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Veröffentlicht am 15.07.2018

Spannender Post-Brexit-Thriller

Die Lieferantin
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Die Fronten in Zoë Becks aktuellem London-Thriller „Die Lieferantin“ sind von Anfang an klar definiert:

Auf der einen Seite stehen die alten Drogendealer, die klassische Unterwelt. Sie verkaufen ihre ...

Die Fronten in Zoë Becks aktuellem London-Thriller „Die Lieferantin“ sind von Anfang an klar definiert:

Auf der einen Seite stehen die alten Drogendealer, die klassische Unterwelt. Sie verkaufen ihre meist gestreckte) Ware vor allem auf der Straße. In ihrem Milieu herrscht Gewalt. Einschüchterung, Schutzgelderpressung und Auftragsmorde gehören zum Alltag.

Auf der anderen Seite steht Ellie Johnson, die online nur anonym als „die Lieferantin“ auftritt. Sie bringt den Drogenhandel ins Zeitalter der Digitalisierung. Wer ihre (hundertprozentig reine) Ware beziehen möchte, lockt sich ins Darknet ein, lädt sich anschließend ihre App herunter und erhält die Drogen per Drohne.

Diese beiden Seiten prallen im Buch auf spannende Weise aufeinander. Gleichzeitig schafft Zoë Beck einen interessanten politischen Hintergrund für ihren Thriller, in den sie die Rivalen einbettet: Wir befinden uns in der nahen Zukunft in einer Welt kurz nach dem Brexit. Wohnungskrise, ein schlechtes Gesundheitssystem und gewalttätige Ausschreitungen prägen Großbritannien. Die Regierung plant eine Verschärfung der Drogengesetze und will unter anderem die Unterstützung und Versorgung von Abhängigen beenden. Über diesen sogenannten Druxit soll das britische Volk demnächst in einem Referendum abstimmen.

Das gruslige an diesem fiktiven Szenario ist, dass ich mir ohne Probleme vorstellen kann, das es in der Realität passieren könnte. Zoë Beck hat das aktuell angespannte politische Klima sehr gut charakterisiert und treibt es auf die Spitze.

Die Lieferantin verbindet ihren Drogenverkauf mit sozialem Aktivismus, denn der Erlös finanziert zum Teil die Anti-Druxit-Kampagne. Es klingt paradox, dass der illegale Verkauf von Drogen die Legalisierung dieser erreichen soll. Diese Widersprüche machen den Thriller zu einem komplexen, gesellschaftskritischen Werk. Hier stehen sich nicht einfach nur Gut und Böse gegenüber, sondern vielschichtige Charaktere, die ihre eigene Agenda verfolgen.

Veröffentlicht am 15.07.2018

Teuflisch kreatives Lesevergnügen

Als der Teufel aus dem Badezimmer kam
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Sophie Divry spielt in diesem ungewöhnlichen und kreativen Roman mit Sprache und Typographie und es macht unglaublich viel Spaß, ihren Experimenten zu folgen.

Die Geschichte ist nicht besonders komplex: ...

Sophie Divry spielt in diesem ungewöhnlichen und kreativen Roman mit Sprache und Typographie und es macht unglaublich viel Spaß, ihren Experimenten zu folgen.

Die Geschichte ist nicht besonders komplex: Die Protagonistin Sophie ist seit mehreren Jahren arbeitslos und pleite. In ihrem Beruf als Journalistin findet sie keine neue Anstellung. Als ihr die monatliche Grundsicherung plötzlich nicht ausgezahlt wird, versucht sie sich auf verschiedenen Wegen über Wasser zu halten. Die bedrückende Realität der sozial Abgehängten zwischen Armut, Scham und Isolation veranschaulicht die Autorin nachvollziehbar, trotzdem wird sie dabei nicht sentimental. Im Gegenteil: Selbst traurige und tragische Momente geht sie mit einer bewundernswerten Leichtigkeit an, wobei sie immer besondere Momente im Alltäglichen findet und diese mit Humor analysiert.

Die Handlung wird immer wieder auf teils absurde Weise unterbrochen. Da schweift die Ich-Erzählungen mit den Gedanken ab und erstellt lange Listen. Der titelgebende Teufel erscheint plötzlich oder Sophie stellt sich vor, was ihre Mutter oder ihr Kumpel Hector zu ihren Erlebnissen sagen würden. In weiten Teilen liest sich der Roman daher wie ein irrer Gedankenstrom. Das ist extrem unterhaltsam. Dank des lustvollen Umgangs der Autorin mit Sprache wird das Buch so zu einem kleinen Kunstwerk.

Veröffentlicht am 15.07.2018

Harry Holes 11. Fall

Durst
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Harry Hole ist zurück, obwohl es zunächst nicht danach aussieht: Er hat den aktiven Polizeidienst aufgegeben, unterrichtet jetzt an der Polizeihochschule und liebt seinen Job trotz schlechter Bezahlung. ...

Harry Hole ist zurück, obwohl es zunächst nicht danach aussieht: Er hat den aktiven Polizeidienst aufgegeben, unterrichtet jetzt an der Polizeihochschule und liebt seinen Job trotz schlechter Bezahlung. Seit drei Jahren ist er glücklich verheiratet und lebt mit seiner Frau abgeschieden in einem großen Haus. Er ist nüchtern und körperlich – bis auf einige Spuren aus der Vergangenheit – in guter Verfassung. Doch in dieser ländlichen Idylle holt ihn seine Vergangenheit ein. Der einzige Serienmörder, den Hole nie fassen konnte, scheint wieder aktiv zu sein und das noch aggressiver als früher: Der Mörder ist Vampirist und trinkt das Blut seiner Opfer.

Jo Nesbø schafft es ohne Mühe, die Geschichte über mehr als 600 Seiten fesselnd zu gestalten. Der Fall ist viel komplexer, als er zunächst erscheint. Nach und nach geraten immer mehr Menschen aus Holes Umfeld in den Verdacht, etwas mit dem Serientäter zu tun zu haben und mitschuldig zu sein. Der Autor führt den Leser geschickt an der Nase herum und hält so die Spannung aufrecht. Das Ende hat mich wirklich überrascht.

Ein weiterer Pluspunkt sind die vielschichtigen Charaktere, allen voran natürlich der Protagonist. Harry Hole kämpft nicht nur gegen den Täter, sondern auch dagegen, nicht in alte Gewohnheiten zurück zu verfallen. Als seine Frau wegen einer mysteriösen Krankheit in ein künstliches Koma versetzt wird, scheint er jeden Halt zu verlieren. Daraus entstehen viele emotionale und spannungsgeladene Momente und Wendungen.

Im Klappentext wird betont, dass der Täter seine Opfer über Tinder zu finden scheint. Das fand ich eine sehr spannende Idee, allerdings spielt dieser Aspekt letztendlich nur eine sehr kleine Rolle im Roman. Davon hatte ich mir mehr erwartet. Der Rest des Krimis tröstet aber schnell darüber hinweg.

Veröffentlicht am 15.07.2018

Ein Buch, das viele unangenehme, aber wichtige Fragen aufwirft

Ein mögliches Leben
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Hannes Köhler erzählt eine leise Geschichte, die immer wieder kurz von lauten, brutalen Blitzen aufgebrochen wird. Die Handlung spielt auf zwei zeitlichen Ebenen: Der Gegenwart und der Zeit während des ...

Hannes Köhler erzählt eine leise Geschichte, die immer wieder kurz von lauten, brutalen Blitzen aufgebrochen wird. Die Handlung spielt auf zwei zeitlichen Ebenen: Der Gegenwart und der Zeit während des Zweiten Weltkriegs. Vermutlich hat der Krieg in vielen deutschen Familien ähnliche Spuren hinterlassen, wie das in „Ein mögliches Leben“ der Fall ist.

Drei Generationen sind von der Geschichte betroffen: Franz, seine Tochter Barbara und sein Enkel Martin. Sie alle verbindet eine eher oberflächliche Beziehung. Martin weiß wenig über die Vergangenheit seines Großvaters, sie stehen sich freundlich gegenüber, sind sich aber nicht besonders nahe. Sprachlich wird das schnell deutlich, da der Er-Erzähler Franz wiederholt als der „Alte“ bezeichnet, wenn er die Beziehung von Martin oder Barbara zu Franz beschreibt. Für mich drückt das emotionale Distanz aus. Die Familie kommt sich näher und reißt gleichzeitig alte Wunden auf, als Martin und Franz in die USA nach Texas und Utah an Orte aus der Vergangenheit von Franz reisen.

In der zweiten Handlungsebene wird Franz als junger Soldat während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich von US-amerikanischen Truppen gefangen genommen und landet als Kriegsgefangener in einem Lager in Texas. Die Amerikaner behandeln die Deutschen als homogene Truppe und erwarten daher keine großen Probleme. Die meisten von ihnen sind jung und stürzten sich – überzeugt von der Propaganda des Dritten Reiches – in den Krieg. Doch die Erfahrungen im Gefecht und in Gefangenschaft teilen die Kameraden schnell in zwei Gruppen: Die eine glaubt weiterhin fanatisch an den Nationalsozialismus und schwört Hitler ewige Treue. Die andere beginnt am Krieg und am Nationalsozialismus zu zweifeln, verfolgen liberalere Ideale. Da die Nazis im Lager jedoch äußerst gewaltbereit sind und sich bereits beim kleinsten Verdacht gegen die eigenen Kameraden wenden, halten diese ihre Treffen im Geheimen ab und versuchen ihre Zweifel und Gesinnungswechsel zu verbergen. Eine Ausnahme ist der deutsch-amerikanische Gefangene Paul, der sich aus Überzeugung freiwillig für den Kriegseinsatz in der deutschen Armee gemeldet hat. Er ist Franz‘ bester Freund in Gefangenschaft und arbeitet dort als Dolmetscher. Da ihn der Kriegseinsatz völlig desillusioniert hat, unterstützt Paul die Amerikaner heimlich dabei, Nazis unter den Gefangenen zu identifizieren – auch wenn er einigen seiner Kameraden in den Rücken fällt.

Franz hat Angst vor den Konsequenzen dieser Art des Handelns, doch Paul sagt ihm in einem denkwürdigen Moment: „Irgendwann muss man sich einfach entscheiden und die Konsequenzen tragen. Eine Seite. Eine Meinung. Man kann sich nicht immerzu raushalten.“ (S. 166)

Damit wirft er eine spannende moralische Frage auf, die alle Täter und Mitläufer im ganzen Naziregime betrifft (und die auch heute wieder brandaktuell erscheint): Darf man sich aus Angst um die eigene Sicherheit aus aktuellen Konflikten heraushalten, darf man still bleiben und nicht wiedersprechen, obwohl man mit aktuellen Geschehnissen nicht einverstanden ist? Natürlich gibt es darauf keine einfache Antwort. Weder Feigheit noch totale Selbstaufgabe führen in dieser Situation zum Ziel.

Wie kompliziert eine Entscheidung um die eigene (offene, nicht heimliche) Haltung ist, verdeutlicht der Autor an den beiden Freunden: Der risikoscheue, eingeschüchterte Franz steht dem selbstbewussten, von seinem moralisch korrekten Handeln überzeugten Paul gegenüber. Nur einer von beiden verlässt das Lager unversehrt. Als Franz nach Utah verlegt wird, ist er deutlich gereift. Hier folgt er Pauls Vorbild, meldet sich als Übersetzer und unterstützt die Amerikaner.

Ich fand dieses Buch besonders spannend, da es ein komplexes moralisches Thema anspricht. Darf man mit den Tätern Mitleid haben? Kann sich ein Soldat, der im Namen eines Unrechtsregimes Menschen getötet hat, durch moralisches Handeln rehabilitieren?

Ich muss zugeben, dass ich bisher nur wenig über die Erfahrungen deutscher Kriegsgefangener in den Lagern der Alliierten gewusst habe. Laut dem Roman wurden diese Lager entsprechend der Genfer Konvention geführt. Das steht im starken Kontrast zu den deutschen Konzentrationslagern, wo Menschen unter unwürdigen Bedingungen leben und sterben mussten. Daher war mein erster Impuls beim Lesen von Franz‘ Erfahrungen zugegebenermaßen: Ist das wirklich wichtig? So viele Menschen haben im Krieg wesentlich Schlimmeres erlebt…

Der Autor beschreibt ausführlich, wie die Gefangenen mit dem Schiff in New York eintreffen, wie sie in Zügen mit Betten (nicht in Viehwagen) die USA durchqueren und wie sie immer ausreichend Nahrungsmittel haben. Einer der Deutschen bricht beim Anblick der vollen Teller gar in Tränen aus. Aber gleichzeitig leben die Männer eben nicht selbstbestimmt, sondern in einem von Stacheldraht eingezäunten Lager. Sie müssen teils bei der Kartoffel- und Baumwollernte harte körperliche Arbeit erledigen. Sie vermissen ihre Familie und Freunde. Sie sind weit weg von Zuhause. Aber eben auch weit weg von einem Kontinent, der vom Krieg zerstört wird. Und keiner der Gefangenen ist unschuldig; alle wurden im Gefecht gefangen genommen.

Hannes Köhler nimmt sich hier einer schwierigen Grauzone an: Menschen können von meisterhaften Manipulatoren zu irrsinnigen Entscheidungen wie einem freiwilligen Einsatz als Soldat verführt werden. Das spricht sie nicht von Schuld und von der Verantwortung für ihre Handlungen frei. Aber Menschen können gleichzeitig die Entscheidung treffen, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben und nicht in der Opferrolle zu verharren.

Veröffentlicht am 15.07.2018

Gesellschaftskritischer Roman nah am Puls der Zeit

Leere Herzen
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Die Welt im Jahr 2025: Die EU zerbricht immer mehr. In Deutschland ist eine nationalistisch geprägte Partei an der Macht, die demokratische Rechte immer weiter einschränkt. Das bedingungslose Grundeinkommen ...

Die Welt im Jahr 2025: Die EU zerbricht immer mehr. In Deutschland ist eine nationalistisch geprägte Partei an der Macht, die demokratische Rechte immer weiter einschränkt. Das bedingungslose Grundeinkommen wurde eingeführt und es gibt eine Bundeszentrale für Leitkultur.

In diesem rauen politischen Klima führen Britta und Babak ihre psychologische Praxis „Die Brücke“, die mit selbstmordgefährdeten Menschen arbeitet. Britta rationalisiert ihre Arbeit als nützlich für die Gesellschaft und sieht sich ganz pragmatisch und gefühllos als einfache Dienstleisterin. Dass einige Aspekte der Brücke dabei höchst unethisch sind, lässt sie kalt. Erst als sie selbst in Gefahr ist, beginnt Britta sich selbst zu hinterfragen.

Juli Zeh entwirft ein schockierendes Szenario, das in der nahen Zukunft spielt und sich teilweise sehr real anfühlt. Sie zeigt, wie wenig demokratische Prinzipien garantiert sein können, die wir eigentlich als selbstverständlich wahrnehmen. Damit wird der Roman hochaktuell. All das packt sie in eine fesselnde Handlung, wobei sie einen dichten Erzählstil verwendet.