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Veröffentlicht am 30.12.2020

Frauenschicksale in der modernen Türkei

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Es erstaunt mich immer wieder. Von Zeit zu Zeit greife ich zu einem Buch, von dem ich nie gedacht hätte, dass es mich so packen könnte. Dazu zählt der vorliegende Roman. Da ich meine Lesevorlieben eher ...

Es erstaunt mich immer wieder. Von Zeit zu Zeit greife ich zu einem Buch, von dem ich nie gedacht hätte, dass es mich so packen könnte. Dazu zählt der vorliegende Roman. Da ich meine Lesevorlieben eher in zeitgenössischen Romanen deutschsprachiger Autoren suche, deren Geschichten im Deutschland der Gegenwart angesiedelt sind, bin ich an das Buch mit Vorbehalten herangegangen, denn die Geschichte spielt in der Türkei in den Jahren 1947 bis 1990. Doch schon die ersten Seiten haben mich positiv eingenommen. Allein der Anfang ist ungewöhnlich. Eine gerade ermordete und in einer Mülltonne in Istanbul abgelegte Prostituierte – Leila -, deren Gehirn noch gut zehn Minuten aktiv ist, erzählt in Etappen ihre Lebensgeschichte. Diese beginnt in der Osttürkei. Die Mutter ist Zweitfrau des Vaters, der Leila von seiner ersten, unfruchtbaren Frau aufziehen lässt. Der Vater radikalisiert sich religiös zusehends. Leila wird von ihrem Onkel missbraucht. Derartig entehrt, will der Vater sie in eine Ehe zwingen, wovor Leila mit 16 Jahren nach Istanbul flieht. Dort wird sie rasch zur Prostituierten in einem Bordell und gewinnt im Laufe der Zeit fünf gute Freunde, die wie sie zu den Randfiguren der Gesellschaft zählen und deren ergreifende Schicksale uns ebenfalls erzählt werden. Diese Freunde sind es dann auch, die im zweiten Teil des Buchs die Hauptpersonen sind. Sie setzen alles daran, dass anstelle der anonymen Bestattung auf dem Friedhof der Geächteten Leila eine von ihr gewollte Bestattung erhält. Fortan ist die Geschichte recht abenteuerlich.
Leilas Lebensgeschichte ist höchst interessant, sie selbst von Anbeginn sympathisch. Daneben werden wissenswerte Kenntnisse über die türkische Gesellschaft vermittelt, insbesondere die Zerrissenheit zwischen der fortschrittlichen, westlich orientiertenTürkei und der konservativen, stark religiösen Türkei. Die Autorin, die selbst türkische Wurzeln hat, prangert recht deutlich Missstände an. So wundert es nicht, in ihrer Danksagung am Ende zu lesen, dass sie der Beerdigung ihrer Großmutter in der Türkei ferngeblieben ist, da Berufskollegen dort grundlos inhaftiert wurden.
Sehr empfehlenswert.

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Veröffentlicht am 16.12.2020

Eine wunderbare Freundschaft ungleicher Frauen mit Lebensträumen

Miss Bensons Reise
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Folgender Satz auf dem rückwärtigen Buchcover beschreibt das Buch völlig zutreffend: „Eine hinreißende Geschichte über Freundschaft und Freiheit: Wie wir den Mut finden, an Träume zu glauben und einander ...

Folgender Satz auf dem rückwärtigen Buchcover beschreibt das Buch völlig zutreffend: „Eine hinreißende Geschichte über Freundschaft und Freiheit: Wie wir den Mut finden, an Träume zu glauben und einander zu helfen, sie zu verwirklichen.“

Erzählt wird über eine Freundschaft zweier völlig ungleicher Frauen, die zu Beginn nichts, aber auch rein gar nichts gemein haben und die am Ende das Kostbarste miteinander teilen. 1950: Die 46jährige Margery Benson ist einsam, unattraktiv und ohne Selbstbewusstsein, eine Hobby-Käferwissenschaftlerin. Als sie eines Tages in ihrem ungeliebten Job erniedrigt wird, gibt sie in London kurzerhand alles auf und begibt sich nach Neukaledonien am anderen Ende der Welt, um dort den goldenen Käfer zu finden, was schon seit ihrer Kindheit ihr Traum ist und sie an glückliche Zeiten mit ihrem Vater erinnert. Als Assistentin auf ihrer Expedition wählt sie die junge Enid Pretty aus, die in Charakter und Äußerem das völlige Gegenteil von Margery ist, nämlich Plappermaul und Sexbombe, aber ebenfalls mit einem Lebenstraum. Enid will London aus einem geheimnisvollen Grund verlassen. Ein anderer, abgelehnter Bewerber für die Assistentenstelle ist ein stark traumatisierter, gestörter Kriegsveteran, der den beiden als Stalker folgt.
Im Verlauf der Geschichte durchleben die Frauen zahlreiche Abenteuer, die sie zusammenschweißen, weil sie einander eine Stütze sind. Außerdem erfahren wir von den Tragödien in ihrem bisherigen Leben. Einige ihrer Erlebnisse sind ergreifend, andere furchtbar, wieder andere lustig. Spannung wird durch den Stalker und Enids allmählich aufgedeckte Vergangenheit in der Heimat eingebracht. Nicht zuletzt werden schöne Natureindrücke von Neukaledonien und Kenntnisse über Käfer vermittelt. Das Ende ist traurig, aber passend. Margery verliert etwas Wichtiges, gewinnt aber etwas Kostbares hinzu, von dem sie nie dachte, dass sie es wollte.

Ein Buch, dem ich meine volle Leseempfehlung gebe.

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Veröffentlicht am 11.12.2020

Das furchtbare Schicksal eines ostukrainischen Mädchens

Kukolka
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Von Kinderbanden, Prostitution Minderjähriger, Menschenhandel ist in den Medien ja immer wieder die Rede, wird von einem aber leicht abgetan, weil es so fern von einem zu sein scheint. Dieser Roman jedoch ...

Von Kinderbanden, Prostitution Minderjähriger, Menschenhandel ist in den Medien ja immer wieder die Rede, wird von einem aber leicht abgetan, weil es so fern von einem zu sein scheint. Dieser Roman jedoch trägt dazu bei, dass man die eigene distanzierte Haltung zu den eingangs erwähnten Verbrechen revidiert. Denn das Schicksal der Protagonistin geht einem sehr nahe. Samira, später von vermeintlich es gut mit ihr meinenden Freunden nur Kukolka = Püppchen genannt, wächst elternlos in einer ostukrainischen Stadt in einem Kinderheim auf. Ihr Traum ist es, zu ihrer nach Deutschland adoptierten Freundin zu gehen. Mit sieben Jahren reißt sie aus dem Heim aus, findet Aufnahme bei Rocky, der sie und andere Kinder betteln und stehlen lässt und sie missbraucht. Mit 13 Jahren gerät sie an den sie vorgeblich liebenden Dima, der sie unter Drogen setzt und sie als Prostituierte arbeiten lässt und sie schließlich in ein Bordell in Berlin verkauft. Samiras Traum vom vielversprechenden Deutschland zerplatzt.
Das Thema ist schon harter Tobak. Die Protagonistin jedoch sorgte dafür, dass ich das Buch nicht aus der Hand legen wollte. Ihr Wesen fasziniert – kindlich, gutgläubig, optimistisch. Bis zum Ende wünscht man sich, dass es für sie ein Happy End gibt. Ob es so kommt, muss jeder selber lesen.
Ein Buch, das wirklich berührt.

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Veröffentlicht am 26.11.2020

Eine gelungene Hommage an die geliebten Großeltern

Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke
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Inwieweit alles Erzählte biografisch ist, wie es den berechtigten Anschein erweckt, vermag ich nicht zu beurteilen. Auf jeden Fall erzählt uns der Autor in seinem dritten Band nach „Wann wird es endlich ...

Inwieweit alles Erzählte biografisch ist, wie es den berechtigten Anschein erweckt, vermag ich nicht zu beurteilen. Auf jeden Fall erzählt uns der Autor in seinem dritten Band nach „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ und „Alle Toten fliegen hoch“ aus den Jahren, als er Anfang 20 war und das Schauspielhandwerk, für das er sich nur aus einer Laune heraus entscheidet, professionell erlernt. Wider Erwarten wird er an der Münchner Schauspielschule angenommen und kommt während dieser Zeit bei seinen geliebten Großeltern in deren Nymphenburger Villa unter. Es wechseln sich Schilderungen aus seiner Ausbildung mit solchen aus dem Zusammenleben mit den betagten, schillernden, etwas schrulligen Großeltern ab. Während man sich bei ersteren wirklich fragt, wie aus dem offensichtlich durchweg untalentierten Meyerhoff (jedenfalls stellt er sich als solcher dar) ein so erfolgreicher Schauspieler werden konnte, sind letztere angefüllt mit vielen Anekdoten, die einen immer wieder schmunzeln lassen. Besser lässt sich kaum die Liebe eines Enkels zu seinen Großeltern (und umgekehrt) verdeutlichen.
Ein sehr kurzweiliges, empfehlenswertes Buch.

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Veröffentlicht am 18.11.2020

Spannende Familiengeschichte

Die Schweigende
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Im hinteren Klappentext wird exakt das über die Autorin gesagt, was auch für den vorliegenden Roman zutrifft: Sie verfasst groß angelegte Spannungs- und Familienromane. Groß ist dieses Buch mit 518 Seiten ...

Im hinteren Klappentext wird exakt das über die Autorin gesagt, was auch für den vorliegenden Roman zutrifft: Sie verfasst groß angelegte Spannungs- und Familienromane. Groß ist dieses Buch mit 518 Seiten allemal; spannend ist es, weil es in der Vergangenheit der Protagonistin – der „Schweigenden“ aus dem Buchtitel – einen Lebensabschnitt gibt, über den sie jahrzehntelang nicht geredet hat und der sie zu einem so völlig anderen Menschen gemacht hat, als der sie noch in ihrer Jugend war; Familienroman ist es schließlich auch, da im Mittelpunkt die kürzlich verwitwete Karin mit ihren drei erwachsenen Töchtern steht, zu denen sie nie ein nahes Verhältnis hatte, anders als der Vater, der eine der Töchter auf dem Sterbebett versprechen lässt, den jüngeren Bruder von Karin zu finden, damit die Kinder ihrer Mutter verstehen lernen.
Die akribischen, detektivischen Nachforschungen der mittleren Tochter führen zurück in die deutsche Kinderheimerziehung in den 1950er/1960er Jahren in Deutschland. Was wir über sie erfahren, geht einem wirklich nahe. Das Ziel, das die Autorin laut Nachwort mit diesem Buch verfolgt hat, nämlich das Schicksal eines Heimkindes lebendig werden zu lassen und zu zeigen, welche Auswirkungen die Heimpädagogik auf die folgende Generation eines Heimkindes haben kann, ist ihr jedenfalls bestens gelungen. Die Geschichte liest sich besonders gut, weil sie auf wechselnden Zeitebenen spielt und aus der Perspektive verschiedener Personen erzählt wird. So fügt sich alles bis zu einem versöhnlichen Ende nach und nach zusammen.

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