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Veröffentlicht am 27.12.2018

Erschütternd

Wie Gräser im Wind
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Die Autorin hat in ihrem Roman die Lebensgeschichte ihrer Großeltern festgehalten und daraus eine äußerst bewegende Geschichte geschaffen.
Während in Deutschland 1930 die Rechtspopulisten immer mehr an ...

Die Autorin hat in ihrem Roman die Lebensgeschichte ihrer Großeltern festgehalten und daraus eine äußerst bewegende Geschichte geschaffen.
Während in Deutschland 1930 die Rechtspopulisten immer mehr an Stärke gewinnen, wütet in der Sowjetunion das Regime. Mit der stalinistischen Regierung fällt der Startschuss zur Verfolgung und Eliminierung deutschstämmiger Christen, beginnend auf auch heute wieder umkämpften Halbinsel Krim.
Mitten in der Nacht werden willkürlich Menschen aus ihren Häusern geholt, die nie wieder gesehen werden. "Politische" Säuberungen und Massenexekutionen sind Gang und Gäbe.
Mit der Familie Scholz, Vater Wilhelm, seiner Frau Anna und den Kinder Erich, Rita und Yvo erleben wir die Zwangsrnteignung und die Vertreibung aus ihrer Heimat. Im Arbeitslager in Sibirien wartet ein Leben voller Entbehrungen, unwirtlicher Kälte, Hunger, Krankheiten und Tod auf sie. Beim Lesen begann auch mich zu frieren, denn nicht nur den Scholzes erwartet unermessliches Leid. Hunderttausende von deutschstämmigen Russen wurden eliminiert oder verbannt.
Auch die deutschstämmige Familie Pfeiffer, die im Nordkaukasus lebt, erfährt ein ähnliches Schicksal. Samuel Pfeiffer ist Lehrer und nur durch seine rechtzeitige Flucht entgeht er dem Erschießungskommando. Doch auch in der Fremde werden die Pfeiffers immer wieder denunziert und enteignet.

Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verschlechtert sich die Situation der deutschstämmigen Russen. Sie werden durch den Angriff der Deutschen auf Russland zusätzlich Feinde im eigenen Land. Gefangen zwischen ihrem Glauben, der Sprache und Bräuchen, die ihre Vorfahren, die sich unter Katharina I. ansiedelten, aus Deutschland überlieferten und ihren russischen Wurzeln, stehen sie zwischen den beiden Ländern.

Unwillkürlich fragt man sich beim Lesen, wie viele Schicksalsschläge ein Mensch ertragen kann. Immer wieder bauen sich die beiden Familien, die nur zwei Schicksale von Tausenden aufzeigen, ein neues Zuhause auf, bis sie wiederum vertrieben und enteignet werden. Sie sind vollkommen der Willkür des politischen Systems ausgeliefert. Dabei empfand ich besonders Anna Scholz als unglaublich starke Persönlichkeit. Sie ist eine sehr mutige und engagierte Frau, die versucht aus jeder noch so misslichen Lage etwas Gutes zu schaffen. Ihre uneigennützige Hilfsbereitschaft, der unermessliche Einsatz für ihre Familie und der Zusammenhalt in größter Not macht sie zu einer starken Protagonistin.
Auch die Kinder müssen früh mit Entbehrungen kämpfen. Besonders die Allerkleinsten sind oft zu schwach, um in dieser unwirtlichen Gegend zu überleben. Des Öfteren hatte ich beim Lesen Tränen in den Augen und hoffte und bangte um das Überleben der einzelnen Protagonisten.
Alle Figuren, bis hin zu den Nebencharakteren, sind authentisch und gut ausgearbeitet.

Das Ende ist teilweise offen und so freue ich mich schon auf den Folgeband, den wir gemeinsam ab dem 18. Januar lesen werden.

Mir war die Verfolgung und Enteignung der Deutschrussen bereits aus dem Roman "Roter Herbst in Chortitza: Nach einer wahre Geschichte" von Tim Tichatzki bekannt. Auch er hat die Lebenserinnerungen seiner Schwiegermutter in einem Roman verarbeitet, der bereits 1919 mit dem Sturz des Zaren beginnt und mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zum Abschluss kommt.

Schreibstil:
Ella Zeiss, auch bekannt unter dem Namen Elvira Zeißler, beschreibt sehr anschaulich und mit viel Empathie die Schicksale dieser beiden Familien. Die sehr intensive Geschichte nimmt einem beim Lesen mit. Man ist tief berührt und erschüttert. Die Figuren sind lebensnah gezeichnet.
Der Schreibstil ist flüssig und mitreißend.

Fazit:
Ein berührender und aufwühlender Roman über die Zwangsenteignungen der Deutschrussen unter Stalin. Ein wichtiges zeitgeschichtliches Thema, das nur sehr wenig bekannt ist, wurde in diesem ersten Band der Dilogie von der Autorin mit viel Empathie erzählt. Ich gebe sehr gerne eine Leseempfehlung und freue mich auf Teil 2.

Veröffentlicht am 07.12.2018

Überraschend gut!

Verborgen
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Neuer Wohnsitz, neuer Job. Die Berliner Ärztin Eva Korell möchte die Vergangenheit hinter sich lassen und kehrt Berlin den Rücken. In München wird sie als Gefängnisärztin in die Justizvollzugsanstalt Wiesheim ...

Neuer Wohnsitz, neuer Job. Die Berliner Ärztin Eva Korell möchte die Vergangenheit hinter sich lassen und kehrt Berlin den Rücken. In München wird sie als Gefängnisärztin in die Justizvollzugsanstalt Wiesheim arbeiten und ist endlich auch ihrer Freundin Ann-Kathrin näher, die mit ihrem Freund ganz in der Nähe wohnt. Noch vor ihrem ersten Arbeitstag leistet sie einer Passantin erste Hilfe, die am Gehweg umkippt. Dabei ahnt sie nicht, dass dieser Vorfall ihre Zukunft verändern wird. Am selben Abend steht dieselbe Frau verzweifelt vor ihrer Haustür und bittet sie erneut um Hilfe. Eva weist sie ab. Am nächsten Tag findet sie heraus, dass ihr Mann in der JVA einsitzt und ist froh über ihre Rückweisung. Doch bald darauf ist Nicole Arendt spurlos verschwunden. Eva macht sich Vorwürfe. Wovor hatte die Frau solche Angst?

Endlich wieder ein Thriller, der nicht mit dem altbekannten Schema "daherkommt". Eine Gefängnisärztin als Protagonistin hat schon im Klappentext meine Neugier geweckt. Aber auch der restliche Plot ist hervorragend aufgebaut und der Spannungsbogen gelungen. Die Autorin hat eine interessante Location gewählt und lässt dem Leser an Evas Alltag im Gefängnis teilhaben. Diese muss sich in der rauhen und agressiven Umgebung vom ersten Tag an behaupten.

Mit Eva Korell haben wir eine sympathische Frau vor uns, die in ihrem Beruf kompetent auftritt und sich ihrer neuen Herausforderung stellt. Hinter ihrer toughen Fassade steckt eine junge Frau, die früh ihre Eltern verloren hat. Ihre Familie besteht aus ihrem Bruder und ihre Freundin Ann-Kathrin, die als Journalistin arbeitet. Sie ist freundlich und hilfsbereit, öffnet sich aber kaum anderen Menschen. Ihr Gerechtigkeitssinn ist stark ausgeprägt. Als Nicole Arendt plötzlich verschwunden ist, macht sie sich Vorwürfe, weil sie der Frau nicht geholfen hat. Und im Gefängnis scheint ebenfalls jemand gegen sie zu arbeiten....

Die Geschichte wird in der dritten Person, jedoch aus zwei Sichtweisen erzählt. Wir begleiten als Leser nicht nur Eva, sondern auch Nicole, deren Mann Robert wegen Fahren ohne Führerschein und unter Alkoholeinfluss im Gefängnis sitzt. Nicole ist ein Opfer häuslicher Gewalt und voller Selbstzweifel. Ihr Leben besteht aus Demütigung und Gewalt. Trotzdem hält sie zu ihrem Mann, auch als sie belastende Beweise im Keller findet. Kommissar Lars Brüggemann gefiel mir ebenfalls sehr gut. Er hat eindeutig die Nebenrolle in diesem Thriller und ist die Nummer 3 hinter den beiden weiblichen Charakteren, trotzdem überzeugte auch er.
Die Charaktere sind vielschichtig und lebendig dargestellt. Dies beinhaltet auch einige Gefängnisinsassen, die alles andere als schwarz-weiß gemalt sind. Besonders interessant fand ich Georg Temme, dessen Mordmotiv ich richtig verstehen konnte...
Die verschiedenen Stränge laufen konsequent zusammen, doch zuvor gibt es noch einige interessante Wendungen und Überraschungen. Der stetig ansteigende Spannungslevel wird durch den Perspektivenwechsel noch erhöht. Ich war an die Seiten gefesselt und null-koma-nichts durch das Buch - weil ich es nicht aus den Händen legen konnte.
Das dynamische Ende war schlüssig und lässt mich bereits ungeduldig auf den nächsten Band warten.

Schreibstil:
Der einnehmende Schreibstil der Autorin hat mich gefesselt. Überraschende Wendungen haben die Spannung erhöht. Die vielschichtigen Charaktere sind interessant und lebendig gezeichnet.
Anna Simons schreibt hier unter Pseudonym. Ihre Krimis veröffentlicht sie als Anna Martens, ihre Jugendbücher als Anna Schneider. Für mich war es das erste Buch der Autorin, jedoch sicherlich nicht mein letztes.

Fazit:
Der erste Band um Gefängnisärztin Eva Korell hat mich überzeugt! Endlich wieder ein Thriller/Krimi mit neuen Ideen, keinen zu konstruierten oder überladenden Schluss, der eher an einen Actionfilm erinnert, sowie einen Täter, der lange unbekannt bleibt. Spannung pur und eine Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 05.12.2018

Beeindruckender biografischer Roman

Hanna
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"Hanna - Kriegsjahre einer Krankenschwester" ist keine Geschichte, die diese Zeit beschönigt. Sandra Jungen hat in ihrem biografischen Roman die Erinnerungen ihrer Großmutter festgehalten und dabei ein ...

"Hanna - Kriegsjahre einer Krankenschwester" ist keine Geschichte, die diese Zeit beschönigt. Sandra Jungen hat in ihrem biografischen Roman die Erinnerungen ihrer Großmutter festgehalten und dabei ein sehr bewegendes Bild dieser Zeit wiedergegeben.

Deutsches Reich 1942: Hanna hat eben erst ihre Krankenschwesterausbildung abgeschlossen, als sie ihren Einberufungsbefehl erhält. Das Ziel ist ihr nicht bekannt und so begleiten wir sie auf ihren Weg ins Ungewisse. Zu Beginn merkt man noch mit welcher Ahnungslosigkeit die jungen Krankenschwestern gegen Osten fahren. Wir begleiten die jungen Frauen auf ihrer tagelangen Zugreise, bis sie zuerst in Polen und später in der Ukraine ankommen...immer Richtung Front. Das Grauen des Krieges hat sie in den provisorischen Feldlazaretten bald eingeholt. Trotzdem bleibt Hanna in einigen Dingen unwissend. Die Viehwaggons, die bei ihrer Reise ganz hinten am Zug angehängt werden, erscheinen ihr zwar seltsam, aber Hanna hinterfragt dies nicht. Auch der grauenhafte Gestank in einer Station fällt ihr zwar auf, kann ihn aber nicht zuordenen. Hier ist der Leser allwissend und kann diese für uns augenscheinlichen Momente erfassen. Obwohl Hanna mitten im Krieg steht, gehört sie doch zur deutschen Wehrmacht und nur einige Bemerkungen ihrer deutschtreuen Kollegin Gerda, lassen sie öfters nachdenklich zurück. Doch Hanna wird schnell erwachsen und beginnt sich ihre eigene Meinung zu bilden. Ihr Leben besteht aus überfüllten Lazaretten, fünfzig Stunden Arbeitstagen und immer mehr Schwerverletzten. Oftmals können weder die Ärzte, noch die Sanitäter und Krankenschwestern ihre Augen offenhalten. Völlig übermüdet und am Ende ihrer Kräfte versuchen sie Leben zu retten. Ungeschönt beschreibt die Autorin das Leben im Lazarett, in dem Hanna - wegen Personalmangel - bald selbst Operationen durchführen muss, während sie von feindlichen Fliegern bombardiert werden. Erst als die junge Frau selbst erkrankt, kommt sie zur Genesung nach München und arbeitet dort im Hospital weiter. Doch die Bombardierungen durch die Allierten werden immer schlimmer und München gleicht immer mehr einer Häuserruine.

Sehr nahe ging mir die Bedrohung durch die großangelegten Bombardierungen Münchens. Der immer wiederkehrende Fliegeralarm und die Angst, die Hanna dabei ausstand, als sie verschüttet wird, sind so bewegend und lebendig erzählt, dass es einem dabei selbst die Luft abschnürt. Wie oft das Glück und das Schicksal willkürlich um sich greift, ist besonders aus diesen Abschnitten herauszulesen. Doch selbst in Nächten der Angst und inmitten von Leid und Hunger, wollen die Menschen leben, lieben und lachen und sich an kleinen Dingen erfreuen. Man braucht diese Hoffnungsträger, um zu überleben. So fand ich es berührend, wie Hanna ihre große Liebe findet, ins Theater geht oder sie sich den Traum von roten Stöckelschuhen erfüllt, die sie eigentlich zu dieser Zeit kaum tragen kann.

Charaktere:
Hanna hat Herz und Verstand. Sie ist selbstlos, setzt sich für andere Menschen ein und geht in ihrem Beruf auf. Sie bleibt immer menschlich. Ihr Gegenpart ist Gerda. Ein Nazi durch und durch, der vor keiner Denunzierung zurückschreckt. Immer wieder neidet sie Hanna ihre Stellung, einen Soldaten oder einfach ihre Beliebtheit im Lazarett. Sie ist die typische Antagonistin, der nicht über den Weg zu trauen ist.
Die anderen Krankenschwestern, die Hanna bereits auf der Reise an die Ostfront begleiten, sind liebenswerte junge Frauen, die bei der Rückkehr nach München befreundet bleiben und einige Schicksalschläge teilen. Clemens, Hannas Freund, ist mir ebenfalls sehr ans Herz gewachsen.
Auch die anderen Charaktere sind sehr lebensnah und authentisch gezeichnet. Ärzte und Krankenpfleger, Soldaten in allen Rangstufen geben einen Querschnitt durch die Bevölkerung. Dabei lernen wir auch historisch belegte Personen, wie Graf von Stauffenberg, der im Widerstand tätig war oder den Münchner Humoristen Ferdl Weiß kennen, der bei seinen Auftritten stets das Regime kritisierte und von Polizisten bei der Vorstellung auf der Theaterbühne überwacht wurde.

Schreibstil:
Der Schreibstil von Sandra Jungen hat mir sehr gefallen. Er ist gefühlvoll und gibt tiefe Einblicke in Hannas Leben. Ich bin in die Geschichte abgetaucht und obwohl es viele wirklich grausame und erschütternde Kapitel gab, verstand es die Autorin den Leser nicht hinabzuziehen, sondern mit ihrer Art zu schreiben zu fesseln. Mit liebenswerten Figuren und ebensolchen Episoden wird die Lebensgeschichte aufgelockert. Man begibt sich auf eine Zeitreise, die mit fundiertem Grundwissen und zusätzlichen Recherchen eine perfekt abgerundete Erzählung ergeben.

Im Anhang gibt es ein Nachwort, eine Geschichte hinter der Geschichte, sowie ein Verzeichnis von historischen Personen, die im Roman eine Rolle spielten.

Fazit:
Ungeschönt und trotzdem mit einer Spur Hoffnung, Lebenswillen und Lebenslust, erzählt Sandra Jungen aus dem Leben ihrer Großmutter bzw. aus dieser Zeit, die wir und unsere Kinder hoffentlich nie wieder erleben müssen. Eine Lebensgeschichte, die mit viel Einfühlungsvermögen erzählt wird. Von mir gibt es fünf Sterne und eine klare Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 08.11.2018

Eine Leseempfehlung - gegen das Vergessen!

Überleben
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Dieser biografischer Roman und Tatsachenbericht eines Zeitzeugens fiel mir alleine durch das Thema und Cover auf. Als ich jedoch in der Buchbeschreibung las, dass Hauptprotagonist Walter Fantl seine Kindheit ...

Dieser biografischer Roman und Tatsachenbericht eines Zeitzeugens fiel mir alleine durch das Thema und Cover auf. Als ich jedoch in der Buchbeschreibung las, dass Hauptprotagonist Walter Fantl seine Kindheit in unserem Nachbarort Bischofstetten verbracht hat, musste ich dieses Buch einfach lesen!
Der anerkannte Historiker Gerhard Zeilinger erzählt die Geschichte basierend auf jahrelanger Gespräche und Aufzeichnungen. Ich muss vorab sagen, dass ich schon viele Bücher zum Thema gelesen habe, aber dieses musste ich in "kleinen Happen" konsumieren, da es einem wirklich mitnimmt und verstört. Die sehr intensive Erzählung, besonders die Auszüge aus Ausschwitz, sind einfach nur schockierend.

Vorallem zu Beginn war es für mich überaus interessant zu lesen, da Orte genannt wurden, die sowohl mein Geburtsort, als auch mein jetziger Heimatort sind. Die anderen Nachbardörfer kenne ich natürlich ebenfalls und auch einige bekannte Namen sind aufgetaucht. Man liest automatisch anders, wenn man die Location kennt. Und man fragt sich zur selben Zeit, ob man heute noch einen Juden kennt...ich nicht....sagt doch schon viel aus....

Walter Fantl lebt mit seinen Eltern und der älteren Schwester in Bischofstetten im niederösterreichischen Mostviertel. Der Vater betreibt einen Gemischtwarenladebn und die Fantls sind im Dorf gut integriert. Das ändert sich als Hitler in Österreich einmarschiert. Walter ist zu dieser Zeit 14 Jahre alt. Die Ausgrenzung beginnt schleichend und die Lebensgrundlage der Fantls, das Geschäft, soll arisiert werden. Die gesamte Familie wird nach Wien in die jüdische Gemeinde umgesiedelt. Walters Vater wehrt sich lange dagegen und versucht durch den Widerstand Zeit zu gewinnen, um für seine Familie eine Ausreisegenehmigung zu erhalten. Die Fantls und alle anderen Juden bekommen allerdings kaum Geld für ihre ehemalige Lebensgrundlage und nur mit diesem und einem Bekannten im Ausland bekommt man eine bessere Chance eine Ausreisegenehmigung zu erhalten. 1942 wird die Familie nach Theresienstadt (im heutigen Tschechien) und 1944 werden Walter und sein Vater nach Ausschwitz, (im heutigen Polen) deportiert. Gleich bei der Ankunft werden sie getrennt....die berühmt berüchtigten Worte "links" oder "rechts" entscheiden zu diesem Zeitpunk über Leben und Tod. Walter bleibt nur sein Gürtel, der für ihn zum Symbol und Hoffnungsträger wird. Alles andere wurde ihm genommen.
Bereits im Prolog erfahren wir, dass Walter überlebt (er ist ja Zeitzeuge, also spoilere ich hier nicht) und nachdem er aus Ausschwitz entkommen und der Krieg beendet ist, nach Wien zurückkehrt. Wie verloren diejenigen waren, die überlebt haben, hat mich zutiefst bedrückt. Immer wieder liest man vom Roten Kreuz, das Menschen unterstützt und letzendlich auch die Überlebenden wieder zusammengeführt hat, aber Wien ist wohl doch anders...es gab für Walter Fantl keinerlei Hilfe oder Entgegenkommen....das machte mich wirklich sprachlos!

Die Fotos im Buch sind nicht wie oftmals üblich in der Buchmitte zu finden, sondern wurden perfekt zum jeweiligen Abschnitt platziert. Dass sie überhaupt gezeigt werden können verdankt Walter der damaligen (katholischen) Haushälterin, die übrigens aus meinem jetzigen Heimatort kam und 2016 mit 102 Jahren verstorben ist. Sie hat alles aufbewahrt und ich sage ihr dafür ein großes Dankeschön....auch wenn sie es nicht mehr hören kann.

Fazit:
Was soll man noch über einen biografischen Roman sagen, der die Abgründe der Menschen zeigt? Normaler Weise bewerte ich Biografien und Bücher dieser Art nicht, aber hier kann ich mit gutem Gewissen ganze fünf Sterne vergeben und eine absolute Leseempfehlung aussprechen!

Veröffentlicht am 19.10.2018

Wenn Recht nicht Gerechtigkeit ist

Grenzgänger
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Liest euch den Klappentext vorher bitte NICHT durch!

"Wenn Recht nicht Gerechtigkeit ist"...mit diesem Satz wirbt der Verlag für dieses Buch und ich kann dem zu 100% zustimmen. Was für eine Geschichte! ...

Liest euch den Klappentext vorher bitte NICHT durch!

"Wenn Recht nicht Gerechtigkeit ist"...mit diesem Satz wirbt der Verlag für dieses Buch und ich kann dem zu 100% zustimmen. Was für eine Geschichte! Wow!

Mechthild Borrmann hat ihren neuen Roman in zwei Zeitebenen angelegt. 1970 steht Hanni wegen Mord und Brandstiftung vor Gericht. Sie schweigt jedoch zu den Vorwürfen. Einzig ihre Jugendfreundin Elsa besucht sie jeden Tag während des Prozesses in Aaachen. Sie ist nicht überzeugt von Hennis Schuld und verfolgt den Ablauf gespannt. Dabei wird sie von einem jungen Mann angesprochen, einem Jurastudenten, der sich für den Fall interessiert und auch eine Arbeit darüber schreibt. Er möchte mehr über die Hintergründe der Verurteilung und über Hennis Leben wissen.....

Die Autorin wechselt zwischen verschiedenen Zeitebenen, Personen und Orten. Das erfordert anfangs etwas Konzentration und Aufmerksamkeit, jedoch sollte man dran bleiben, denn schon nach kurzer Zeit kann man das Buch nicht mehr aus der Hand legen.

Der Einstig ist eher ruhig, denn Borrmann hat ihre Geschichte so angelegt, dass man zuerst mit Ennie in ihren Erzählungen in die Vergangenheit zurückreist.
Wir begeben uns in das Dorf Velda nahe der deutsch-belgischen Grenze. Elsa lebt im Nachbarhaus, wo einst Hennis Familie, die Schönings gelebt haben.
Henni ist erst 12 Jahre, als ihr Vater aus dem Krieg zurückkehrt. Der gelernte Uhrmacher ist zum Kriegzitterer geworden und wird arbeitslos. Er wird immer depressiver und wendet sich schlussendlich der Kirche zu. Henni und ihre Mutter beginnen für den Lebensunterhalt zu sorgen, doch es reicht einfach nicht aus. Als auch noch plötzlich die Mutter stirbt, wollen ihr Vater und der Pastor, Henni und ihre Geschwister Matthias, Fried und Johanna ins Heim stecken. Doch Henni hat ihrer Mutter kurz vor ihrem Tod versprochen für ihre Brüder und die Schwester zu sorgen und übernimmt mit ihren 17 Jahren die ganze Verantwortung, während ihr Vater sich dieser entzieht und sich zu einem bigotten, faulen und kalten Menschen entwickelt.
Bald bleibt den Kindern nicht mehr wirklich viel zum Leben und Henni entschließt sich den "Grenzgängern" anzuschließen. Viele aus dem Dorf, das zwischen der Eifel und der belgischen Grenze liegt, schmuggeln Kaffee, den sie gegen Lebensmitteln tauschen. So kommen die Meisten über die Runden. Henni schließt sich den Dörflern an. Einige Zeit geht alles gut, doch nach einem kleinen Zwischenfall wird die gängige Route stärker bewacht und Henni entschließt sich über das Moor zu gehen. Eiinge Wagemutige schließen sich ihr an, doch letztendlich kommt es zu einem tragischen Vorfall. Henni wird daraufhin in die Besserungsanstalt gesteckt und ihre Brüder kommen ins Waisenhaus...und hier fängt erst das richtige Grauen für die Kinder an...

In einem weiteren Erzählstrang in der Gegenwart, die im Roman 1970 spielt, lernen wir den Künstler Thomas kennen. Hennis Bruder Fried bittet ihn als Zeuge auszusagen. Eine Ordensschwester aus dem Kinderheim in dem Matthias, Fried und Thomas waren und deren Willkür sie ausgesetzt waren, ist angeklagt. Durch die Erinnerungen von Thomas an seine schlimme Kindheit, erfährt der Leser mehr über die Zeit im Heim, die Thomas noch heute in seinem Träumen quält.
Auch Elsas Leben wird beleuchtet. Obwohl sie eine wichtige Funktion hat, bleibt sie doch eher eine Nebenfigur.

Mechthild Borrmann hat mit einigen ehemaligen Waisen geprochen, die in diesen meist kirchlichen Institutionen untergebracht waren. Die Zustände waren großteils unbeschrieblich. Grausamkeiten im Namen der Moral und des Glaubens, jedoch jenseits genau dieser Werte. Sogar Folterungen der Kinder waren an der Tagesordnung. Obwohl die Autorin eher sachlich und nüchtern erzählt, sind viele Begebenheiten teilweise so unmenschlich und grausam, dass man es sich gar nicht vorstellen kann.

Auch über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und dem allgegenwärtigen Hunger, der den Schmuggel und Schwarzhandel förderte, erzählt die Autorin näher.

Schreibstil:
Mechthild Borrmann schreibt hier eher nüchtern, jedoch hätte wohl kein Leser einen sehr bildhaften und emotionalen Schreibstil bei all den Grausamkeiten ausgehalten. Trotzdem ist der Roman atmosphärisch sehr dicht und stimmungsvoll. Mein Kopfkino war immerzu am Laufen....
Besonders entwickelte ich aber eine immer stärkere Abneigung gegen den Vater, die sich beim Lesen zum Hass entwickelte. Dies zeigt von der grandiosen Charakterdarstellung und der Schreibskunst der Autorin.
Die kurzen Kapitel lassen sich angenehm lesen und man fliegt förmlich durch den Roman und bangt um Hennis Zukunft.

Fazit:
Ein Roman, der zwar fiktiv ist, bei dem die Autorin jedoch Missstände in Waisenhäusern aufgreift, die tatsächlich stattgefunden haben. Bewegend und emotional wird hier vom Schicksal einer Familie und ein Stück Zeitgeschichte erzählt. Eine Lektüre auf hohem Niveau! Von mir gibt es eine absolute Leseempfehlung!