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Veröffentlicht am 23.02.2020

Diktatur vor Gericht - Prüfe nicht nur den Zweck, sondern auch die Mittel!

Corpus Delicti
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Wie insektenhaft klein und machtlos der Einzelne vor dem Gesetz ist, haben schon andere in der Literatur zum Thema gemacht, aber Juli Zeh beweist, dass es für jede Gesellschaft erneut notwendig ist. Notwendig ...

Wie insektenhaft klein und machtlos der Einzelne vor dem Gesetz ist, haben schon andere in der Literatur zum Thema gemacht, aber Juli Zeh beweist, dass es für jede Gesellschaft erneut notwendig ist. Notwendig nämlich vorzuführen, warum in einem Rechtsstaat der Einzelne eben nicht machtlos sein darf vor dem Staat, indem das Gegenteil erzählt wird.

Juli Zehs düstere Zukunftsvision hat die Stärke aller guten Dystopien: Sie nimmt Entwicklungen der Zeit auf, überzeichnet sie ungebrochen in die Zukunft und konstruiert daraus eine Welt, in der wir nicht leben wollen. Mia Holl lebt in einer gesunden Welt. Die METHODE hat dafür gesorgt, dass die Krankheit aus der Gesellschaft verschwindet und hat gleichzeitig auch jedes Fehlverhalten, dass erhöhtes Krankheits- oder Unfallrisiko darstellt, unter drakonische Strafen gestellt. Der Staat, dessen totalitäres, ideologisches Mark durch den Journalisten Heinrich Kramer repräsentiert wird, verpflichtet jeden Einzelnen zu Sport, Gesundheitsvorsorge, Abstinenz und legt sogar die Fortpflanzung nach rationalen Kriterien fest. Wenn heutzutage diskutiert wird, ob diese oder jene Risikogruppe mehr in die Krankenkasse einzuzahlen hat, wie sie zum Beispiel zu dick ist, oder eine Mitschuld an dieser oder jener Krankheit hat und zur Selbstbeteiligung aufgerufen ist, dann ist dies der erste Schritt in Mia Holls Hölle der totalen Gesundheit.

Mias Bruder Moritz ist in diesem System krank geworden, in dem der freie Wille durch rationale Entscheidungsfestlegungen ersetzt wurde, und hat sinnigerweise den größtmöglichen Frevel begangen: sich selbst zu ermorden, als er unter Mordanklage stand.

Diese Anklage ist das erzählerische Vehikel, mit dem Juli Zeh die METHODE vor Gericht zerrt. Als Juristin kennt sich die Autorin gut aus in Verfahrensfragen und weiß um die dialogische Natur eines gerichtlichen Streits. Im Dreiklang zwischen Anlage, Verteidigung und öffentlicher Berichterstattung stürzt man bei der Lektüre in die Hilflosigkeit der Protagonistin und richtet sich am Ende mit ihr wieder auf, wenn Mia ihre Schwäche in Stärke ummünzt.

Der Roman ist als gesellschaftliche Warnung vor den totalitären Tendenzen im Namen des vermeintlich Guten und Rationalen sehr gut gelungen. Man muss eben stets nicht nur den Zweck, sondern auch die Mittel prüfen!

Die Herkunft des Romans vom Theater merkt man ihm häufig an. Die Dialoge zwischen Mia Holl und Kramer lesen sich ausgesprochen bühnenhaft, was aber nicht stört. Wohl aber stört der minimalistische Stil, der paragraphenhaft knapp ein extrem klinisches Klima erschafft. Das erschwert eingangs den Zugang, löst sich dann aber im Dialog auf.

Klare Empfehlung.

Veröffentlicht am 24.01.2020

Auf der Suche nach sich selbst – Abu Youssef und die Folgen

Am Ende bleiben die Zedern
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In Pierre Jarawans gekonnt erzähltem, zauberhaften Roman „Am Ende bleiben die Zedern“ begleitet man Samir auf der Suche nach seinem Vater. Geflüchtet 1982 während der Zedernrevolution im Libanon, kam die ...

In Pierre Jarawans gekonnt erzähltem, zauberhaften Roman „Am Ende bleiben die Zedern“ begleitet man Samir auf der Suche nach seinem Vater. Geflüchtet 1982 während der Zedernrevolution im Libanon, kam die Familie nach Deutschland. Hier schlagen die beiden bereits im Exil geborenen Kinder Samir und seine Schwester Wurzeln, sind aber weiterhin umgeben von libanesischen Nachbarn, Kultur und Traditionen. Als Samirs Vater Brahim eines nachts verschwindet und nicht wiederkehrt, gerät die ganze Familie aus dem Tritt. Der Neunjährige verliert seinen Anker und ist bis in seine frühen Zwanziger besessen von der abwesenden Vaterfigur, vom Libanon und der Frage: Warum.

Diese Frage zu beantworten, begibt sich Samir nach Beirut und spürt seinem Vater, seiner Herkunft, der Heimat seiner Familie und den Geschichten seines Vaters nach. Diese in den Text eingestreuten Märchen von Abu Youssef sind absolut zauberhaft und verleihen dem Roman sein orientalisches Flair. Bei der Suche nach der eigenen Identität als Flüchtlingskind stellt sich gleichzeitig die Identitäts- und Warum-Frage des Libanon als solchem, zerrieben zwischen Syrien und Palästinensern, Israel und den Religionen, Tradition und Moderne. Die Stärke des Romans, diesen Teil des Nahostkonfliktes literarisch darzustellen und einem deutschen Publikum nahe zu bringen, gebiert ihrerseits die Schwäche des Romans, bisweilen nämlich lexikalisch Fakten herunterzubeten, die für das Verständnis zwar wichtig sind, literarisch aber Sand in das Getriebe streuen.

Jarawan traut sich, seinen Roman auf vielen Zeitebenen zu erzählen, vor- und zurückzublenden und Abu-Youssef-Märchen, Tagebucheinträge und Zeitungsmeldungen in den Roman zu montieren, um auf diese Weise viele Erzählebenen und -perspektiven zu erschaffen. Das beeindruckt und funktioniert. Dass die Handlung vorhersehbar ist und der Clou nicht überrascht, ist nebensächlich vor der Kulisse der mitreißenden Reise Samirs in den Libanon und zu sich selbst. Wie überhaupt selbst der Nahostkonflikt bedeutungslos sein wird, wenn die Wappenzier des Libanons, die Zeder, alt geworden sein wird, denn diese Bäume sind scheinbar ewig: Am Ende bleiben die Zedern.

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Veröffentlicht am 04.12.2019

Fanatiker haben keinen Humor

Der Scherz
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Am 28. November 2019 wurde Milan Kundera wieder tschechischer Staatsbürger – 40 Jahre, nachdem ihn die Staats- und Parteiführung der CSSR ausgebürgert hatte, weil sich der Schriftsteller des wiederholten ...

Am 28. November 2019 wurde Milan Kundera wieder tschechischer Staatsbürger – 40 Jahre, nachdem ihn die Staats- und Parteiführung der CSSR ausgebürgert hatte, weil sich der Schriftsteller des wiederholten antikommunistischen Dissidententums schuldig gemacht hatte. Mit einem völlig ahnungslosen Gespür für den richtigen Zeitpunkt war dies genau der Tag, an dem ich den „Scherz“ von Kundera ausgelesen hatte – sein Erstling, für den ihn die Parteiführung aber wahrscheinlich auch schon hätte aus dem Land werfen mögen.

„Der Scherz“ ist eine aus der Laune heraus abgesendete Postkarte des aktivistischen Studenten Ludvik, der damit eigentlich die Hundertfünzigprozentige Markéta provozieren wollte, aber eigentlich nur sein eigenes Leben zerstörte: Von der Uni, aus der Partei und ins Arbeitslager geworfen, landet Ludvik sogar im Gefängnis, weil er nicht begriffen hatte, dass der kommunistische Aufbruch der tschechoslowakischen Gesellschaft etwas Totalitäres hatte. Und Fanatiker wie Totalitaristen haben eines gemeinsam: Sie verstehen absolut keinen Spaß. Ludvik kann sich damit nicht abfinden und hegt einen Hass auf jene, die ihn weiland verstießen. Um diesen Hass in Rache zu verwandeln, verabredet er sich mit Helena in seiner Geburtsstadt, wo er sich an ihr stellevertretend für ihren Gatten rächen will. Kein schöner Zug – wie überhaupt Ludvik kein Sympath ist. Einerseits erregt sein Schicksal in der kommunistischen Unterdrückungswelt der 1950er Jahre das Mitleid des Lesers, immerhin fühlt man seine Machtlosigkeit angesichts des Apparats, den andere besser bedienen können. Anderseits ist Ludvik ein gnadenloser Egoist – was ironischerweise sogar einer der Parteivorwürfe gegen ihn ist.

Von den letzten zwanzig Jahren zwischen Ludviks „Scherz“ und der Handlung in seiner Geburtsstadt erzählen sieben Kapitel, die aus der Sicht von Ludvik, Helena, Jaroslaw und Kostka geschrieben sind. Geschickt komponiert Kundera die Sichtweisen der handelnden zusammen – oder besser: gegeneinander. Man versteht, dass Jaroslaw, der idealistische Volksmusiker, der nach dem Urgrund der tschechoslowakischen Seele tauchen will, und Ludvik Gegenpole ein und desselben individuellen Scheiterns im falsch aufgezogenen Kommunismus sind. Helena und Kostka hingegen finden ihre Nischen und dort so etwas wie Glück: in Naivität oder festem Christenglauben.

Kunderas Roman erschlägt einen fast mit seiner Dichtigkeit: Man hat das Gefühl, zwischen den Zeilen und Worten sei gar kein Platz mehr für etwas anderes. Wie eine feste Walze überfährt einen die Erzählung bunt, gnadenlos, empathisch, gefühlvoll und klug. Nach der „Unerträglichen Leichtigkeit des Seins“ ist dies meine zweite Kundera-Erfahrung, die ich noch weitaus intensiver empfand.

Dennoch ziehe ich einen Stern von der Wertung ab, weil mir die Frauenfiguren nicht gefallen. Alle – Lucie, Helena, Jaroslaws Frau Vlasta – sind schwach und dienen den handelnden Männern stets dazu, sich als Beschützer, Retter oder Gestalter ihrer eignen, männlichen Welt aufzuspielen. Möglicherweise schimmert hier die virile Welt der Altvorderen noch hindurch?

„Der Scherz“ jedenfalls meint es ernst und geht unter die Haut.

Veröffentlicht am 11.11.2019

Au revoir Tegel - bonjour, Monsieur Kappe!

Au revoir, Tegel
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Der Beton des Flughafens Tegel ist noch nicht ganz trocken - eröffnet wurde er am 1. November 1974 - da kommt zum Nikolaustag die erste Leiche auf dem Kofferband an: Mord. Kappes erster Fall. Peter Kappe ...

Der Beton des Flughafens Tegel ist noch nicht ganz trocken - eröffnet wurde er am 1. November 1974 - da kommt zum Nikolaustag die erste Leiche auf dem Kofferband an: Mord. Kappes erster Fall. Peter Kappe ist schon das dritte Familienmitglied, das in der Reihe „Es geschah in Berlin“ des Jaron-Verlages auf Verbrecherjagd in Berlin geht. Alle zwei Jahre legt ein Kappe einem Verbrecher das Handwerk und darf ein anderer Autor sich ans Werk machen. 1974 übernimmt Bettina Kerwien den Fall und siedelt ihn in Tegel an. „Au revoir, Tegel“ ist ein gut gewählter Schauplatz, da der Flughafen heute, kurz vor seiner endgültigen Schließung, in aller Munde ist. Der Tagesspiegel titelte schon 2012 seinen verfrühten Nachruf auf den Flughafen mit dem gleichen Abschiedsgruß. Doch Tegel ist nicht nur gut gewählt, sondern auch gut beschrieben: Anfang und Ende des Romans werden vor der Kulisse des Flughafens so plastisch inszeniert, dass das markante Sechseck im Stil des modernen Brutalismus zu einem beeindruckenden Nebendarsteller taugt.

Hauptdarsteller ist Peter Kappe, über den ein sehr gelungener Vorspann schon viel verrät, bei dem der junge Kriminalist durch die nächtliche Zone fährt wie David Lynchs Chargen über den Mullholland Drive. Solche eindrücklichen Szenen, bei denen man den kalten Nebel auf der Haut spürt, die Blunabrause auf den Lippen schmeckt oder der Rauch der Ernte 23 in den Augen kneistert, gibt es in Kerwiens Kappe-Debut häufig, und sie sind neben den gepfefferten Dialogen der Autorin ihre große Stärke. Sie setzt die Stadt, ihre Figuren, den Flughafen stets prall und bunt in Szene, oft mit Pointe. Bisweilen geraten die Pointen womöglich zu schrill, mitunter wirkt die Handlung leicht überdreht (Entführung? Überführung? Das hätte man alles auch günstiger haben können) - aber der Rausch des Erzählens hat Kerwien gepackt und reißt den Leser im Rausch der Lektüre mit.

Es macht nichts, wenn man keinen anderen Kappe-Roman kennt: Ich jedenfalls kenne keinen, habe keinen vermisst und finde, dass „Au revoir, Tegel“ auch als Stand-alone ein großes Lesevergnügen ist, das sich insbesondere darin auszeichnet, absolut nach 1974 zu schmecken, ohne dass die Recherchemühen dozentenhaft ausgeklopft werden. Ich muss mir mal noch einen Kappe zu Gemüte führen, vielleicht einen vom Urvater Bosetzky selbst. Ganz sicher aber einen, wenn er wieder von Kerwien kommt.

Veröffentlicht am 22.10.2019

Ein Loch ist nicht immer „ein Nichts mit was drumrum“

Das flüssige Land
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Ein Merkmal der Bewohner von Groß-Einland ist, dass „der Mensch als zu einer Landschaft gehöriges Wesen verstanden“ werden muss (S. 91). Deshalb passen die Groß-Einländer perfekt zu ihrer Heimat, denn ...

Ein Merkmal der Bewohner von Groß-Einland ist, dass „der Mensch als zu einer Landschaft gehöriges Wesen verstanden“ werden muss (S. 91). Deshalb passen die Groß-Einländer perfekt zu ihrer Heimat, denn so wie seine Bewohner einen dunklen Fleck auf Seele und Gewissen haben, hat der Ort einen dunklen Fleck unter sich, ein poröses Fundament, ein allegorisches „Loch“. Stets vom Einsturz bedroht, entstand der Ort nach den Zerstörungen des Krieges dennoch aus den Trümmern an derselben Stelle als Kopie seiner selbst, als hätten die Groß-Einländern nichts gelernt. Sie arrangierten sich mit dem Loch, unterwarfen sich dem Großkapital, das die Gesellschaft schließlich unter ein pseudofeudales Joch beugte, regiert von „der Gäfin“, und lernte: „Was man in das Loch warf, waren Dinge, für die man sich schuldig fühlte.“ (S. 315).

Diese Zusammenhänge decken sich in einer sich girlandenartig durch die Handlung windenden Suche nach den eigenen Wurzeln auf, auf die sich die Extrem-Physikerin Ruth Schwarz begeben hat: Ihre jüngst verunglückten Eltern stammten aus Groß-Einland und waren ebenfalls dessen dunkler Geschichte auf der Spur. Ruth Schwarz ist nicht zufällig eine Physikerin, die sich mit Zeitphänomenen befasst, denn Autorin Raphaela Edelbauer geht s ja darum, die Gleichzeitigkeit von vergangenen Taten und heutiger Schuld darzulegen; zu zeigen, dass verdrängte Schuld sich zusammenballt wie ein Schwarzes Loch, das mit seiner enormen Gravitation selbst die Zeit nicht mehr entrinnen lässt (S. 185). Dass es um Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus geht, erfährt man wörtlich erst auf S.145 - oder aus dem Klappentext … Viele Hinweise sind aber zuvor in die Lektüre gestreut, nicht zuletzt der Name Groß-Einland, denn zur Zeit der fraglichen Verbrechen war der Ort Teil Groß-Deutschlands. Wie Zeit sich streckt und windet, beugt und verschlingt, führt der Text selbst vor, der schnell springt, ganze Jahre in Sätzen überfliegt, sich aber auch zum Minutenprotokoll stauchen kann (S. 250 ff.).

Die Stärke des Romans liegt in den durchdachten Details, der kräftigen Sprache (die Autorin hat „Sprachkunst“ studiert; manchmal – aber selten – wirkt ein Satz allerdings auch wie aus einem sprachkünstlichen Seminar), und im Gesamtarrangement, in dem vom Maskenhändler bis zum Fundamentenbröseln, vom Zeitdehnen und -stauchen bis zur naiv-genialen Hauptfigur Ruth alles passt.

Gleichzeitig entströmt dieser Stärke auch die Schwäche: Der Tonfall dröhnt ständig mit doppelter Bedeutung, bei der man sich fragt, auf welche Metaebene man noch durch das „Loch“ stürzen könnte - um dann am Ende bei eigentlich nur einer Doppelbödigkeit zu landen (ja: Ich hatte den Klappentext nicht gelesen). Das ist mir oft zu gewollt, zu parabelartig, bisweilen ermüdend redundant.

Dennoch: „Das flüssige Land“ mahnt poetisch die gesellschaftliche wie private Erinnerungskultur, dass Verdrängen nur Abgründe schafft, weil unsere Welt jederzeit nicht nur aus Gegenwart besteht.