. Der Meister der Düfte begibt sich auf einen höchst persönlichen Feldzug und nimmt den Leser mit auf eine Reise durch Frankreich, die dieser nicht so schnell vergessen wird.


Im Zentrum der Erzählung steht Grenouille, als ein verachtenswerter Protagonist, der dennoch so genial wie gefährlich ist. Der Autor legt hier nicht nur großen Wert darauf, diesen verkümmerten Menschen zu beschreiben, sondern er ersinnt eine fulminante, derart fesselnde Handlung, die kraftvoll und äußerst mitreißend wirkt. Das Besondere ist dieses eigentümliche Zusammenspiel zwischen tatsächlicher Handlung, innerlicher Überlegungen des Handelnden und der sichtbaren Ausübung seiner Kunst. Als Leser wird man verschreckt und taucht dennoch immer tiefer ins Geschehen ein. Ein minimaler Kritikpunkt meinerseits ist das etwas haarsträubende Finale dieses großen, zeitgenössischen Romans, der einen finsteren Helden stilisiert. Wo endet das Leben, eines Mörders, dem prinzipiell alle Wege offenstehen? Und warum endet es so krass? Bei diesem Roman hätte ich mir zugegeben ein etwas verschwommenes, gern auch weniger dramatisches Ende gewünscht, eines was keinen Schlusspunkt setzt, sondern die Vermutung offenlässt, dass es noch nicht vorbei sein könnte …


Fazit


Ich vergebe volle Punktzahl für diesen sehr speziellen Roman der unmittelbar und sehr resolut, beschränkt auf wenige Faktoren und eine eher überschaubare Anzahl an Personen, das Grauen entwirft, dem man sich nicht entziehen kann. Es ist für mich ein großer Wurf des Autors, der dem Gedankengang des Lesers neue Impulse verleiht, der folgerichtig und objektiv schildert, was passieren könnte, wenn besagte Dinge tatsächlich zusammentreffen. Ich freue mich, dass ich dieses Buch nun in die Reihe meiner Must-Reads aufnehme, die ich getrost weiterempfehlen kann, weil sie mich definitiv überzeugen konnten.

Veröffentlicht am 31.01.2018

Ich wünsche mir einen Koffer

Bananama
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„Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wünschte ich mir, ich wäre alt und hätte Demenz. Ich fasste einen Entschluss: Ich würde von jetzt an versuchen, schnell alt zu werden und Demenz zu bekommen.“


Inhalt


Diese ...

„Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wünschte ich mir, ich wäre alt und hätte Demenz. Ich fasste einen Entschluss: Ich würde von jetzt an versuchen, schnell alt zu werden und Demenz zu bekommen.“


Inhalt


Diese Worte denkt ein 6-jähriges Mädchen, die mit ihren Eltern im selbsternannten „Bananama“ lebt, neben einem Wald, etwas außerhalb einer Stadt und mutterseelenallein. Ihre Eltern möchten anders sein und sich deutlich von der Gesellschaft abheben, eigentlich möchten sie mit niemandem mehr Kontakt haben, was ihnen auch ganz gut gelingt, denn außer dem Postboten kommt kein Besuch. Beide Elternteile leben ohne Berufstätigkeit, ohne Freunde und Familie in ihrer tatsächlich äußerst verkorksten, kleinen Welt. Die gemeinsame Tochter wird dann auch nicht mehr auf eine öffentliche Schule geschickt, sondern selbst unterrichtet. Dort lernt sie Begriffe wie Biomasse, ökologisches Gleichgewicht und Nachhaltigkeit genauer kennen, leider fehlt es an allen anderen elterlichen Gefühlen und so lernt die Protagonistin ohne Namen vor allem eins – was es heißt einsam und verlassen zu leben und von niemandem Zuwendung und Liebe zu erhalten. Und dann folgen auf tote Wörter tote Vögeln und auf diese auch noch tote Menschen. Für die Kleine zementiert sich ein surreales Weltbild, dem man nur mit drastischen Maßnahmen entkommen kann …


Meinung


Dieser absolut andersartige Roman aus der kreativen Feder der jungen deutschen Autorin Simone Hirth, bei dem die Grenzen zwischen echten Ereignissen und utopischen Handlungen verschwimmen, konnte mich von der ersten Seite an gefangen nehmen und entwickelt in seinem Verlauf nicht nur eine dramatische Entwicklung sondern auch eine bedrückende, zutiefst verstörende Stimmung, die immer dunkler und enger wird. So intensiv und verschreckend gleichermaßen, weil die Autorin bewusst eine Ich-Erzählperspektive wählt, um zu zeigen, wie es sich für ein kleines Mädchen anfühlt, vollkommen ungefragt in einem Umfeld aufzuwachsen, in dem scheinbar nur abstrakte Erziehungsziele gelten und alles „Normale“ außen vor bleibt. Ihre Eltern, zwei seltsame Aussteigertypen bilden eine eingeschworene Front gegen die natürliche Neugier des Mädchens, sie erklären nur das Nötigste, niemals geht es um innere Werte, immer nur um äußere Erscheinungen und obwohl die Kleine den vollen Zugang zur Welt ihrer Eltern hat, erscheinen ihr diese immer fremder und inkompetenter als alle anderen.


Zuflucht findet sie nirgends, weil keine Menschenseele nach Bananama kommt. Sie beginnt zunächst Wörter zu beerdigen, indem sie sie unter dem Walnussbaum vergräbt, dann kümmert sie sich um tote Vögel, die der Wind immer wieder an ihre Fensterscheiben wirft und die dann im Garten verenden. Doch als sie plötzlich zwei Tote im Beet entdeckt, denen ihre Eltern keinerlei Beachtung schenken und die ebenso schnell und ungefragt wieder verschwinden, wird ihr mit Erschrecken klar, dass die Welt ihrer Eltern längst nicht mehr ihre eigene ist.


Thematisch behandelt der Roman ein sehr breites Spektrum an Gefühlen, er polarisiert zunehmend und lässt den Leser nicht mehr los. Verzweiflung, Enge und Ausweglosigkeit sind ebenso spürbar wie Überforderung, Abkehr und Distanziertheit. Während die Erziehungsberechtigten ein ungewöhnliches, nicht ganz schlüssiges Leben führen, stirbt in ihrer Tochter immer mehr, ohne dass sie diese Entwicklung bemerken würden. Alles, was man sich für ein Kind wünscht, fast jedes Zuhause wäre ein besseres, doch „Bananama“ ist nur eine Endstation. Ein abgekapseltes Lebensmodell ohne Zuwendung, ohne Anteilnahme und geprägt von einer erschreckenden Unlust, die weder Vater noch Mutter überwinden können. Das Mädchen wird zum Klotz am Bein und bekommt das unmittelbar zu spüren. Was ihr bleibt ist ein Rest Phantasie, Hoffnung auf eine Zeit nach dieser Kindheit und irgendwann vielleicht ein Wechsel der äußeren Umstände. Doch irgendwann kommt sie auf die Idee, den Koffer, den sie sich sehnlichst wünscht, um ihn mit schönen Dingen füllen zu können oder auch um Schreckliches darin zu verwahren, auf ganz andere Art und Weise zu nutzen.


Fazit


Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen verstörenden, surrealen Roman, in dem sehr Vieles der Phantasie des Lesers überlassen wird, es gibt fast nie eine logische Erklärung, es gibt bis zum Schluss keine Antworten auf unendlich viele Fragen, stattdessen gibt es leere Wörter, leere Menschen und leere Koffer. In sich ein wunderbar geschlossenes Buch, in dem sich Handlung und Protagonisten treu bleiben, von dem man nicht erwartet, ja nicht einmal hofft, dass auch nur ein Wort des Geschriebenen wahr sein könnte und das lange nachhallt. Wer den Plot komplett verstehen möchte, wird hier leider enttäuscht, wer sich aber auf das wilde Gedankenspiel einlässt, kann zu zahlreichen Möglichkeiten gelangen, die man in dieser Art kaum irgendwo findet. Mir hat es sehr gut gefallen.

Veröffentlicht am 30.01.2018

Die Flucht oder der Wettlauf mit der Verzweiflung

Der Reisende
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„Und so wird es vielleicht immer weitergehen. Ich bin jetzt Reisender, ein immer weiter Reisender. Ich bin überhaupt schon ausgewandert. Ich bin in die Deutsche Reichsbahn emigriert. Ich bin nicht mehr ...

„Und so wird es vielleicht immer weitergehen. Ich bin jetzt Reisender, ein immer weiter Reisender. Ich bin überhaupt schon ausgewandert. Ich bin in die Deutsche Reichsbahn emigriert. Ich bin nicht mehr in Deutschland. Ich bin in Zügen, die in Deutschland fahren. Das ist ein großer Unterschied.“


Inhalt


Der wohlhabende Kaufmann Otto Silbermann verliert förmlich über Nacht sein gesamtes bisheriges Leben. Am 9. November 1938 in der Reichspogromnacht rücken Nazis bis in seine Wohnung vor und er flieht in letzter Minute durch den Hintereingang des Hauses. Auch sein bisheriger Firmenteilhaber Gustav Becker, der zwar offiziell kein Judenhasser ist, aber dennoch arischer Abstammung, bricht mit ihm. Zu gefährlich ist eine geschäftliche Verbindung mit dem Staatsfeind Nr.1. Silbermann erhält von seinem ehemaligen Freund noch 40.000 Reichsmark bar auf die Hand und soll sich damit gefälligst aus dem Staub machen, bevor er in Deutschland festsitzt und wie so viele andere in ein Konzentrationslager verfrachtet wird. Fortan ist Otto ein Getriebener, er lebt in den Zügen der Deutschen Reichsbahn und verhält sich möglichst unauffällig. Sein oberstes Ziel ist die Flucht aus Deutschland, doch nachdem er an der belgischen Grenze aufgegriffen wird, verwirft er diese Option. Er schwört sich nur eines, solange er noch Geld hat, kämpft er um sein Leben. Doch eines Tages wird sein Aktenkoffer mit den restlichen 30.000 Mark gestohlen und Otto sieht ein, dass er im Rechtsstaat seines Landes, radikal ausradiert wurde …


Meinung


Dieses Werk des mit bereits 27 Jahren verstorbenen Autors Ulrich Alexander Boschwitz, erschien bereits 1939 in England und wurde nun erstmals durch den Herausgeber Peter Graf auch in einer deutschen Fassung aufgelegt. In Erinnerung an eine Zeit voller Schrecken, in der es Menschen zweiter und dritter Klasse gab, ebenso wie Abteile in deutschen Zügen. Ein umfangreiches Nachwort des Herausgebers zeigt, dass Boschwitz selbst mit dem Regime ausreichend Erfahrung sammeln konnte und der vorliegende Text viele autobiografische Parallelen aufweist. Ein Grund mehr diesen Roman als wichtiges Zeitdokument zu deklarieren, eben weil die Empfindungen und Ereignisse nicht erfunden sind, sondern auf Fakten basieren. Auch dieser historische Hintergrund macht den Mehrwert des Buches aus, denn als Leser bekommt man hier nicht nur eine beängstigende Geschichte präsentiert, sondern ein aussagekräftiges Zeugnis einer menschenverachtenden Zeit.


Die Geschichte selbst wird als eine wahre Odyssee quer durch ein Land beschrieben, denn der Hauptprotagonist, ein anständiger, gewissenhafter Mensch mit ehrenhafter Überzeugung, kann es zunächst einfach nicht glauben, dass gerade er in einem Land, mit dem er sich eigentlich sehr verbunden fühlt, plötzlich zu den Ausgestoßenen zählen soll. Als Kaufmann ist ihm aber auch bewusst, dass ihn sein Vermögen möglicherweise retten wird, er erhofft sich zumindest eine kleine Chance. Doch die Realität trifft ihn mit voller Breitseite. Vermögend zu sein entwickelt sich zunehmend als Handicap, denn wohin soll er mit dem Bargeld?


Der Autor vermag es gekonnt die Sorgen von Otto Silbermann für den Leser lebensecht nachzuerzählen, man spürt die Sehnsucht nach Ruhe, den Wunsch nach einem friedlichen Leben aber auch den Überlebenswillen des Protagonisten. Mit jeder neuen Hürde wächst die Verzweiflung und bald ist auch der Leser ein Getriebener, denn man muss unbedingt wissen, welchen Ausgang diese dramatische Geschichte nehmen wird. Besonders hervorheben möchte ich die Nähe des Textes zum Leser an sich, denn man kann sich vortrefflich in die missliche Lage des Erzählenden hineinversetzen, es sind sehr einfache, äußerst plausible Sachverhalte, die den Handlungsverlauf vorantreiben. Und es sind auch interessante Menschen, die Herrn Silbermann in den Zügen begleiten und seinen Weg auf ganz unterschiedliche Art und Weise beeinflussen.


Dieser Roman ist ein Zeitzeugnis, ein Andenken und eine diskussionswürdige Geschichte zugleich, denn er berührt sowohl Menschliches als auch Historisches, er erzeugt zunächst eine zuversichtliche Grundhaltung, die sich jedoch nach und nach der Tristesse ihrer Zeit anpasst, aus Verständnis wird Unverständnis und letztlich Unvermögen, sich als Individuum ohne Fehl und Tadel dem verhärmten Zeitgeist zu entziehen. Und genau deshalb wirkt der Roman so nachhaltig, denn anhand einer kleinen Einzelgeschichte zeigt sich, wie es dem Mensch an sich im Nationalsozialismus mit all seinen Verblendungen ergangen ist und ebenso wird deutlich, dass der Jude Silbermann nur einer von unzähligen anderen war, ein Mensch unter Wölfen in einem Land jenseits einer moralischen Verantwortung.


Fazit


Ich vergebe sehr gute 5 Lesesterne, denn „Der Reisende“ konnte mich auf ganzer Linie überzeugen. Es ist ein gelungener Mix aus Historie, persönlichem Schicksal und aussagekräftiger Gesamterzählung. Ein leicht lesbarer Schreibstil und ein zeitlich klar strukturierter Handlungsverlauf erfreuen den Leser ebenso. Es ist kein großer, literarischer Wurf, den man erst nach mehrmaligen Lesen zu schätzen weiß, nein es ist die Geschichte des kleinen Mannes, der zur falschen Zeit am falschen Ort gefangen war und dessen innere Überzeugung sich nicht mit den Prämissen der äußeren Geschehnisse decken konnte. Ich habe es ausgesprochen gern gelesen.

Veröffentlicht am 23.01.2018

Der erbitterte Kampf im eigenen Käfig

Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens
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„Er sei froh, sagte er schließlich, dass er nur noch im eigenen Käfig kämpfe. Man wisse, wo er beginne und wo er ende. Das sei viel. Solange er außerhalb des eigenen Käfigs gekämpft habe, sei er im Draußen ...

„Er sei froh, sagte er schließlich, dass er nur noch im eigenen Käfig kämpfe. Man wisse, wo er beginne und wo er ende. Das sei viel. Solange er außerhalb des eigenen Käfigs gekämpft habe, sei er im Draußen immer mehr verloren gegangen, wo zugegeben vieles sein möge, die Fantasie, die Moral, das Abenteuer, der Ruhm nur eines eben nicht: er selbst, sein Kern.“


Inhalt


Der kurz vor der Pensionierung stehende Kriminalkommissar Ioan Cozma bekommt einen heiklen Fall zugeteilt. Ein junges Mädchen wurde brutal ermordet, angeblich von ihrem Liebhaber Adrian Lascu– doch schon bald wird klar, dass es zwischen dem Flüchtigen und dem Mordopfer gar keine sexuelle Beziehung gab, stattdessen finden sich an dem Opfer Spuren eines anderen Mannes. Und dieser wurde wahrscheinlich von Lascu beobachtet. Die Spur führt in die Heimat der Ermordeten, hinein ins beschauliche Prenzlin und Cozma erkennt, dass hinter dem Mord noch weit mehr steckt als ein persönliches Rachemotiv. Seine Ermittlungsarbeit deckt einen unmittelbaren Bezug zu einer ominösen rumänischen Firma auf, die immer wieder kleine Parzellen Agrarland von privaten Besitzern aufkauft, um diese gewinnbringend zu vermarkten. Das organisierte Verbrechen streckt diesmal seine Hand aus und wirft die Frage nach dem übergeordneten Plan und den Drahtziehern im Hintergrund auf. Cozma und sein gleichaltriger Kollege Cippo wühlen tief in den korrupten Machenschaften der Verantwortlichen und geraten bald selbst in die Schusslinie der Unberechenbarkeit …


Meinung


Der deutsche Erfolgsautor Oliver Bottini, der bereits mit dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde, konzentriert sich mit dem vorliegenden Roman auf ein dunkles Kapitel der jüngeren Vergangenheit, welches gesellschaftskritisch und sachlich inspiriert über Verbindungen zwischen europäischen Staaten berichtet und weit mehr Input bietet, als ein herkömmlicher Kriminalroman. Besonders intensiv und ungewöhnlich fand ich die Kombination aus persönlichen Schicksalen, Ermittlern mit Profil, Nebencharakteren mit dramatischen Lebensgeschichten und ganz generell dem Vorhandensein einer großen, erzählenswerten Geschichte.


Dieser stille, doch keineswegs spannungsarme Krimi, setzt den Fokus auf eine Hintergrundhandlung, die erst aus dem Zusammenspiel der Charaktere und deren Verfehlungen, sowie auf einer großen Gemeinsamkeit beruht. Einerseits sind da die Guten, die für Gerechtigkeit sorgen, die objektiv und unparteiisch handeln und mit Integrität aufwarten und zum anderen die Bösen, die sich mittels Macht und Gier auf jede Unwegbarkeit einlassen und voller Skrupellosigkeit vor Mord und Gewalt nicht zurückschrecken. Der Knackpunkt jedoch ist der, dass es der Autor vermag, glaubwürdige Charaktere zu schaffen, die Ecken und Kanten haben, die sich nicht immer geradlinig durchs Leben bewegen und denen man als Leser eine große Authentizität zuschreibt.


Besonders hervorheben möchte ich auch die Vielschichtigkeit, mit der Bottini aufwartet. Zwar spürt man durchaus die Ermittlungstätigkeit der Beamten und auch die Angst der Opfer, selbst die unglückliche Involvierung diverser Randfiguren, doch letztlich ist es das Geflecht aller Begebenheiten, die diesen Kriminalroman so gut und andersartig gestalten. Als Leser hat man das Gefühl, immer tiefer in eine Geschichte einzutauchen, die sich erst nach und nach in ihrer vollen Dimension entfaltet. Und so ist es nicht nur die einprägsame Sprache, die Nachhall bringt, sondern in erster Linie ein geradliniger, umfassender Plot, der sich nicht vordergründig auf Action und Gewalt stützt, dafür aber immer mehr vermittelt, als man es aus manch anderer kriminalistischer Erzählung gewöhnt ist.


Fazit


Ich vergebe 5 Lesesterne und eine unbedingte Leseempfehlung für diesen Kriminalroman, der mit leichter Hand eine bedrückende Geschichte der Menschen erzählt, der Gefühle wie Machtlosigkeit, Hoffnungsschimmer und Einsamkeit thematisiert und selbst Werte wie Freundschaft, Loyalität und Aufrichtigkeit aufgreift. Für mich eine belletristische Glanzleistung, die sich sehr positiv von anderen Romanen abhebt und einen unverwechselbaren Erzählton anschlägt. Für alle Leser, die Bücher mit Substanz mögen und sich gerne mit diversen Charakteren auseinandersetzen – eine gelungene Mischung, die mir lange in Erinnerung bleiben wird.