Profilbild von luisa_loves_literature

luisa_loves_literature

Lesejury Star
offline

luisa_loves_literature ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit luisa_loves_literature über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 14.03.2022

Das Paradies ist der Weg dorthin

Zum Paradies
0

„Zum Paradies“ habe ich mich aufgemacht und dabei festgestellt, dass es unerreichbar ist, der Mensch auf seinem Weg dorthin zum Scheitern verurteilt ist und in seiner Erkenntnis dieser Tatsache und seines ...

„Zum Paradies“ habe ich mich aufgemacht und dabei festgestellt, dass es unerreichbar ist, der Mensch auf seinem Weg dorthin zum Scheitern verurteilt ist und in seiner Erkenntnis dieser Tatsache und seines trotzigen anhaltenden Strebens nach Glückseligkeit vielleicht das eigentliche irdische Paradies liegt. Dass der Weg „Zum Paradies“ ein steiniger ist, macht Hanya Yanagihara in ihrem wuchtigen, komplexen und fast 900 bibeldünne (übrigens ein schöner haptischer Verweis auf die möglichen Bezüge des Romans zur Religion) Seiten umfassenden Werk deutlich. In drei Büchern, die jeweils 1893, 1993 und 2043/2093 spielen, verfolgt sie das Leben von David, Charles/Charlie und Edward. Nicht nur die Protagonisten teilen sich auf den verschiedenen Zeitebenen die Namen, auch die Nebenfiguren erhalten immer wieder dieselben Bezeichnungen, sind aber mitnichten identisch. Jeder David, jeder Charles ist eine distinkte Figur, die lediglich durch eine vage durchscheinende Schicksalsverbindung oder Überschneidung in der Figurenkonzeption miteinander verbunden sind. Hier liegt eine Stärke und Schwäche des Romans, der lose Zusammenschluss der einzelnen Bücher und der Figuren lässt Raum für unzählige Lesarten und komplexe Interpretationsmöglichkeiten, allerdings sind die Vernetzungen zeitweise so vage, dass man sich doch auch einen etwas stärkeren roten Faden, eine höhere Belastbarkeit der Hinweise gewünscht hätte. So taumelt man manchmal durch die Komplexität der Geschichte und rätselt über nebulöse Bezüge, die eventuell keine sind.

Die Figuren sind sehr komplex, mit viel Innenschau und Tiefe ausgestattet, ausufernden Backstories und vielen Wünschen und Hoffnungen. Anstrengend und auf die Dauer zermürbend ist allerdings die sehr stark ausgeprägte Passivität und Unentschlossenheit der jeweiligen Hauptfigur eines Abschnitts. Sicher stellt diese mangelnde Aktivität ein wesentliches Bindeglied zwischen den einzelnen Büchern da, aber zu viel Prokrastination und Abwarten kann auf Dauer sehr ermüdend, wenn nicht gar aufreibend sein. Eigentlich geschieht dem jeweiligen Protagonisten nur etwas, echte, unabhängige Aktion sucht man fast vergeblich.

Von den drei Zeitebenen hat mich die erste am meisten beeindruckt. Sie ist nicht nur richtig gut geschrieben, sondern auch in sich ausgezeichnet konzipiert. Während der Lektüre geht einem nach und nach auf, dass man es mit einer alternativen Wirklichkeit des Jahres 1893 zu tun hat. Die Freistaaten, ein unabhängiger Teil der USA, im Nordosten der USA, erlaubt und fördert konsequente Gleichberechtigung und gleichgeschlechtliche Ehen bei gleichzeitiger Durchsetzung einer äußerst rigiden Klassengesellschaft. Es ist eine Herausforderung und Freude, sich in diese neue Version eines späten 19. Jahrhunderts einzufinden, beim Lesen die Konventionen, Regeln und die Geschichte dieser neuen Welt herauszufiltern.
Das zweite Buch zeichnet sich leider durch sehr viel Langatmigkeit, überflüssige Ausführungen und Passivität aus. Besonders der Teil der auf Hawai’i spielt, hätte um mindestens die Hälfte gekürzt werden können. Die gesamte Innovation, der Fortschritt und die Experimentierfreudigkeit des ersten Buches versinken in diesem Teil in ausgedehnten Innensichten, die trotz alledem zu nicht wirklich nachvollziehbaren psychologischen Verfasstheiten führen, in einer Geschichte, die irgendwie bieder und uninspiriert wirkt. Das dritte Buch beschert dem Lesevergnügen wieder einigen Aufwind. 2043/2093 bietet viel Fläche für Fantasie und Zukunftsvision und vor allem Spannung. Allerdings haben mich auch hier einige Dinge gestört. So ist die Erzählweise, selbst bei Berücksichtigung der eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten der Erzählinstanz in diesem Teil etwas holprig. Die Rahmenbedingungen eines Lebens im Manhattan der Zukunft lesen sich schulreferatsmäßig und haben den Charme eines Wikipedia-Eintrags, während die Briefe aus den Jahren rund um 2043 einmal mehr viel zu lang sind und die Geduld des Lesers auf die Probe stellen. Darüber hinaus ist dieses Buch inhaltlich anstrengend, da es eine Zukunft in persönlicher Unfreiheit, die an Orwells „1984“ angelehnt ist, ausmalt, in der die Menschheit von einer Quarantäne in die nächste Pandemie gleitet. Im Angesicht der derzeitigen Situation ist das nicht unbedingt mein präferiertes dystopisches Szenario – und ich mag Dystopien durchaus.

Insgesamt ist „Zum Paradies“ ein forderndes, anspruchsvolles und auch tolles literarisches Werk, dass aber an einigen Stellen schwächelt. Es gewinnt definitiv durch eine gedankliche, tiefere Auseinandersetzung, den Aufwand seitens des Lesers Spiegelungen und Verbindungen zu suchen und zu finden, die beim einfachen Lesen nicht unbedingt zu erkennen sind, weshalb sich der Roman besonders auch für Lesegruppen eignet.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 18.02.2022

Intensive Innenschau

Das Vorkommnis
0


Es gibt manchmal Texte, die einen leer und zugleich übervoll zurücklassen. "Das Vorkommnis" gehört dazu. Der Roman fordert den Leser auf einigen Ebenen heraus und thematisiert Probleme und Gedanken, die ...


Es gibt manchmal Texte, die einen leer und zugleich übervoll zurücklassen. "Das Vorkommnis" gehört dazu. Der Roman fordert den Leser auf einigen Ebenen heraus und thematisiert Probleme und Gedanken, die einem nur allzu bekannt vorkommen, denen man sich aber nur sehr bedingt in dieser Intensität aussetzen möchte.
Die Erzählerin wird durch das Vorkommnis - ein wunderbares Wort, das sowohl Zäsur als auch Banalität suggeriert - aus der Bahn geworfen. Sie trifft ihre Halbschwester, von der sie irgendwie ahnte, aber nicht wirklich wusste, und deren Zugehörigkeit zu ihr nur dadurch besteht, dass der Vater der Erzählerin sich auf der Geburtsurkunde hat eintragen lassen. Bewiesen ist die Verwandtschaft also nicht. Dennoch beginnt die Erzählerin durch die Existenz dieser möglichen neuen Schwester alles zu hinterfragen, ein auf der Spitze fast paranoides Misstrauen sich selbst und anderen gegenüber zu empfinden, den Wert von Erinnerungen auszutesten und ein Leben in Gedankenspiralen und Grübeleien zu führen.

Im Alltag der Erzählerin passiert eigentlich nichts Spektakuläres. Auslandsmonate in den USA ziehen an ihr vorüber, aber sie scheint nur zu funktionieren, während sie sich ihrem eigenen Denken immer stärker annähert, ihr Dasein und ihre Beziehungen in Zweifel zieht.

Als Leser hat man es mit der Erzählerin schon recht schwer, denn sie ist so in sich selbst verstrickt, in einer konstanten Auseinandersetzung mit sich, dass kein Raum für "normales Leben" bleibt. In ihrem Hadern und Hinterfragen schwankt sie zwischen Teilnahmslosigkeit und Selbstzerstörung. Auch wenn auf diese Weise eine Identifikation mit der in ihrer Selbstwahrnehmung schonungslosen und fast schon brutalen Erzählerin ausgeschlossen wird, der Leser konsequent auf Distanz gehalten wird, kann man sich doch einer Betroffenheit nicht entziehen, denn der Roman bewirkt auch beim Leser eine Auseinandersetzung mit den Konzepten von "Vergänglichkeit" und "Erinnerung", mit der Fragestellung, was passiert, wenn alles, worauf man vertraut, umgestoßen wird.

Der Text ist mitnichten positiv oder fröhlich, im Gegenteil, es handelt sich um einen extrem intensiven, sehr dichten und (emotional) fordernden Text, dessen Schluss für den aufmerksamen Leser eine unglaublich gelungene Überraschung im Hinblick auf Lesererwartungen und Gattungszugehörigkeit bietet. Ich bin nicht restlos begeistert, es ist einfach kein schönes Buch, aber trotzdem ein gutes. Ein Lesetipp für alle, die viel Nachdenken, intensive Auseinandersetzungen und Selbstsektion zu schätzen wissen und sich auf das Abenteuer der Autofiktion einlassen wollen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 24.11.2021

Frauenfreundschaft und Käferjagd

Miss Bensons Reise
0

Mit Miss Benson und Enid Pretty auf Käfer-Expedition in Neukaledonien zu gehen, ist ein großes Vergnügen mit hohem Unterhaltungswert, was wohl vor allem dem ungleichen paar Frauen geschuldet ist, dass ...

Mit Miss Benson und Enid Pretty auf Käfer-Expedition in Neukaledonien zu gehen, ist ein großes Vergnügen mit hohem Unterhaltungswert, was wohl vor allem dem ungleichen paar Frauen geschuldet ist, dass sich im Verlaufe des Romans zusammenrauft und eine tiefe, warmherzige Freundschaft eingeht, von der beide in äußerst positiver Weise profitieren. Auch wenn Margery und Enid in ihrer Figurenzeichnung manchmal schon fast karikaturhafte Züge besitzen, kann die einnehmende Geschichte doch über weite Teile gut amüsieren und fesseln. Dies gelingt besonders im ersten Teil, in dem die Expeditionsvorbereitungen und die eigentliche Anreise zum Zielort im Mittelpunkt stehen. Hier wird viel Abwechslung geboten, die Hintergrundgeschichte zu Margery und das mühsame Aneinandergewöhnen der beiden Protagonistinnen sind gut beobachtet und mit leichter Hand witzig geschrieben. Im eigentlichen Neukaledonien-Teil gibt es dann doch ein paar Längen, auch weil der humorvolle Schreibstil und die stark typenhafte Konzeption der Figuren sich abnutzen und dafür sorgen, dass man die Geschichte nicht mehr so recht ernst nehmen kann. Dennoch: die lebendigen und anregenden Dialoge, das Hinwegträumen an einen fernen Ort und der zeitliche Rahmen der 50er Jahre machen den Roman insgesamt zu einem sehr heiteren Leseerlebnis, das schlussendlich jedoch von einem melodramatischen und nicht recht zum Gesamtkonstrukt des Romans passenden Ende überschattet wird.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 19.09.2021

Was wären wir ohne Sprache?

Die Sprache des Lichts
0

Mit Margarète, einer katholischen Spionin, Edward Kelley, einem englischen Tunichtgut, und Jacob Greve, einem unscheinbaren Sprachgenie, reist die Leserschaft durch das von Religionsstreitigkeiten erschütterte ...

Mit Margarète, einer katholischen Spionin, Edward Kelley, einem englischen Tunichtgut, und Jacob Greve, einem unscheinbaren Sprachgenie, reist die Leserschaft durch das von Religionsstreitigkeiten erschütterte Europa der Renaissance und erfährt unglaubliche Dinge über Sprachfaszination, -begeisterung und -besessenheit.

Der schier unglaubliche Detailreichtu, mit der die Welt und Liebe zur Sprachvielfalt in diesem Roman umfassend recherchiert zur Darstellung gebracht werden, ist die absolute Stärke des Romans. Die Besonderheiten von Sprache(n), ihre Macht und ihre Funktion als verbindendes und trennendes Mittel, werden bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet und begeisternd und inspirierend transportiert. Der Roman gewährt nicht nur Einblicke in andere Sprachsysteme, sondern zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie abhängig der Mensch von Sprache und Sprachwissen ist.

Dieses Thematik ist eingebettet in eine sehr überzeugende und genau kontextualisierte Renaissance-Welt, die einen atmosphärischen Rahmen für die abwechslungsreiche, mit vielen Ortswechseln verbundene, Handlung bietet, die zeitweise auch mal einem Schelmenroman entsprungen zu sein scheint.

Trotz all dieser sehr positiven Punkte, schwächelte der Roman für mich jedoch zeitweise im Bereich der Figurenzeichnung und zum Ende hin auch in der Handlungskonstruktion. Die Figuren werden teilweise von der Last der Informationsvergabe erdrückt und erhalten nur wenig Möglichkeiten der freien Entfaltung, sodass der Leserschaft eine emotionale Nähe verwehrt bleibt. Der Schluss erscheint dann recht konstruiert und fast etwas pathetisch.

Dennoch ist und bleibt dieser historische Roman eine anspruchsvolle und intelligente Schleckerei für Menschen mit Sprachbegeisterung, die einen sehr viel klüger macht.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 09.09.2021

Frauen(über)leben

Der silberne Elefant
0

Eigentlich wollte ich den Roman gar nicht mehr lesen, nachdem ich schon viel an negative und durchwachsene Kritik gelesen hatte, aber zum Glück mache ich mir doch immer ganz gern ein eigenes Bild und das ...

Eigentlich wollte ich den Roman gar nicht mehr lesen, nachdem ich schon viel an negative und durchwachsene Kritik gelesen hatte, aber zum Glück mache ich mir doch immer ganz gern ein eigenes Bild und das hat "Der silberne Elefant" auch unbedingt verdient, denn Jemma Wayne ist eine gute Geschichtenerzählerin und ihr Buch hat mir gefallen.

Der Roman befasst sich mit drei sehr unterschiedlichen Frauenleben, die alle auf ihre Art zu überleben versuchen, wobei die Herausforderung für die ruandische Tutsi Emily unvergleichlich groß ist. Ihre Erfahrungen während des Völkermords, die auch im Text sehr plastisch herausgearbeitet werden, sind von unfassbarer Grausamkeit und unvorstellbaren Erlebnissen geprägt. Aber auch die anderen beiden Frauen reiben sich auf ihre Weise an ihrem Leben und ihrer Vergangenheit auf und kämpfen mit ihren persönlichen Dämonen, Schuldgefühlen und Ängsten. Auf sehr packende Weise schildert der Roman den Umgang der Frauen miteinander, mit sich selbst und zeigt die unterschiedlichen Wege einer Vergangenheitsbewältigung auf. Die Lektüre ist so mitreißend und interessant, dass ich mich manches Mal fragte, ob es angebracht ist, solch schwere Themen (denn auch die Probleme von Vera und Lynn sind alles andere als oberflächlich) in Unterhaltungsliteratur zu verpacken.

Die Frauenfiguren sind gut ausformuliert, bei den Männern in diesem Roman hakt die Figurenzeichnung jedoch. Die Männer sind einfach nicht spannend genug, nicht durchdacht und erfüllen eher stereotype Anforderungen: der Heilige, der Sünder etc...Schwierig fassbar war für mich auch die religiöse Note des Textes, der durch den Kontext einiger Figuren notwendig wurde, und auch Sinn machte, die stark kirchliche Ausrichtung war für mich aber nicht überzeugend und auch nicht wirklich nachvollziehbar.

Dennoch würde ich "Der silberne Elefant" empfehlen, denn mich hat dieser Blick auf unterschiedliche Frauenleben sehr beschäftigt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere