Journalisten: Die Sekundenzeiger der Weltgeschichte (Joachim Kaiser)
LebenssekundenAngelikas Herz schlägt für die Fotografie und sie möchte so gerne unvergessliche Momente für immer festhalten. Als sie bei der Detonation eines Blindgängers ihre beste Freundin verliert, ist natürlich ...
Angelikas Herz schlägt für die Fotografie und sie möchte so gerne unvergessliche Momente für immer festhalten. Als sie bei der Detonation eines Blindgängers ihre beste Freundin verliert, ist natürlich ein Bericht über das Unglück in der Zeitung zu finden. Das abgebildete Foto ruft in Angelika Wut und Groll hervor und sie schwört sich, dass es in Zukunft nur noch Fotos geben wird, die zwar Gefühle beim Betrachten hervorrufen, jedoch ohne jemanden bloß zu stellen oder zu verletzen. Zeitgleich wird in Ostberlin Christine in der "Talentschmiede" der DDR darauf getriezt, Leistung zu bringen und ihr Land bei den Olympischen Spielen zu vertreten. Die gnadenlose Maschinerie der SED-treuen Trainer macht auch nicht davor Halt, die jungen Menschen körperlich zu malträtieren und sie so über die Grenze ihrer Belastbarkeit zu treiben. Christine beginnt zu hinterfragen und eckt an.....
Mit "Lebenssekunden" hat Katharina Fuchs wieder einen grandiosen Roman geschrieben, der den Leser in die späten 1950er Jahre mitnimmt und sowohl das noch zerbombte Kassel als auch die um Wiederaufbau bestrebte DDR zeigt.
Man streift mit Angelika durch die Karlsaue, genießt die beeindruckenden Wasserspiele am Herkules und wird Zeuge einer Katastrophe, die nicht nur die Kasseläner, sondern auch den Leser bis ins Mark erschüttern. Das reißerische Foto in der Tageszeitung legt bei Angelika den Schalter um und ebnet ihr den Weg zu einer außergewöhnlichen Karriere als Fotojournalistin. Bis zum ersten Erfolg muss sie einige Hürden überspringen und doch lässt sie sich nie die Butter vom Brot nehmen, steht für ihre Überzeugungen ein und weiß sich in einer von Männern dominieren Berufssparte durchzusetzen.
Mit Christine erlebt man den harten Drill der DDR- Trainerschmiede und ich frage mich manchmal wirklich, ob diese Menschen kein Herz im Leib haben. Ihre Methoden sind grauenvoll, ja schon menschenverachtend und ich habe mehr als einmal die Zähne zusammengebissen, wenn Christine so viel körperlicher Schmerz zugefügt worden ist. Die Einblicke in die Trainings- & Wettkampfwelt einer Kunstturnerin zeigen ein ungeschöntes Bild von Leistungs- & Erwartungsdruck, Training bis zur Selbstaufgabe und Überstrapazieren der eigenen Leistungs- & Leidensfähigkeit.
Die Autorin erzählt abwechselnd aus dem Leben von Christine und Angelika und bietet so dem Leser ein breites Spektrum an Erlebnissen, deren Gemeinsamkeiten und Bedeutung für die Zukunft noch nicht zu erahnen sind, aber je mehr Kapitel gelesen sein, desto mehr werden die Zusammenhänge sichtbar und man inhaliert quasi die Seiten, weil der Schreibstil aufregend, fesselnd und unglaublich mitreißend ist.
Die politische Lage in Ost und West ist von Katharina Fuchs sehr gut recherchiert und für den Leser in dreidimensionalen Bildern aufbereitet. Die Lebensstationen und die damit verbundenen wichtigen Augenblicke werden von ihr wie mit einer Kamera für die Ewigkeit festgehalten, rufen Sympathie und Anteilnahme an den Schicksalen hervor und lassen den Leser zu einem Teil der Ereignisse werden.
Linientreue, Sehnsucht nach dem Liebsten, die Jagd nach dem besten Foto und letztendlich die prekäre Situation zwischen Ost und West sind nur wenige Schlagworte, die für den Leser hier aufwendig und mit Hingabe zu einer schicksalhaften Geschichte verarbeitet werden. Man hat das Gefühl, dass die Schreibende den Vorhang der Zeitgeschichte hebt und so den Leser in die Szenen schlüpfen lässt, um ein Teil der aufregenden Momente ihres Romans zu werden. Immer verbunden mit der Suche nach dem perfekten Foto, um die Sekunden der Weltgeschichte mit all ihren Emotionen und Ereignissen für immer festzuhalten und in das Herz des Leser einzubrennen.
Für mich ist "Lebenssekunden" noch einen Hauch besser als die Vorgänger und beschert mit ganz großes Kino.