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Veröffentlicht am 10.05.2019

Kriegerisches Ostrom - anspruchsvoll

Die letzte Blüte Roms
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Kaiser Justinian startet seine Karriere als Gewinner eines harten Konkurrenzkampfes mit dem Zwang, schnellstmöglich zu beweisen, das er tatsächlich der Auserwählte Gottes ist. Nach anfänglichen mäßigen ...

Kaiser Justinian startet seine Karriere als Gewinner eines harten Konkurrenzkampfes mit dem Zwang, schnellstmöglich zu beweisen, das er tatsächlich der Auserwählte Gottes ist. Nach anfänglichen mäßigen Erfolgen muss Justinian mit dem Nika-Aufstand einen herben Rückschlag hinnehmen. Um die Kaiserwürde nicht zu verlieren, muss zwingend ein Erfolg her. Dieser soll in Nordafrika gegen die Vandalen realisiert werden.

Im Oströmischen Reich wiegen Siege auf dem Schlachtfeld sehr viel schwerer als sämtliche anderen politischen Erfolge. So werden immer wieder langwierige Mobilmachungen von Streitkräften gestartet, Versorgungslinien aufgebaut, immer neue Kriege angefangen. Justinian tritt gegen die Vandalen, Berber, Ostgoten, Perser und viele andere an. Die Feldzüge finden an allen Landesgrenzen statt, teilweise auch zeitgleich, sind so teuer, dass Justinian seine Soldaten nicht zuverlässig entlohnen kann. Meutereien und Überlaufen zum Gegner sind die Folge.

Neben den Auseinandersetzungen im Feld hat Justinian weitere Herausforderungen im Inneren zu bewältigen. Mit seiner Rechtsreform lässt der Kaiser die bis dahin redundante und widersprüchliche Rechtslage entschlacken, aufräumen, neu sortieren. Die langwierige Überarbeitung der Gesetzgebung wird im Codex Iustinianus fixiert. Zudem wirkt Justinian der Spaltung der Oströmischen Kirche entgegen. Als wäre das noch nicht genug für ein Lebenswerk, führt er als Bauherr eine neue Architektur im Kirchenbau ein. Jetzt finden viel mehr Menschen in den Kirchen Platz. Somit erreicht auch die Christianisierung ein neues Level.

Peter Heather erklärt in elf Kapiteln die Vorgeschichte von Justinians Herrschaft, begleitet seine gesamte Kaiserschaft und blickt auf die Nachwirkungen. Er bedient sich einem deutlich wissenschaftlichen Stil, bringt das gesamte Zeitgeschehen in Zusammenhang. Auch wenn es mir zeitweise schwer gefallen ist, bei der Anzahl an Mitstreitern und Gegnern den Überblick über die einzelnen Lager zu behalten, ist doch letztlich durch die verschiedenen Winkel, aus denen Peter Heather die Kaiserschaft beleuchtet, ein detailreicher, ganzheitlicher Einblick in ein „verrücktes“ Zeitalter entstanden. Ergänzt wird das Werk von einem Anhang mit Quellenausweis, Zeitleiste, Glossar, Anmerkungen, Bibliographie, Bildnachweis und Register.

Insgesamt empfinde ich das Werk für den populärwissenschaftlichen Leser wie mich schon recht anspruchsvoll. Mit ein wenig mehr Aufwand, dem ein oder anderen Zurückblättern lässt sich dennoch ein gutes Verständnis der Materie erreichen. Die sehr schöne Aufmachung und die durchdachte Strukturierung machen „Die letzte Blüte Roms“ nach der Erstlektüre zu einem perfekten Nachschlagewerk. Gern empfehle ich es allen Freunden von Geschichte weiter.

Veröffentlicht am 29.04.2019

Bissige Zuneigung

Der Zopf meiner Großmutter
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Max und seine Großeltern fliehen aus der dahinscheidenden Sowjetunion und kommen als Achteljuden bzw. mit kaum noch ermittelbaren, jüdischen Wurzeln nach Deutschland. Dort wohnen sie in einem, zum Flüchtlingswohnheim ...

Max und seine Großeltern fliehen aus der dahinscheidenden Sowjetunion und kommen als Achteljuden bzw. mit kaum noch ermittelbaren, jüdischen Wurzeln nach Deutschland. Dort wohnen sie in einem, zum Flüchtlingswohnheim umfunktionierten, ehemaligen Hotel einer Kleinstadt. Max‘ Großmutter, Margarita Iwanowna, wettert mit einem Mundwerk, das mit Seife ausgewaschen gehört, gegen die Unterbringung, gegen die deutschen Ärzte und das deutsche Schulsystem, gegen Juden und andere Religionen, eigentlich gegen die ganze Welt. Sie beleidigt ihren Enkel und ihren Ehemann, Tschingis Tschingisowitsch, der stoisch sein Schicksal erträgt.

Wegen unzähliger, von der Großmutter angedichteter Krankheiten muss Max sehr auf seine Gesundheit achten. Süßigkeiten und Kuchen wurden von seinem Speiseplan verbannt, dafür gibt es leicht verdauliche, wenig schmackhafte Breie aus Gemüse oder Getreide. Wir lernen Mäxchen kurz vor seiner Einschulung kennen und begleiten ihn bis ins Teenageralter. Obwohl seine Großmutter ihn stets klein redet, ihm quasi überhaupt nichts zutraut, meistert Max kleine und große Herausforderungen am Band. Eigentlich möchte Margarita nur jegliche Gefahr von ihm fern halten. Das einfach mal zuzugeben, scheint ihr unmöglich. Alles, was sie Max zur Liebe tut, macht sie ihm zum Vorwurf. Max navigiert von klein an klug durch das Minenfeld der Erziehung und hält sämtlichen Demütigungen stand. Dafür mag ich ihn unheimlich gern.

Als sich der gepeinigte Großvater Tschingis neu verliebt, lässt er seine „alte“ Familie nicht einfach im Stich, sondern kümmert sich verantwortungsvoll um alle Familienmitglieder. Wie er in seiner ruhigen Art die Patchworkfamilie managet , verdient meinen vollen Respekt. Irrwitziger Weise mag ich trotz ihrer Schnodderigkeit und Unterdrückungsmentalität, trotz des permanenten Mobbings, das sie auf ihr Umfeld prasseln lässt, Margarita Iwanowna am meisten. Vielleicht hatte ich auch ein wenig Mitleid mit ihr. Für die Auswanderung hat sie neben ihrer Heimat ihr gesamtes früheres Leben aufgegeben. Am Ende möchte sie doch auch nur das beste für ihre Familie.

Alina Bronsky lässt uns über Dinge lachen, worüber man eigentlich nicht lacht. Sie lässt die Großmutter Dinge tun, die tabu sind. So wurden wir doch erzogen. „Der Zopf meiner Großmutter“ spricht alle bösen Gedanken, die vielleicht den ein oder anderen bei der Kindererziehung beschleichen, laut aus. Die Angst um ein Kind wird durch das Erzählen von „Schauermärchen“ an das Kind weitergegeben. Der rasante Schreibstil, die unterschwellig mitschwingende Boshaftigkeit haben mir so gut gefallen, dass ich unbedingt noch mehr Bronsky-Bücher lesen möchte.

Veröffentlicht am 10.04.2019

Der Titel ist Programm

Was uns erinnern lässt
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Kati Nauman verbindet in ihrem Roman geschickt die moderne, vernetzte Welt von heute mit einem herrlichen Stückchen Erde, das mitsamt der dort lebenden Familie im Verlauf der DDR-Geschichte vom Rest der ...

Kati Nauman verbindet in ihrem Roman geschickt die moderne, vernetzte Welt von heute mit einem herrlichen Stückchen Erde, das mitsamt der dort lebenden Familie im Verlauf der DDR-Geschichte vom Rest der Welt abgeschnitten wurde – abgeschnitten von der Telefonleitung, von der Postzustellung, sowie von der medizinischen Notversorgung. Dieser scheinbare Widerspruch bildet das Verbindungselement zwischen zwei Handlungssträngen, die die Geschichte des Hotels Waldeshöh von den 1950er bis in die 1970er Jahre einmal live und einmal rückblickend begleiten.

Die Moderne wird durch die junge Milla vertreten, deren Leben von einer gewissen Trostlosigkeit geprägt zu sein scheint. Als Alleinerziehende entgleitet ihr der langsam erwachsenwerdende Sohn Neo, der bisher ihr Leben bestimmt hat. Ihr Brotjob in einer Anwaltskanzlei ist auch nicht gerade erfüllend. Begeistern kann sie sich für Lost Places, Orte, die vor vielen Jahren verlassen wurden und wie eine Zeitkapsel das vergangene Leben in Form von zurückgelassenen Gegenständen konserviert haben. Das Spekulieren über die kleinen Geheimnisse der ehemaligen Bewohner befriedigt Sensationsgelüste und voyeuristische Bedürfnisse. Millas größter Traum ist die Entdeckung eines solchen Lost Place, und zwar als erste. So ist sie in 2017 im Thüringer Wald abseits der Wanderwege unterwegs und findet einen überwucherten Keller.

Die Vergangenheit verkörpert Christine Dressel, die im Hotel Waldeshöh aufgewachsen ist. Sie hat den Ausbau der innerdeutschen Grenze miterlebt, am eigenen Leib viel intensiver als die meisten DDR-Bürger erfahren, welche Bedeutung und Auswirkungen diese Grenze für die einfachen Leute hatte.

Ich konnte mich mit beiden Protagonistinnen identifizieren, die Nöte und Sorgen beider gut nachvollziehen, Millas Hin- und Hergerissenheit bezüglich der Sinnhaftigkeit ihrer Freizeitaktivitäten sind mir ebenso ein Begriff wie die Heimatverbundenheit von Christine. Selbst Andreas, Christines Bruder, der im Roman unnahbar und ein wenig grummelig erscheint, konnte ich gut verstehen. Diese Reserviertheit gegenüber Unbekanntem, nicht nur Menschen, sondern auch „neumodischem Schnickschnack“, ist, so glaube ich, ein typisches Verhalten für diese Generation. Ich mochte Andreas sehr, und zwar mitsamt seines Schäferhundes Lux, der genauso tickt wie er.

Für mich war „Was uns erinnern lässt“ genau das, was der Titel aussagt, ein Anschub, mich zu erinnern: an meine eigene Kindheit im Sperrgebiet, an einen Kindergeburtstag im 500 Meter Schutzstreifen, an den vorgezeigten Pionierausweis, um den Schlagbaum zu passieren. Es war eine Erinnerung an die Angepasstheit der Menschen in der DDR, an den Ärger, den ich bekam, weil ich draußen beim Spielen „Like A Virgin“ von Madonna vermutlich falsch, aber erkennbar sang. Das hatte ich schon fast vergessen. Die Darstellung war für mich durchweg glaubwürdig, nichts schien mir übertrieben. Ich bin dankbar für diesen Roman. Sehr gern empfehle ich ihn allen Wissenden und erst recht allen "Unwissenden", die wo anders aufgewachsen oder später geboren sind, weiter.

Veröffentlicht am 20.03.2019

Wellen zweier Leben

Bella Ciao
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Raffaella Romagnolo erzählt mit „Bella Ciao“ nicht nur eine Familiengeschichte während der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts, ihr Roman ist zudem eine Auseinandersetzung mit Lebensentscheidungen und ...

Raffaella Romagnolo erzählt mit „Bella Ciao“ nicht nur eine Familiengeschichte während der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts, ihr Roman ist zudem eine Auseinandersetzung mit Lebensentscheidungen und ihren Folgen, mit genutzten und entgangenen Chancen. Sie rückt starke, tapfere Frauen in den Vordergrund, die trotz aller geschichtlichen Ereignisse das Zepter der Familie weiterhin hoch halten, gewährt einen Einblick in deren Nöte, die aus dem Konflikt mit ihren Vätern oder Ehemännern, auch mit der Obrigkeit, sowie aus der Angst um ihre Söhne geboren werden.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Amerikanerin Giulia Masca, die fast ihr ganzes Leben in New York mit Ehemann und Sohn verbracht hatte. Erst im Alter kehrt sie auf Drängen des Sohnes in ihre eigentliche Heimat, Piemont (Italien), zurück. Ihrer Heimat hatte Giulia in ihrer Jugend den Rücken gekehrt, nachdem sie von ihrem damaligen Verlobten Pietro und ihrer besten Freundin Anita hintergangen worden war. Auch ihre Mutter hatte Giulia zurückgelassen. So verging fast das ganze Leben ohne einen einzigen Kontakt. Erst durch die späte Reise nach Italien erlebt Giulia gemeinsam mit dem Leser in rückblickenden Erinnerungen ihr „verpasstes Leben“, das nun Anita geführt hat.

Raffaella Romagnolo‘s Erzählweise erinnert mich an Wellen im Meer. Über weite Strecken sind die Wogen angenehm sanft, beispielsweise als der New Yorker Lebensalltag beschrieben wird. Auch die ersten Jahre von Anita und Pietro wirkten auf mich so. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und während der Revolution kommen plötzliche Böen auf, die die Wellen des Meeres hochpeitschen. Die Ereignisse, die der Roman beschreibt sind schockierend, weil sehr real und glaubwürdig beschrieben, nichts für schwache Nerven. Als Leser habe ich eine Beschleunigung im Lesefluss erfahren, die unglaublich gut zum jeweiligen Ereignis passte. In der zweiten Hälfte des Romans hat mich dann die ein oder andere emotionale Welle überrollt. Giulia‘s Gedanken haben mich tief berührt.

Neben dem grandiosen Schreibstil haben mir die drei Protagonistinnen Giulia, Anita und Adelaide am besten gefallen. Alle drei mussten sich durch ihr Leben, teilweise um ihr Überleben kämpfen. Mit Mut und Einfallsreichtum, sowie einem Aufopferungswillen, der heutzutage unmöglich erscheint, hielten sie auch schlimmsten Widrigkeiten stand. Sie dachten gar nicht ans Aufgeben, für ihre Familien blickten sie immer nach vorn.

Mich konnte „Bella Ciao“ begeistern. Gern empfehle ich diesen wunderbaren Roman uneingeschränkt weiter.

Veröffentlicht am 09.03.2019

Meine beste literarische Auseinandersetzung mit KI

Die Reinsten
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Wir begleiten Eve Legrand im September/Oktober 2191 in einer Phase der Neuausrichtung der Weltgesellschaftsform ausgehend von einer durch Künstliche Intelligenz gelenkten Gesellschaft. Die für mich faszinierende ...

Wir begleiten Eve Legrand im September/Oktober 2191 in einer Phase der Neuausrichtung der Weltgesellschaftsform ausgehend von einer durch Künstliche Intelligenz gelenkten Gesellschaft. Die für mich faszinierende KI Askit optimiert den Fortschritt der Renaturierung des in Verwüstung befindlichen Planeten, indem sie die Menschen zusammen bringt, deren Talente in Kombination die anstehenden Aufgaben am besten lösen können. Eve ist eine der sogenannte Reinsten, die anders als die übrigen Bewohner der Erde mit Askit in Verbindung treten dürfen. Sie ist begeistert von der Unterstützung Askit‘s bei ihrer mentalen und wissenschaftlichen Ausbildung bis die KI merkwürdige Verhaltensweisen aufzeigt. Askit’s Verhalten bringt eine rasante Geschichte ins Rollen bei der es um nichts weniger als die Aufrechterhaltung der Chance, die Erde als Lebensraum retten zu können, geht.

Ich bin begeistert von der Glaubwürdigkeit, die mir die geschaffene Welt in 2191 vermittelt. Die Metropolen, in denen die Menschen geschützt vor den gefährlichen Umwelteinflüssen leben können, erscheinen mir genauso möglich, wie die vielen technischen Details, begonnen bei den Körperschutz-Anzügen, über die Krankheiten erkennenden und heilenden Nanobots bis hin zu den CO2-Konvertern, den Solarjets und dem Hyperloop. Ich kann gar nicht entscheiden, was ich davon am besten finde.

Eve Legrand mochte ich sehr gern, vielleicht weil ich mich gut mit ihr identifizieren konnte. Sie liebt es, ihr Wissen zu erweitern, möchte etwas Positives bewirken, ist diszipliniert und konzentriert. Als ihr Weltbild zusammenbricht, reagiert sie zunächst unbeholfen und trotzig. Auch wenn ihre Reaktion irgendwie nachvollziehbar war, haderte ich kurz mit ihr. Nachdem Eve dieses Tief überwunden hatte, nahm ihre persönliche Entwicklung riesige Schritte. Letztlich wuchs Eve über sich hinaus.

Von den recht zahlreichen weiteren Charakteren mochte ich Tessa, Eves Mutter, am meisten, weil sie Eve immer wieder mit ihren mütterlichen Rat beiseite steht und somit Eve‘s Blickwinkel erweitert. Ebenfalls gern hätte ich Levar und Ronan.

„Die Reinsten“ liest sich so wie die Story ist, rasant. Man muss sich zwingen eine Lesepause einzulegen, um das Gelesene verarbeiten zu können. In kurzen Kapiteln, die immer wieder mit einem Cliffhanger enden, konstituiert Thore D. Hansen eine faszinierende Zukunftsvision, deren Probleme als Fortschreibung unseres heutigen Handeln und damit sehr real erscheinen.

Mein Leseerlebnis war fesselnd, desillusionierend und schockierend zugleich. Ich bin total geflashed. Ganz klare und uneingeschränkte Leseempfehlung.