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Veröffentlicht am 06.10.2018

Starke Geschwister

Arminuta
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Wenn Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, nicht genug Energie für die Zuwendung zu ihren Kindern haben, müssen die Kinder stark sein um zu überleben.

Nachdem Arminuta von einer entfernten ...

Wenn Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, nicht genug Energie für die Zuwendung zu ihren Kindern haben, müssen die Kinder stark sein um zu überleben.

Nachdem Arminuta von einer entfernten Tante Adalgisa überaus liebevoll groß gezogen worden ist, kehrt sie im dreizehnten Lebensjahr gezwungenermaßen zu ihren leiblichen Eltern zurück. Dort erlebt sie quasi einen Kulturschock. Mit all ihren Geschwistern haust sie, ungeachtet von Alter und Geschlecht, zusammen in einem heruntergekommenen Raum. Ihre Schwester Adriana macht jede Nacht ins gemeinsame Bett. Zu Essen gibt es minderwertige Lebensmittel. Um halbwegs satt zu werden, muss man gegen die Anderen um die eigene Portion kämpfen.

Arminuta, deren richtigen Namen wir nicht kennen, mochte ich von Beginn an. Am Anfang, als sie von der Situation zu Hause bei den leiblichen Eltern überrollt wurde, empfand ich Mitleid für sie. Später wich das Mitleid der Bewunderung. Arminuta lernt sehr schnell in diesem herausfordernden Umfeld aus Armut, Hunger und Prügelstrafe zurecht zu kommen. Dabei hilft ihr die „Verbrüderung“ mit den zunächst unbekannten Geschwistern. Zu ihnen, insbesondere zu Vincenzo, Adriana und Giuseppe, entwickelt Arminuta eine so tiefe Liebe, dass ihr später jede Trennung ungeahnte Schmerzen bereitet. Vincenzo und Adriana sind dabei die beiden Charaktere, die Arminuta stark machen, weil sie sich ihrer sofort nach der Ankunft annehmen, ihr die Zuneigung zu Teil werden lassen, die die Eltern zu geben nicht in der Lage sind, und ihr zeigen, dass Armut kein Ausschlusskriterium für Spaß sein muss.

Neben der beeindruckenden Geschichte der Geschwister hat mir auch Arminutas Beziehung zu ihrer Mutter gefallen. Sie wirkt zwar zu keinem Zeitpunkt wirklich liebevoll, ist gleichzeitig dennoch von Liebe gekennzeichnet. Die Gesten sind nur klein, aber intensiv, wie zum Beispiel das Hühnerbein zu Beginn.

Insgesamt war es mir eine Freude, Arminuta zu lesen, auch wenn ihre Geschichte teilweise sehr bedrückend ist. Der Schreibstil war gut lesbar, hat zu ausgiebigen Lesevergnügen verleitet. Ich musste mich regelrecht zwingen, zwischendurch eine Pause einzulegen, damit ich mehr als einen Tag lang, etwas von diesem schön Buch hatte.

Fazit: Klare Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 09.03.2024

Es gibt nur eine Macht. Die Macht zu töten.

Das Philosophenschiff
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Die Hundertjährige Architektin Anouk Perlemann-Jacob bittet einen wenig renommierten Schriftsteller ihr Leben in einem Roman zu verarbeiten. Die Geschichte beginnt, als Anouk auf Lenins Befehl hin mit ...

Die Hundertjährige Architektin Anouk Perlemann-Jacob bittet einen wenig renommierten Schriftsteller ihr Leben in einem Roman zu verarbeiten. Die Geschichte beginnt, als Anouk auf Lenins Befehl hin mit einem Philosophenschiff ins Exil deportiert wird. Wenige Personen der sogenannten Intelligenzija sind mit ihr auf dem völlig überdimensionierten Schiff. Die Crew des Schiffes bleibt für die Passagiere verborgen. Sie haben nur einander, vermuten Spionage, die Stimmung ist von Misstrauen geprägt. Als das Schiff mehrere Tage auf offenem Meer hält, geht die Angst um.

Vor diesem Hintergrund spinnt Michael Köhlmeier eine Story aus historischen Fakten und frei erfundenen Lügen zusammen, die die Erinnerungen der gealterten Anouk Perlemann-Jacob darstellen sollen. Natürlich verändern sich Erinnerungen im Laufe der Zeit, Details gehen verloren, Lücken werden aufgefüllt. Doch in solch extravaganter Ausprägung wie hier sind mir Erinnerungen noch nie begegnet. Ehrlich gesagt hat mich damit der Autor auch ein Stück weit abgehängt, da ich nicht so recht ausmachen kann, was er seiner Leserschaft mit diesem Roman sagen will. Will er alternative Fakten anprangern? Will er auf sich wiederholende Geschichte aufmerksam machen? Vieles ist mir ein Rätsel geblieben. Themen werden angerissen, später nicht weiterverfolgt. Personen, die der Geschichte wenig dienen, nehmen in meiner Wahrnehmung viel Raum ein. Soll unsere Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit widergespiegelt werden oder die ausufernde Phrasendrescherei von Leuten, die eigentlich nichts zu sagen haben? Vielleicht alles davon vielleicht Nichts.

Dabei habe ich die Kapitel einzeln betrachtet, eigentlich ganz gern gelesen. Rein sprachlich hat mich der Roman schon abgeholt. Beeindruckt haben mich die Ausführungen, die Köhlmeier Lenin über Macht sprechen lässt, sowie Stalins Ausführungen über die leichtfertig aufgegebene Freiheit des Volkes, um selbst keine Verantwortung und kein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Das gibt mir schon zu denken.

Insgesamt ist mir „Das Philosophenschiff“ allerdings zu zerfasert und über weite Strecken auch zu weit weg von historischer Glaubwürdigkeit. Zudem hätte ich mir ein Nachwort oder irgendeine Erklärung gewünscht, die mich nochmal aus anderer Richtung abholt. So bleibe ich nach der Lektüre etwas ratlos zurück.

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Anstrengendes Lesevergnügen

Unsereins
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Ich habe schon lange keinen vergleichbar anstrengenden Roman mehr gelesen. Durch die Lektüre von Archipel wusste ich, dass der Stil von Inger-Maria Mahlke durchaus anspruchsvoll sein kann. In diesem Sinne ...

Ich habe schon lange keinen vergleichbar anstrengenden Roman mehr gelesen. Durch die Lektüre von Archipel wusste ich, dass der Stil von Inger-Maria Mahlke durchaus anspruchsvoll sein kann. In diesem Sinne hat sie sich hier noch übertroffen. Damit möchte ich den Roman nicht in ein schlechtes Licht rücken, sondern lediglich auf die erforderliche Zeit und Konzetration aufmerksam machen.

Ohne die Stadt Lübeck auch nur ein einziges Mal zu benennen, stellt sie als kleinster Staat des Deutschen Kaiserreichs das Hauptsetting der von 1890 bis 1906 dargestellten Geschichte der Familie Lindhorst dar. Die Familiengeschichte selbst wird sehr detailreich erzählt, die Familienmitglieder treten insbesondere auch aufgrund politischer Verflechtungen mit jeder Menge weiterer Personen in Kontakt. Wir haben es also mit einer hohen Anzahl an Charakteren zu tun, die fast ausschließlich durch ihr Handeln zum Leben erweckt werden. Ihre präzise Optik sowie ihre Gefühlswelt bleiben der Leserschaft weitestgehend verborgen. In diesem Kontext ist es schwierig, sich ein umfassendes Bild von den handelnden Personen zu machen, geschweige denn Nähe zu ihnen aufzubauen. Insgesamt waren es für meinen Geschmack auch zu viele Charaktere.

Obwohl sich der Roman überwiegend entlang des Zeitstrahls bewegt, sind die verschiedenen Zeitschienen nicht gut erkennbar. Es werden ungekennzeichnete Rückblicke eingestreut, die meinen Lesefluss gehemmt haben. Dadurch entstehen Längen, die eigentlich nicht notwendig wären. Denn was mir an „Unsereins“ gefällt, ist die vermittelte Atmosphäre, der Umgang der Leute miteinander, Eltern mit ihren Kindern, Politiker untereinander und mit ihren Angestellten. Interessant auch das Verhalten gegenüber Minderheiten. Es entsteht darüberhinaus ein Eindruck zum Leben seinerzeit an sich, wie beschwerlich es für manche Gesellschaftsschicht war. Amüsant habe ich die Verhaltensregeln in Liebesdingen empfunden. Insgesamt habe ich die Erzählweise ähnlich wahrgenommen wie Gespräche zwischen meinen Großeltern und deren Freunden, denen ich als kleines Kind beiwohnen durfte. Dieses Wecken von Erinnerungen gefällt mir.

Trotzdem kann ich den Roman nicht uneingeschränkt weiterempfehlen. Man muss sich schon sehr darauf einlassen und mehr Lesekapazität als gewohnt investieren.

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Veröffentlicht am 07.09.2023

Ein toller Start, hinten raus fehlt mir die literarische Ausdauer

Gewässer im Ziplock
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Die Eltern der Hauptfigur Margarita leben getrennt. Masha, die Mutter, lebt in Chicago, der Vater, Avi mit Margarita in Berlin. Avi ist Chasan in einer jüdischen Gemeinde. Margarita besucht das jüdische ...

Die Eltern der Hauptfigur Margarita leben getrennt. Masha, die Mutter, lebt in Chicago, der Vater, Avi mit Margarita in Berlin. Avi ist Chasan in einer jüdischen Gemeinde. Margarita besucht das jüdische Gymnasium. Die beiden führen ein bescheidenes Leben. Wie viele 15-jährige Mädchen denkt Margarita nur an Jungs, insbesondere an Nico. Sie verbringt den Sommer wie zuvor in Amerika bei den Großeltern, langweilt sich, nimmt an Sommerkursen teil. Langsam ist sie zu alt für die Großelternbesuche. Doch plötzlich soll Margarita aus ihrer Lethargie gerissen werden und mit ihrer Mutter, die sie kaum kennt, nach Israel reisen.

Gefallen hat mir vor Allem der Anfang des Romans. Es wird das Leben von Avi und Margarita beschrieben. Ich mochte die Passagen über das Vorbeten bzw. das Singen sehr gern. Ich konnte mich der schönen Atmosphäre regelrecht hingeben. Avis begleitende Gedanken waren sehr angenehm zu lesen. Ich dachte so bei mir: „Welch ansprechender Glaube?“ Dabei ist sogar das Warten mit dem Gebet bis 10 Herren anwesend sind zu verschmerzen.

Die Darstellung von Margarita als trotzköpfige Teenagerin war ebenfalls gelungen wie auch das Zusammenspiel mit Avi. Glaubwürdig kommen mir darüberhinaus die Anzahl der jugendlichen sexuellen Handlungen und die Lügen in diesem Kontext vor. Das Miteinander von Großeltern und Margarita war mit einer ordentlichen Portion Humor gespickt. Die Ausführungen zu vorherrschenden Lautstärken sowie zu sämtlichen Kochaktivitäten waren einfach nur köstlich.

Ins Kippen kam mein Wohlwollen dem Roman gegenüber erst mit der Reise nach Israel. Wie die Reise selbst, wirkt wie Vieles erzwungen. Ich habe nicht unbedingt verstanden, warum der Familienrat Margarita mit ihrer Mutter zusammen bringt. Wer ist in diesem Sinne der Familienrat? Ob Avi von der Richtigkeit der Reise überzeugt war, blieb mir ebenfalls verbogen. Dieses Konstrukt mit der Reise hat mich irgendwie abgehängt. Deshalb habe ich einen Klemmer damit. Weniger gefallen haben mir darüberhinaus die vielen Streitereien. Zwischen Margarita und den Erwachsenen erschien es noch halbwegs normal, aber Masha und Avi, das war zu viel und zu kindisch. Ich konnte lange nicht mehr erkennen, wo das Alles hinführen soll. Deshalb hat mich die zweite Hälfte nicht überzeugt. Der literarische Wert hatte zu diesem Zeitpunkt leider ebenfalls stark abgenommen.

Ingesamt wirkt es, als wäre dem Roman irgendwann die Luft ausgegangen. Das anfänglich hohe Niveau konnte leider nicht gehalten werden.

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Veröffentlicht am 29.07.2023

Ausführliche Charaktergestaltung mit punktuellen Spannungsmomenten

Refugium
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Refugium ist ein sicherer Ort, an dem jemand seine Zuflucht findet, an den er sich zurückziehen kann, um ungestört zu sein. Wenn man sich diese Erläuterung beim Lesen bewusst macht, lässt sich der Verlauf ...

Refugium ist ein sicherer Ort, an dem jemand seine Zuflucht findet, an den er sich zurückziehen kann, um ungestört zu sein. Wenn man sich diese Erläuterung beim Lesen bewusst macht, lässt sich der Verlauf der Story durchaus nachvollziehen.
Sie startet mit einem Prolog, der schonungslos ein Verbrechen beschreibt, dass seinesgleichen sucht. Die Gäste einer Mittsommer-Party werden mittels Schnellfeuerwaffen mitsamt der ganzen Festtafel niedergemäht. Nur die Tochter des Gastgebers, Astrid Helander, überlebt. Schockiert von den Erlebnissen spricht sie kein Wort mehr.

Julia Malmros und Kim Ribbing befanden sich während des Massakers auf der Nachbarinsel. Beide starten umgehend mit Ermittlungen, obwohl ihnen das gar nicht zusteht. Julia Malmros ist zwar ehemalige Polizistin, aktuell allerdings als Krimiautorin tätig. Kim Ribbing ist ein Cracker. Er soll Julia bei ihrem neuen Buch mit seinem Fachwissen unterstützen. Die eigentliche, also die polizeiliche Ermittlung obliegt Jonny Munther, ausgerechnet Julias Ex-Mann.

In dieser Konstellation gelingt der schwedischen Polizei wenig. Die Ermittlungen gehen dermaßen schleppend voran, dass die Polizei insgesamt in einem schlechten Licht erscheint. Das mochte ich eher nicht so. Natürlich ist durch die Ex-Beziehungs-Gemengelage ein gewisses Durcheinander vorprogrammiert, aber ich hätte mir mehr Gleichgewicht zwischen den Ergebnissen der Hobbyermittler und der richtigen Polizei gewünscht. Bei so einem Fall wäre zudem ein Machtwort seitens der Polizei gegenüber Julia und Kim irgendwann angebracht gewesen.

Insgesamt wird mir in diesem sogenannten Thriller auch zu wenig ermittelt. Brenzlige Situationen sind selten und werden aus meiner Sicht nicht richtig ausgekostet. Dabei sind die Ideen an sich vielversprechend. Dadurch bleibt die Spannung im ganzen Roman lediglich auf Sparflamme. Richtig atemlos war ich nur während des Prologs. Ich finde, hier wurde viel verschenkt.

Lindqvist konzentriert sich mehr auf die Schaffung seiner Figuren, hauptsächlich Julia und Kim. Die Hintergrundinformationen zu den Beiden sind zwar attraktiv, hätten meines Erachtens aber zurückhaltender eingestreut werden können. Auf manches Detail hätte ich zu diesem Zeitpunkt auch ganz verzichtet. Es stehen schließlich noch weitere Bände zur Verfügung. Das Kennenlernen der Beiden ist jetzt so turbomäßig erfolgt, dass ich mir vorkomme, als hätte ich direkt nach der ersten Begegnung alles über Julia und Kim auf Social Media recherchiert.

Ich bin mir nicht sicher, ob mir das gefällt. Denn eigentlich wollte ich einen spannenden Thriller lesen. Dieses Genre war in Refugium leider nur in Ansätzen zu finden. Deshalb weiß ich auch noch nicht, ob ich Signum und Elysium lesen werde.

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