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Veröffentlicht am 30.11.2021

Fundiert recherchiert mit Längen

Die Tränen der Welt
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Im Barcelona des Jahres 1901 geraten der aufstrebende Maler und Keramiker Dalmau Sala, seine Schwester Montsserat und seine große Liebe Emma in die Straßenkämpfe der beginnenden Revolution. Dann geschieht ...

Im Barcelona des Jahres 1901 geraten der aufstrebende Maler und Keramiker Dalmau Sala, seine Schwester Montsserat und seine große Liebe Emma in die Straßenkämpfe der beginnenden Revolution. Dann geschieht ein Unglück, und das Leben aller gerät aus den Fugen…
Eigentlich bin ich keine Liebhaberin historischer Schmöker, aber das Barcelona des beginnenden 20. Jahrhunderts und das Zeitalter des Modernisme als Setting haben mich sehr gereizt. Und tatsächlich liegt für mich, um das vorwegzunehmen, hier auch die große Stärke des Romans. Detailreiche, präzise und zugleich bildgewaltige Milieuschilderungen lassen nicht nur die legendären Bauwerke der bis heute das Stadtbild prägenden Architekten quasi vor unseren Augen entstehen.
Ildefonso Falcones, spätestens berühmt geworden mit „Die Kathedrale des Meeres“, schafft es ebenso eindringlich, uns das harte Leben der Arbeiterklasse und deren revolutionäres Aufbegehren vor Augen zu führen. Eine Szene, die ich für literarisch besonders gelungen halte, hat sich fest in mein Gedächtnis gebrannt, obwohl ich sie bereits vor längerer Zeit gelesen habe: In elitärem Kreise werden u.a. Dalmaus Zeichnungen des Straßenmädchens Maravillas und ihrer Gefährten ausgestellt. Der Autor lässt dabei vor Dalmaus innerem Auge das Bild der zerlumpten Kinder erstehen, während er sich die für damalige Verhältnisse unerhörtesten kulinarischen Köstlichkeiten des Künstlerempfangs im Munde zergehen lässt. Während die Sektperlen auf der Zunge zerplatzen, steht zugleich der Gestank der Gosse im Raum. Je klarer sich die Konturen der gesellschaftlichen Spaltung abzeichnen, um so nachdrücklicher wächst eine kalte Wut heran, gleichermaßen unter den Protagonisten wie den Lesenden. Dass Letztere emotional erreicht werden, steht außer Frage. Dennoch schlägt die Liebesgeschichte zwischen Emma und Dalmau für meinen Geschmack einige Volten zu viel. Auch die Zeichnung der Charaktere gerät mitunter etwas holzschnittartig. Nicht alle Handlungen, Gedanken und Gefühle der Protagonisten waren für mich nachvollziehbar, obgleich sie in überschaubarer Zahl gehalten sind und viel Raum für eine schlüssige Entwicklung gegeben ist. So wird dem intriganten Straßenmädchen Maravillas deutlich mehr Macht verliehen als glaubhaft wäre. Über ihren Hintergrund, ihr Leben außerhalb der sichtbaren Ränkespiele, erfahren wir dagegen so gut wie nichts.
Nach etwa der Hälfte der Lektüre bin ich aufs Hörbuch umgestiegen, und ich hatte den Eindruck, dass einige stilistische Schnitzer, die dem Lektorat der Buchfassung entgangen sind, hier geglättet wurden.
Für Liebhaber solide recherchierter historischer Romane mit opulenter Ausstattung ist das Buch sicher ein guter Griff.
Ich bin offenbar nur eine Liebhaberin Barcelonas und lasse den nächsten Falcones vermutlich liegen.



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