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Veröffentlicht am 29.07.2020

Kleine Entscheidung, große Wirkung

Die Zeit, die bleibt
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Wer auch mal ungewöhnliche Krimis abseits der breiten Masse, der Lokalkrimis, der humorigen Krimis und der skandinavischen Krimis lesen möchte, bekommt mit “Die Zeit, die bleibt” eine Geschichte, die nichts ...

Wer auch mal ungewöhnliche Krimis abseits der breiten Masse, der Lokalkrimis, der humorigen Krimis und der skandinavischen Krimis lesen möchte, bekommt mit “Die Zeit, die bleibt” eine Geschichte, die nichts von den gewohnten Mustern und den üblichen Erwartungen erfüllt.

Ja, es gibt Waffen, Schüsse und Leichen. Aber ansonsten spielt sich fast alles dieses in München und Berlin angesiedelten Buches in den Köpfen der Protagonisten ab. Zwei sehr verschiedene Männer auf den so verschiedenen Städten, deren Schicksale auf krude Art verwoben scheinen.

Hier der Anwalt, geschieden, zwei Kinder, ruhig, zurückgezogen und sehr vernunftgeleitet. Dort der junge gebürtige Russe, der zwar physisch in Deutschland, psychisch aber an vielen anderen Orten lebt.

Ausgangspunkt ist ein Unfall mit Fahrerflucht, den der Anwalt Colver nur knapp überlebt. Fieberhaft sucht er nach dem Grund, warum er das Ziel sein sollte und ist dem Täter mal näher, mal ferner auf der Spur.

Die Geschichten der beiden Männer werden mit den Kapiteln abwechselnd erzählt und für beide scheint es eine gewisse “Zeit, die bleibt” zu geben. Und so wie die Handlung langsam, aber geradewegs zu jenem Punkt hin strebt, an dem die beiden Geschichten kollidieren, so strebt auch Thomas Palzers Stil immer einem gewissen Punkt zu. Knapp, zielstrebig, ohne viel unnötige Füllwörter und mit einer gewählten Sprache.

“Die Zeit, die bleibt” endet fast so unvermittelt wie es beginnt, als der Leser in das Leben dieser Charaktere geworfen wird und diese Leben wieder ruckartig verlässt. Es ist ein Streifschuss, ein Augenblick, eine kleine Zeitspanne nur, in der wir die Protagonisten kennenlernen.

Ein unkonventionelles Buch, das zeigt wie sehr wir Menschen von Umwelt und unserer Psyche bestimmt werden, welch große Effekte selbst kleinste Entscheidungen haben können.

Veröffentlicht am 29.07.2020

Von Plänen und Selbstständigkeit

Die Smartphone-Epidemie
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Auch wenn Manfred Spitzer selbst sagt, dass ihm in Amerika das umständliche Schreiben ausgetrieben wurde, sind seine Sachbüchern natürlich zu Beginn immer ein Wenig ungewohnt und “umständlicher” als Belletristik.

Nach ...

Auch wenn Manfred Spitzer selbst sagt, dass ihm in Amerika das umständliche Schreiben ausgetrieben wurde, sind seine Sachbüchern natürlich zu Beginn immer ein Wenig ungewohnt und “umständlicher” als Belletristik.

Nach ein paar Seiten gibt sich das meist wieder - und wenn man nicht mit anderen Büchern abwechselt, lesen sich die wissenschaftlich untermauerten Berichte und Ermahnungen recht flott.

Wer sich darüber hinaus bilden will, kann zwar bei einer der hunderten angegebenen Quellen im Literaturverzeichnis (44 Seiten!) weiterlesen, man ist aber auch so bestens informiert und der Überblick den Spitzer in verschiedenen Bereichen gibt, ist eindringlich.

Einen Erwachsenen, der ohne Touchscreens, (übermäßigen) Computerkonsum und Smartphones aufgewachsen ist und diese Dinge erst später nützt, werden die Appelle relativ kalt lassen - und das auch teilweise zurecht. Abgesehen von Haltungsschäden und der Gefahr, als “Smombie” kopflos wo dagegenzulaufen, kann zumindest kognitiv nicht mehr so viel passieren.

Kindern aber, die alle Fähigkeiten die uns Menschen ausmachen, erst erlernen müssen, fährt die moderne Technologie in die Parade. Denn genau die Mechanismen wie Empathie, Sozialisierung oder einfach das Naturerleben werden von Smartphones und anderem kräftig unterbunden. Das lernt man nicht über den Bildschirm.

Ganz abgesehen davon, dass die Menschen kaum mehr beisammensitzen und miteinander reden weil sie stattdessen auf dem Touchscreen wischen müssen. Ist bei Erwachsenen traurig genug. Aber was hätte das wohl mit mir angestellt, wäre meine Mutter schon so gewesen?

Bitte liebe Eltern: Setzt euch über den Gruppendruck hinweg und gebt eurem Kind so spät wie möglich, Pläne schmieden und versteckt auch mal die TV-Fernbedienung.

Mit all den dadurch geförderten und zumindest nicht eingeschränkten Fähigkeiten wird es sich dann auch erst gebührend bei euch bedanken können und sein Leben beruflich und privat erfolgreich meistern. Ihr glaubt nicht, dass der Unterschied so groß sein kann? Bitte “Die Smartphone-Epidemie” lesen.

Veröffentlicht am 22.07.2020

Fesselnd und unterhaltsam

Abgrund
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Islands witzigstes “Kein-Pärchen”-Pärchen arbeitet wieder an einem gemeinsamen Fall. Kommissar Huldar ist das nur recht, kann er doch so ganz unauffällig Zeit mit Kinderpsychologin Freya verbringen. Nach ...

Islands witzigstes “Kein-Pärchen”-Pärchen arbeitet wieder an einem gemeinsamen Fall. Kommissar Huldar ist das nur recht, kann er doch so ganz unauffällig Zeit mit Kinderpsychologin Freya verbringen. Nach einer etwas länger zurückliegenden gemeinsamen Nacht hofft er immer noch auf mehr während sie zu viele Dinge an ihm stören.

Diesmal werden sie zusammengeführt als ei kleiner Junge ohne seine Eltern in einer fremden Wohnung gefunden wird. Brisant dabei: die Wohnung gehörte einem Mann, den Huldar erst kurz vorher beruflich zum ersten Mal getroffen hat.

Der Junge könnte dazu beitragen, seine Eltern zu finden oder genauer zu schildern wie er in die Wohnung kam, aber vieles bleibt vage und verzögert die Ermittlungen. Welches schmutzige Geheimnis verbirgt sich hinter der makellosen Fassade eines Mordopfers?

Welche Abgründe lauern hinter verschlossenen Türen ganz normal wirkender Familienhäuser? Was verheimlichen die Freunde des Toten und warum wirft jedes Verhör mehr Fragen auf als es beantwortet?

Neben den klassischen Ermittlungen und der Geschichte zwischen Freya und Huldar kommen weitere bekannte und auch neue Charaktere zu Ehren. “Abgrund” ist nach “DNA”, “Sog” und “R.I.P.” der vierte Band mit den beiden und Huldars Verhältnis zu seiner Chefin ist nach wie vor nicht das Entspannteste. Zudem sie neuerdings besonders reizbar ist, denn die Abteilung bekam eine Studentin zugewiesen, die in vielerlei Hinsicht Erlas Gegenstück darstellt. Der Thriller fesselt und unterhält gleichermaßen.

Veröffentlicht am 18.07.2020

Langer Anlauf, packendes Finale

Der siebte Schrei
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Ein Serientäter geht um. Im Nordwesten der USA, rund um Idaho und Oregon, werden in regelmäßigen Abständen Kinder entführt und man findet später nur mehr ihre gefolterten toten Körper.

Agent Deacon Hamilton ...

Ein Serientäter geht um. Im Nordwesten der USA, rund um Idaho und Oregon, werden in regelmäßigen Abständen Kinder entführt und man findet später nur mehr ihre gefolterten toten Körper.

Agent Deacon Hamilton wird vom FBI, als diese Akte um einen weiteren Fall reicher ist, darauf angesetzt, das einzige Opfer das bisher entkommen konnte, zu befragen. Doch dabei gibt es einige Probleme, die Deacon erst noch entdecken wird.

Eines davon ist mit Sicherheit er selbst - Deacons bewegte jüngere Vergangenheit (es sei nicht zu viel verraten, aber nach einem Zwischenfall im Dienst wäre er fast seinen Job los gewesen) lässt ihn häufig zwischen Genie und Wahnsinn pendeln. Er ist aktuell nervlich angeschlagen, körperlich nicht bei 100 Prozent und wird von Albträumen und Selbstzweifel geplagt.

Nicht nur ein verkappter Ermittler sondern ein richtige tragischer Held also. Seine Agentenausbildung und seine Instinkte helfen ihm in kritischen Situationen und seine Menschenkenntnis kehrt langsam zurück.

Auch viele der Nebenfiguren sind interessant und glaubwürdig gezeichnet. Man spürt auch, dass besonders da viel Recherchezeit hingeflossen ist, wenn Autorin Linda Budinger von Aphasie, Synästhesie oder den Nez Percé schreibt.

Nach einem interessanten Start mit Rückblick und dem Kennenlernen der Hauptfigur muss man allerdings etwas warten bis es dann wieder so richtig losgeht. Dann bekommt die Handlung letztlich einen intensiven Thriller-Touch und auch ihr großes Finale.

Veröffentlicht am 14.07.2020

Glaubenthals Miss Marple schlägt wieder zu

Helga räumt auf
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Mit feinem Humor und zuweilen dem Pointen-Hammer zieht Thomas Raab über sein Heimatland und Eigenheiten dessen Bewohner her. Er nimmt die dörfliche Idylle aufs Korn und überzeichnet Traditionen ebenso ...

Mit feinem Humor und zuweilen dem Pointen-Hammer zieht Thomas Raab über sein Heimatland und Eigenheiten dessen Bewohner her. Er nimmt die dörfliche Idylle aufs Korn und überzeichnet Traditionen ebenso wie familiäre Eigenheiten und lässt auch die Schattenseiten wie schwierige Ehen und Kindheitserlebnisse nicht außer Acht.

Die Protagonisten im fiktiven Glaubenthal haben alle ihre “typisch österreichischen” Eigenheiten und gewissen Verhaltensweisen (abseits der Morde natürlich) kennt wohl jeder “Einheimische” von sich oder anderen.

Und obwohl es eine Polizeistation gibt, ermittelt das Meiste der Geschehnisse doch Hannelore Huber, glückliche Witwe und leidenschaftliche Gärtnerin, da sie teils durch Zufall und teils durch Kombinationsgabe öfter am richtige Ort auftaucht als ihr lieb ist.

Als ein tragischer Unfall einem älteren Bauern das Leben kostet, bleibt in Glaubenthal kein Stein auf dem anderen und es werden ihm weitere Bewohner über den Jordan folgen. Seltsamerweise scheinen diese Fälle nur zwei Familien zu betreffen, die sich großteils noch nie leiden konnten.

Es entwickelt sich eine skurrile Krimi-Geschichte um alte Geheimnisse, missglückte Ehen und folgenschwere Affären, fast wie im “richtigen Leben” also.

Achtung: Aufgrund der vielen Namen die auch noch in diversen Verbindungen zueinander stehen, kann es leicht zu Verwirrung kommen. Da es keine Übersicht zu Beginn gibt (erst später im Buch gibt es einen kleinen Stammbaum), sind Papier und Stift ergänzend zur Lektüre vielleicht hilfreich.

Sehr amüsant auch die großen Abschnitts-Überschriften die allesamt Buchtitel sind, die im Grunde nichts mit der Handlung zu tun haben, aber dennoch immer in die Handlung eingebunden sind.

“Helga räumt auf” ist Band 2 der Reihe mit Hannelore Huber, nach “Walter muss weg”.