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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 02.05.2020

Nichts für Zartbesaitete

Das wirkliche Leben
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„Wunderschön und gleichzeitig furchterregend hässlich“ – mit solch einer gegensätzlichen Beschreibung des Buchs warten bekannte Kritiker in ihren Bewertungen auf Buchrücken und -innenseiten auf. Doch ist ...

„Wunderschön und gleichzeitig furchterregend hässlich“ – mit solch einer gegensätzlichen Beschreibung des Buchs warten bekannte Kritiker in ihren Bewertungen auf Buchrücken und -innenseiten auf. Doch ist das überhaupt möglich angesichts der Thematik um einen sadistischen, gewalttätigen Familienvater? Meine Antwort lautet ja.
Für die namenlos bleibende Ich-Erzählerin und ihren kleinen Bruder gehört Gewalt zum häuslichen Alltag. Ihr Vater ist ein brutaler Sadist, der außer fernsehen und Whisky den Rausch der Jagd liebt. Auf seine Kosten kommt er meistens zu Hause zu Lasten seiner Ehefrau, die als unscheinbare Amöbe beschrieben wird und schon lange resigniert hat. Das Mädchen setzt alles daran, damit wenigstens der Bruder sein Lächeln zurückgewinnt, das er durch ein traumatisches Erlebnis außerhalb der Familie verloren hat.
Das Buch ist nichts für Zartbesaitete. Viele Passagen sind roh und unheimlich, seien es die Gewaltszenen zum Nachteil von Mensch und Tier oder die Beschreibungen der ausgestopften Jagdtrophäen im sog. Kadaverzimmer des Vaters. Doch genau so geht es ja leider viel zu oft im wirklichen Leben zu. Und das zu beschreiben ist der Autorin bestens gelungen. Genauso lobenswert ist, wie sie am Beispiel der jungen Erzählerin einen Hoffnung und Vorbild gebenden Ausweg aus der häuslichen Gewaltspirale aufzeigt. Das Mädchen will sich nämlich nicht in die Rolle der duldsamen Frau fügen und eignet sich wissbegierig naturwissenschaftliche Bildung an, was ihr erlauben soll, die häusliche Misere eines Tages zu verlassen.

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Veröffentlicht am 21.04.2020

Eine warmherzige Vater-Sohn-Geschichte

Pandatage
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Vater Danny und Sohn Will trauern um die ein Jahr zuvor tödlich verunfallte Mutter. Statt dass das Unglück sie zusammenschweißt, sind sie einander fremd und kann Danny nicht zu Will vordringen. Letzterer ...


Vater Danny und Sohn Will trauern um die ein Jahr zuvor tödlich verunfallte Mutter. Statt dass das Unglück sie zusammenschweißt, sind sie einander fremd und kann Danny nicht zu Will vordringen. Letzterer spricht kein Wort mehr. Danny wird arbeitslos, sein gewalttätiger Vermieter treibt unbarmherzig die Mietschulden ein. In seiner Not verdingt sich Danny mehr schlecht als recht in der Verkleidung eines tanzenden Pandabären als Straßenkünstler. Als solcher hilft er seinem Sohn unerkannt aus der Patsche und Will beginnt mit dem Bären vertrauensvoll zu reden, bis er seinem Vater auf die Schliche kommt und sich verraten fühlt.
Der tragische Hintergrund der Geschichte bleibt eigentlich völlig außen vor. Denn es kommt zu so vielen komischen Situationen, dass es wirklich Spaß macht, das Buch zu lesen. Die Dialoge zwischen den verschiedenen fast durchgängig sympathischen Romanfiguren, mit denen es das Leben nicht immer gut gemeint hat, sind oft witzig. Neben der Trauerbewältigung greift der Autor weitere schwierige Themen auf wie die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse in England oder das Mobbing unter Schulkindern.
Ein gelungener Debütroman.

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Veröffentlicht am 13.04.2020

Schöner Dorfroman

Mittagsstunde
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Schon der erste Roman „Altes Land“ der Autorin hat mir gut gefallen. „Mittagsstunde“ toppt ihn noch einmal.
In ihm wird vom fiktiven Dorf Brinkebüll in Nordfriesland erzählt und die Geschichte ist im ...

Schon der erste Roman „Altes Land“ der Autorin hat mir gut gefallen. „Mittagsstunde“ toppt ihn noch einmal.
In ihm wird vom fiktiven Dorf Brinkebüll in Nordfriesland erzählt und die Geschichte ist im Wesentlichen in den 1960er/1970er Jahren angesiedelt. Da auch ich aus einer ländlich gelegenen Stadt komme und meine Kindheit in exakt den vorgenannten Zeitraum fiel, konnte ich Vieles aus eigener Anschauung beurteilen und kam in mir so manche Erinnerung hoch, wie es damals war. Brinkebüll erleidet das gleiche Schicksal wie alle deutschen Dörfer: Nach und nach verschwindet es dank der Moderne. Sehr gelungen sind die authentischen Beschreibungen von allem, was ein Dorf ausmacht, und vor allem auch seiner verschrobenen Bewohner, die einander alle kennen und zusammenhalten. Gefallen haben mir auch die Kapitelüberschriften, die Schlagertitel der damaligen Zeit wiedergeben, sowie die vielen plattdeutschen Äußerungen, deren Bedeutung sich auch für nur des Hochdeutschen mächtige Leser gut erschließen lässt. Belebt wird alles dadurch, dass im Wechsel aus Vergangenheit und Gegenwart erzählt wird. In der Gegenwart steht der bald 50jährige Ingwer im Vordergrund, der Brinkebüll einst verlassen hat, um zu studieren und den seine dörfliche Herkunft nie losgelassen hat. Nunmehr durchlebt er eine Krise und weiß nicht, in welche Welt er gehört.
Ein sehr lesenswerter Roman.

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Veröffentlicht am 07.04.2020

Wie Musik soziale Unterschiede bedeutungslos werden lässt

Der Klavierspieler vom Gare du Nord
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Ich weiß nicht, ob es diese Erscheinung tatsächlich gibt: Ein Klavier steht öffentlich zugänglich am Pariser Bahnhof Gare du Nord und bietet jedem Vorbeikommenden die Möglichkeit, auf ihm zu spielen. ...

Ich weiß nicht, ob es diese Erscheinung tatsächlich gibt: Ein Klavier steht öffentlich zugänglich am Pariser Bahnhof Gare du Nord und bietet jedem Vorbeikommenden die Möglichkeit, auf ihm zu spielen. Davon macht auch der eine Protagonist dieses Romans Gebrauch – der 20jährige Mathieu, der in sozial schwierigen Verhältnissen in der Banlieue wohnt und seit seiner Kindheit nach Gehör Klavier spielt, ohne jemals Noten lesen gelernt zu haben. Der zweite Protagonist – Pierre, gut situierter Direktor des Pariser Konservatoriums, beruflich und familiär an einem Tiefpunkt angelangt – wird Zeuge und erkennt Mathieus großes Talent. Als Mathieu zur Strafe für einen Einbruch zur Ableistung von Sozialstunden verurteilt wird, stellt Pierre ihn pro forma als „Putzmann“ ein, bereitet ihn aber stattdessen für einen renommierten Klavierwettbewerb vor. Warum tut Pierre das? Und will Mathieu das überhaupt?
Eigentlich war ich eher skeptisch, ob mir dieses Buch überhaupt gefallen würde. Denn dem Buchrücken und dem Klappentext war zu entnehmen, dass Musik ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte sein würde („Ein virtuoser, spannender Roman voller Musik“, „Ein Roman über die verbindende Kraft der Musik“), und ich bin ein völlig unmusikalischer Mensch. Doch ich, der ich mit den in Bezug genommenen klassischen Klavierstücken (z.B. Präludium, Fuge Nr. 2 in c-Moll, Ungarische Rhapsodie) nichts anfangen kann, war von Anfang an begeistert von der Geschichte. Sie hat etwas von einem modernen Märchen und bedient sich vieler Klischees – armem, kriminellem Jungen gelingt der Aufstieg in die ihn herablassend betrachtende und von ihm verachtete Oberschicht und verliebt sich sogar noch in ein ihr zugehöriges Mädchen. Gerade das hat mich so fasziniert. Bestechend ist auch die Darstellung der Protagonisten, vor allem des Mathieu, der eine so gleichgültige und provozierende Haltung an den Tag legt, dass man ihn am liebsten durchschütteln möchte, um ihm klarzumachen, welche große Chance sich ihm bietet.
Das Buch erhält von mir eine klare Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 14.03.2020

Kurzroman über einen berühmten französischen Justizfall

Die Frau, die liebte
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Ich mag solche kurzen Romane wie den vorliegenden, in dem die Autorin unter Verzicht auf überflüssige Längen alles Notwendige erzählt. Zwar war ich nach dem Klappentext nicht darauf gefasst, es mit einer ...

Ich mag solche kurzen Romane wie den vorliegenden, in dem die Autorin unter Verzicht auf überflüssige Längen alles Notwendige erzählt. Zwar war ich nach dem Klappentext nicht darauf gefasst, es mit einer zu Ende des 16. Jahrhunderts angesiedelten Geschichte zu tun zu haben. Das spielte dann aber auch schnell keine Rolle mehr. Sehr interessant ist dieses Buch für Juristen, aber nicht nur.
Sohn und Tochter reicher Bauern werden schon im Kindesalter miteinander verheiratet. Mit Anfang 20 verlässt der Ehemann Martin aus Angst vor seinem autoritären Vater Hof und Familie. Nach acht Jahren kehrt ein ihm ähnlich sehender Mann zurück, sich als eben dieser ausgebend. Die Ehefrau Bertrande erinnert sich nicht so recht an das Aussehen ihres Mannes, sieht genau wie ihr Umfeld aber diesen in dem Erschienenen und setzt mit ihm das Eheleben fort. Dann aber beginnt sie an der Identität des Mannes mit ihrem Gemahl zu zweifeln und setzt einen Gerichtsprozess in Gang.
Das Faszinierende an der Geschichte ist zu erfahren, ob der Mann wirklich ein Betrüger ist oder ob Bertrande wahnhaft ist. Auch der moralische Aspekt ist interessant – soll Bertrande sich wissentlich weiter von dem Mann täuschen lassen, weil das für sie selbst und viele andere aus dem familiären und beruflichen Umfeld von Vorteil wäre, oder soll sie strikt die Wahrheit ans Licht bringen mit der Folge, dass so Vieles in ihrem Leben zerstört werden würde? Auf jeden Fall stimmt sie ein zum Nachdenken darüber, was man selbst in dieser Lage tun würde.

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