Roadtrip mit den Geistern der Vergangenheit
Volkswagen BluesBereits 1984 wurde „Volkswagen Blues“ von Jacques Poulin in zahlreichen Sprachen veröffentlich. Erst 36 Jahre später erscheint der Roman nun auch auf Deutsch. Zurecht, denn in diesem nur 246 Seiten dünnen ...
Bereits 1984 wurde „Volkswagen Blues“ von Jacques Poulin in zahlreichen Sprachen veröffentlich. Erst 36 Jahre später erscheint der Roman nun auch auf Deutsch. Zurecht, denn in diesem nur 246 Seiten dünnen Buch steckt bei genauer Betrachtung weitaus mehr als es auf dem ersten Blick scheint.
Jack Waterman ist ein schweigsamer Träumer in der Schreibkrise. Als er es in Montréal nicht mehr aushält, macht er sich auf die Suche nach seinem verschwundenen Bruder Théo. Dessen letzte Spur führt ihn nach Gaspé im Osten Québecs, wo 1534 der französische Entdecker Jacques Cartier landete. Hier begegnet Jack der rastlosen und lesewütigen Halb-Innu Pitsémine, die wegen ihrer langen, dünnen Beine auch die Große Heuschrecke genannt wird und mit einem kleinen schwarzen Kater unterwegs ist. Mit einer Nähe, die nur Fremde verbindet, tun sie sich zusammen. Sie sichten alte Karten und Bücher, suchen nach Hinweisen zu Théos Verbleib und folgen dessen Spur entlang des Oregon Trails quer durch den Kontinent bis nach San Francisco. Doch da geht es schon längst nicht mehr nur um Théo.
Im realen Leben hätten die wenigen wagen Hinweise auf Théos Verbleib sicherlich nie zum Erfolg geführt, aber das hat mich beim Lesen in keinster Weise gestört. Vielleicht macht gerade das diesen besonderen Zauber des Buches aus. Neben den liebenswerten Charakteren, die ohne Frage speziell sind und nicht unterschiedlicher sein könnten. Doch dadurch ergänzen sie sich nicht nur ideal, sondern unterstützen sich auch mental ungemein. Denn zu Beginn ihrer Reise sind beide auf der Suche nach ihren Platz im Leben, stecken voller Zweifel und kämpfen mit den Geistern der Vergangenheit: Jack unter anderem mit dem seines verschwundenen Bruders, der teilweise übermächtig erscheint; Pitsémine mit ihren familiären Wurzeln, die eng mit der Geschichte der Ureinwohner und der ersten Siedler Amerikas verknüpft sind.
Besonders im Gedächtnis geblieben sind mir viele amüsante Dialoge, in denen sich beide Charaktere gegenseitig einen fantasievollen Schlagabtausch liefern. Und auch wenn sie sich während ihrer Reise in vielerlei Hinsicht sehr nahekommen (es ist keine Liebesgeschichte!), bleiben sie bis zum Schluss beim „Sie“. Überhaupt sind Namen eher Nebensache. Pitsémine wird immer nur liebevoll Große Heuschrecke genannt, Jack überwiegend als „der Mann“ betitelt. Aber auch das passt zur Geschichte und zu den Protagonisten.
Es war ein Vergnügen, diesen Roman zu lesen. Gerade weil der Roadtrip in einer analogen Welt stattfindet, lange bevor das Internet, GPS und Social-Media zur Normalität wurden. Stattdessen ist es eine Hommage an Bücher, Karten und Geschichten. Sowie eine Erinnerung an vergangene Zeiten, die auch noch Generationen später Auswirkungen auf die Menschen haben. Der Roman ist bereichert mit zahlreichen historischen Fakten zur Geschichte der Ureinwohner Amerikas und der ersten Siedler sowie zu den frankophonen Einflüssen auf das Land – ohne dabei belehrend zu wirken. Vielmehr ruft der Autor ins Gedächtnis, auf welchen Hoffnungen und welchem Unrecht das Land gegründet wurde, verbindet das aber immer mit der Leichtigkeit einer Entdeckungsreise. Eine gekonnte Mischung, die wieder einmal folgenden Satz bestätigt: Der Weg ist das Ziel.