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Veröffentlicht am 15.04.2022

Das vergessene Fest

Die Aosawa-Morde
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Im Sommer 1973 feierte die Familie Aosawa einen dreifachen Geburtstag. Im Verlauf des Festes fielen 17 Personen einer Vergiftung zum Opfer. Eine Tragödie. Nur die blinde Tochter der Aosawas überlebt erstarrt ...

Im Sommer 1973 feierte die Familie Aosawa einen dreifachen Geburtstag. Im Verlauf des Festes fielen 17 Personen einer Vergiftung zum Opfer. Eine Tragödie. Nur die blinde Tochter der Aosawas überlebt erstarrt im Schock. Nach einer Weile wird der mutmaßliche Täter erhängt in seiner Wohnung gefunden. Der Fall scheint damit abgeschlossen. Er ist jedoch nie aus den Gedanken der Menschen verschwunden. Zehn Jahre später schreibt eine Studentin eine Arbeit über das Verbrechen, welche dann als Roman erscheint und dieser wird ein Bestseller. Und noch immer sind die Rätsel nicht gelöst.

Eine ungewöhnliche Herangehensweise wählt die Autorin dieses Kriminalromans. Die eigentliche Tat hat vor etlichen Jahren stattgefunden und auch das Erscheinen des Buches liegt schon einige Zeit zurück, da erfährt der Leser oder die Leserin aus Interviews, Zeitungsausschnitten oder Tagebucheintragungen vom Geschehen. Dabei muss man sich beim Lesen selbst darüber klarwerden, was wohl passiert sein mag. Siebzehn Tode dürfen nicht ungesühnt bleiben und besteht auch nur der kleinste Zweifel, dass der mutmaßliche Täter es wirklich war, müssen die Tatsachen ans Licht gezerrt werden. Doch wer ist der Interviewer? Und was kann sich nach der langen Zeit überhaupt noch ändern.

Dieser Kriminalroman hat wahrlich eine besondere Note, etwas, worauf man sich einlassen muss, um sich fesseln zu lassen und gefesselt zu sein. Es werden keine fertigen Lösungen angeboten. Das ist ein Pluspunkt und gleichzeitig ein Minuspunkt für die, denen eine klare Aussage lieber ist. Davon abgesehen fühlt man sich wie beim Schälen einer Zwiebel, nach jeder Lage meint man, dem Geheimnis etwas näher gekommen zu sein, und doch sind es eher die Tränen oder noch größere Rätsel, die näher rücken. Auch wenn man sich selbst ein wenig unzulänglich vorkommt, so besticht dieser Krimi durch seine verschachtelte Handlung und besonders durch seine einzigartige Form. Freunde von Kriminalromanen aus dem japanischsprachigen Raum werden hier einen tollen Vertreter des Genres finden.

Veröffentlicht am 04.04.2022

Guter Vater

Was es braucht in der Nacht
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Seine Frau stirbt an Krebs als die Jungs Fus und Gillou zehn und sieben Jahre alt sind. Viel zu früh, um die Mutter zu verlieren. Der Vater versucht sein Bestes, die Mutti zu ersetzen. Im ersten Jahr fährt ...

Seine Frau stirbt an Krebs als die Jungs Fus und Gillou zehn und sieben Jahre alt sind. Viel zu früh, um die Mutter zu verlieren. Der Vater versucht sein Bestes, die Mutti zu ersetzen. Im ersten Jahr fährt er mit den Kindern zelten. Ein schönes Erlebnis, das leider einmalig bleibt. In den folgenden Jahren lassen die schulischen Leistungen von Fus nach. Er beginnt sich herumzutreiben. Der Vater merkt, dass es ausgerechnet die Rechten sind, denen sich Fus zugewandt hat. Wenigstens schafft es Gilliou an eine gute Hochschule in Paris. Doch der Vater weiß nicht mehr, was er mit Fus anfangen soll.

Welche Chance hat man als Elternteil, wenn der Nachwuchs sich in eine Richtung entwickelt, die man sich wirklich nicht wünscht? Hat man selbst Fehler gemacht? Kann man noch etwas unternehmen? Gibt es eine Möglichkeit wieder einen Zugang zu dem Sproß zu finden? Soll wenigstens der Bruder gerettet werden? Der Vater weiß sich nicht zu helfen. Der Versuch, schweigend auf das Beste zu hoffen, scheitert ebenso wie der Versuch, sich gänzlich von seinem Sohn abzuwenden. Kann sein Kind immer sein Kind bleiben, auch wenn er die Ansichten so überhaupt nicht teilt?

Dieser eindringliche Roman über den Verlust des Halts in der Familie fordert die ganze Aufmerksamkeit. Aus Sicht des Vaters muss man miterleben, wie seine Welt zerbricht. Das beginnt schon mit dem Tod der geliebten Frau. Über seine Ehe denkt er, er sei einmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen als er ihr begegnete. Der Vater scheitert darin, für ihren Verlust einen Ausgleich zu bieten. Natürlich muss das nicht dazu führen, dass ein Kind sich einer nationalistischen Partei zuwendet. Beim Lesen ist man ebenso ratlos wie der Vater. Wo hätte eingegriffen werden können? Irgendwann ist es einfach zu spät und nichts mehr zu retten. Und so ist man nach dem Ende der Lektüre schockiert, frustriert und sogar ein Hoffnungsschimmer hat einen bitteren Beigeschmack. Das Buch gibt keine Antworten. Man sollte sich ihm trotzdem aussetzen.

Veröffentlicht am 02.04.2022

Zusammen sind sie stark

Die Gärtnerinnen von Kew Gardens
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Im Jahr 1916 gehen schon viele junge Männer zur Armee. Deshalb ist es für die Kew Gardens schwierig, gute Gärtner zu finden. Mac, verantwortlich für die Einstellungen, hat allerdings nicht mit den Frauen ...

Im Jahr 1916 gehen schon viele junge Männer zur Armee. Deshalb ist es für die Kew Gardens schwierig, gute Gärtner zu finden. Mac, verantwortlich für die Einstellungen, hat allerdings nicht mit den Frauen gerechnet. Gärtner sind schließlich Männer, das sagt ja schon der Name. Er hat aber auch nicht mit seinem Lehrling Jim gerechnet, der das anders sieht und der seinen Mentor überzeugt, seiner Freundin Ivy und der etwas älteren Louisa eine Chance zu geben. Eine gute Wahl, wie sich herausstellt. Nicht nur für die Kew Gardens, sondern auch für die Frauen, die eine enge Freundschaft schließen.

Auch wenn die raue Wirklichkeit nicht an den Kew Gardens und ihren Gärtnerinnen vorbei geht, so ist ihre Tätigkeit und ihre Freundschaft doch ein Hort des Wohlbehagens. Eng arbeiten Ivy, Jim, Louisa und Bernie, der eigentlich als Lehrer tätig war, zusammen. Doch die Auswirkungen des Krieges rücken näher. Immer mehr junge Männer melden sich freiwillig und auch Jim wird bald zum Militär gehen, während Bernie als Pazifist, sich vorsehen muss, nicht unfreiwillig rekrutiert zu werden. Über dieses Thema gehen auch die Meinungen im Volk auseinander. Auch die Freundschaft der vier jungen Leute wird auf die Probe gestellt.

Vor dem Hintergrund eines der ältesten Botanischen Gärten Englands lernt der Leser oder die Leserin wirklich liebenswerte Menschen kennen. In der harten Zeit des ersten Weltkriegs haben es junge Frauen wie Ivy und Louisa nicht leicht. Dennoch kann man den Anbruch neuer Zeiten sehen, denn sie haben den Mut sich zu bewerben und sie werden belohnt. Auch wenn der Lohn eher schmal ist, so kann Louisa sich selbst versorgen und Ivy zum Auskommen von Mutter und Geschwistern beitragen. Louisa und Ivy sind Frauen, die es anpacken. Auch wenn die Gesellschaft noch nicht so weit ist und die Frauenrechte eher hintenanstehen, ein Anfang ist gemacht. Möglicherweise sind die meisten Menschen in diesem Roman etwas zu gut, um wahr zu sein, doch gerade heute ist leider wieder eine Zeit, in der man so märchenhafte Bücher richtig genießt. Wunderbare Frauenfreundschaft, große Liebe und trotz der lähmenden Zeit ist der Aufbruch zu spüren. Ein richtig schönes Leseerlebnis, das die Kew Gardens in Kent auf die Urlaubswunschliste bringen kann.

Veröffentlicht am 27.03.2022

Die Entführung

44 TAGE - Und Deutschland wird nie mehr sein, wie es war
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Am 05. September 1977 wird der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt. Seine Personenschützer werden getötet. Die in Stuttgart Stammheim einsitzenden Terroristen sollen freigepresst werden. ...

Am 05. September 1977 wird der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt. Seine Personenschützer werden getötet. Die in Stuttgart Stammheim einsitzenden Terroristen sollen freigepresst werden. Der Chef des Verfassungsschutzes Roland Manthey soll die Ermittlungen koordinieren, die sofort mit höchster Priorität aufgenommen werden. Er leitet den Stab aus den Spitzen der verschiedenen Behörden und der Politik. Alles muss unternommen werden, um Schleyer zu finden. Wohnungen müssen durchsucht, Fahrzeuge kontrolliert, Informationen gesammelt werden. Die Öffentlichkeit ist schockiert und steht doch hinter den Staatsdienern. Sind die Terroristen diesmal zu weit gegangen? Oder haben sie immer noch Unterstützer in der Bevölkerung?

Aus verschiedenen Blickwinkeln wird die Zeit nach der Entführung Hanns Martin Schleyers geschildert. Da geht es um die fieberhafte Arbeit der Behörden, aber auch um die Gedankenwelt der Politiker, die sich fragen, wie sie mit den Forderungen der Terroristen umgehen sollen, wie weit sie den Rechtsstaat aussetzen können, gar müssen. Doch auch wie die Briefe der Erpresser zu ihren Empfängern gelangen und wie auf die Entführung des Lufthansa Flugzeuges „Landshut“ hingearbeitet wird. Die immer hektischer und verzweifelter wirkenden Politiker und Mitglieder des Stabes, die alles versuchen, um Schleyer zu finden. Nur eines nicht, die Forderungen der Terroristen zu erfüllen.

Der Deutsche Herbst wird diese Zeit genannt, die wohl als unheimliche Bedrohung empfunden wurde und in der viele Fragen aufgeworfen wurden. Wie weit kann der Staat gehen, um an Ermittlungsergebnisse zu kommen? Muss der Staat sich erpressen lassen? Es war sicher eine Bewährungsprobe für den noch jungen Staat, die wohl bestanden wurde, da der Staat noch besteht. Trotz der eher ruhigen Darstellung entwickelt dieser Roman, der zum großen Teil auf Tatschen beruht, einen großen Sog. Und er animiert zum Nachlesen über eine Zeit, die man vielleicht als Kind miterlebt hat oder die einem ob der Jugend doch eher fremd ist. Der Autor kann sich dabei neben seinen eigenen Recherchen auch auf die Erfahrungen seines Vaters stützen, der an den Ermittlungen beteiligt war. Ein packender Thriller über eine der schlimmsten Krisen, die der deutsche Staat zu bestehen hatte.

Veröffentlicht am 24.03.2022

Die Stunden

Meinetwegen
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Katharina ist in einer geschlossenen Abteilung einer Jugendeinrichtung. Für wenigstens eine Stunde in soll sie mit dem Psychiater Herrn Conti sprechen. Sie ist hier, weil sie straffällig geworden ist. ...

Katharina ist in einer geschlossenen Abteilung einer Jugendeinrichtung. Für wenigstens eine Stunde in soll sie mit dem Psychiater Herrn Conti sprechen. Sie ist hier, weil sie straffällig geworden ist. Sie ist hier, weil sie verstanden werden soll. Doch erstmal bestimmt Katharina den Weg. Vielleicht ist es eines der ersten Male, wo sie bestimmen kann. Und der Psychiater Conti lässt sich darauf ein, um ihr die Öffnung zu erleichtern. So beginnt Katharina zu erzählen, etwas zusammenhanglos zunächst, dann immer flüssiger. Dabei ist sie zuerst zurückhaltend. Doch schließlich fängt sie sogar an, den Stunden entgegen zu sehen.

Der Leser begleitet Katharina zu ihren Besuchen bei dem Psychiater. Aus ihrer Sicht kann er an den Stunden teilnehmen und sich nach und nach in sie hineinfühlen. Eigentlich sperrt sich Katharina gegen diese Stunden, sie sieht nicht, was es bringen soll. Bald merkt sie jedoch, dass es ihr leichter fällt, die Gespräche zu führen. Und sie führt die Gespräche. Eine ungewöhnliche Form einer Gesprächstherapie, aber schließlich doch wohl hilfreich. Was hat dazu geführt, dass Katharina in der Einrichtung gelandet ist? Was hat Katharina in ihrer Kindheit erlebt. Ist ihre Reilienz stark genug, um zu bestehen?

Mit seinem ungewöhnlichen Stil der direkten Teilnahme aus Sicht der Patientin an den Gesprächsstunden besticht dieser Roman und zieht einen in seinen Bann. Was einem fehlen könnte, ist eine klarere Sicht auf die Kindheitserlebnisse der jungen Katharina und wie diese schließlich zu dem Ereignis geführt haben. Dennoch bleibt man fasziniert von der Form dieses Romans, die die kleinen Änderungen von Stunde zu Stunde zutage fördert. Vielleicht versteht man auch den Sinn einer Gesprächstherapie, hin zu einem besseren Verständnis von sich selbst, zur Erkenntnis über das eigene Selbst und vielleicht auch zu einem Fortschritt, der Katharina hilft, sich selbst besser zu erkennen. Diesem schmalen Büchlein hätten vielleicht ein paar Seiten mehr gut getan, um Katharinas Leben noch genauer zu beleuchten, aber dennoch bleibt es dabei, man hat einen Roman, der einen gefangen nimmt.