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Veröffentlicht am 03.04.2018

Am Ende hat alles seinen Tiefpunkt erreicht

Die Königin der Flammen
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Das ist nun das Ende dieser Trilogie, nach 2514 Seiten ist es vorbei. Endlich - denn die Geschichte, die Ryan im dritten Band erzählt, ist schlecht. „Die Königin der Flammen“ ist ein einziges Massaker ...

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Das ist nun das Ende dieser Trilogie, nach 2514 Seiten ist es vorbei. Endlich - denn die Geschichte, die Ryan im dritten Band erzählt, ist schlecht. „Die Königin der Flammen“ ist ein einziges Massaker sinnlos abgemesserter Menschen, die dem platten und eindimensionalen Wahnsinn des Verbündeten und seiner ersten Dienerin zum Opfer fallen, um … tja … die Welt zu zerstören? Weltherrschaft über entvölkerte Trümmer? Über diese Motivation hätte Ryan etwas länger nachdenken sollen. Auch die anderen Figuren werden zu Schablonen, platten Typen oder Abziehbildern von Klischees, sei es die rachsüchtige Königin Lyrna, der „gute Wilde“ Alturk oder die weisen, weisen Schamanen mit den Tiernamen. Überhaupt Tiere: Wölfe, Bären, Speerfalken und vor allem Katzen - Riesenkatzen - sind eh die besseren Menschen. Der zur Seitenfigur degradierte Nortah trauert über den Tod seiner Katze inbrünstiger als über seine niedergemetzelten Begleiter.
Und dann die Bösewichte: Mit ihnen steht und fällt die Güte einer Geschichte. Je vielschichtiger ihre Motivation, je plausibler ihre Handlungen, je sinnvoller auch Grausamkeiten sind, desto erfolgreicher dürfen sie sein und desto süßer ist der Sieg der Helden. Aber Erzfürst Darnel Linel in Varinsburg ist ein dümmlicher Hanswurst von einem Gegner, den besiegt zu sehen beim Lesen keinen Spaß macht. Auch die jeweils gewonnenen Schlachten der „Guten“ (TM) langweilen, insbesondere wenn wieder einmal eine lieb gewonnene Nebenfigur einen nebensächlichen Abgang macht. Da stehen dann eierlegende Wollmilchsäue vom Schlage der Königin Lyrna (was für ein klangloser Name, wenn man ihn englisch ausspricht!), die im Laufe des dritten Bandes zur Flottensachverständigen, Heerführerin und Meisterstrategin avanciert, während sie ihr eigentliches Exerzierfeld, die Politik, schon nicht mehr zu verstehen scheint. Jede einzelne Seeschlacht zeugt von der völligen Unkenntnis Ryans in diesem Sujet. Auch der Einsatz von Bögen im Handgemenge, wo die Schützen Freund und Feind treffen müssen, wird erst zum Ende hin richtig gemacht.
Und das Ende vom Ganzen? Darf ja nicht verraten werden - aber ich wage einmal anzudeuten, dass es eher enttäuscht.
Und nun noch ein Wort zum Glauben, zur Gretchenfrage der Welt von Vaelin Al Sorna: Götterwirken ist in Fantasywelten entweder von vornherein unwichtig („Lied von Eis und Feuer“) oder Fundament des Weltgefüges („Spiel der Götter“), bei Ryan hingegen dienen die Götter und der Glauben etwa der Orden in den Vereinigten Königreichen immer wieder dazu, den aufgeklärten Atheismus des Autor zu transportieren. Das ist besonders bedauerlich, weil man sich schon fragt, warum Orden und die Gefolgsleute des Weltvaters weitermachen sollen, wenn eigentlich die Existenz der Götter in Band 3 widerlegt wird - ein Designfehler in der Weltgestaltung.
Eigentlich hätte ich wegen der 880 auszehrenden Seiten zwei Punkte geben wollen, aber in Wahrheit wäre der zweite nur ein Auszeichnung für mich, durchgehalten zu haben. Hätte mal besser Ryan durchgehalten - Band 1 ist nämlich gut gelungen!

Veröffentlicht am 16.08.2017

Ein Buch so recht dazwischen: weder Fisch noch Fleisch

Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer
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Da hat sich Alex Capus aber viel Mühe gegeben, die Lebensläufe dreier Menschen zusammenzumontieren, indem sie alle zur selben Zeit am selben Ort waren: im November 1924 am Züricher Hauptbahnhof. Und was ...

Da hat sich Alex Capus aber viel Mühe gegeben, die Lebensläufe dreier Menschen zusammenzumontieren, indem sie alle zur selben Zeit am selben Ort waren: im November 1924 am Züricher Hauptbahnhof. Und was ist der Witz? Dass das wahrscheinlich wirklich die einzige Gemeinsamkeit der drei ist - und die ist auch noch mit grobem Werkzeug zurechtgezimmert.

Wer sind die drei? Der „Fälscher“ Emile Gilliéron, die „Spionin“ Laura d’Oriano und der „Bombenbauer“ Felix Bloch. Ihrer drei Leben werden versetzt zueinander in kurzen Abschnitten erzählt, ausgehend von jenem Moment am Züricher Hauptbahnhof. Capus greift in die Jugend der drei voraus und erzählt, woher sie kommen, um dann nachzuzeichnen, wohin sie gehen.

Felix Bloch entstammt kleinen schweizerischen Verhältnissen, studiert theoretische Physik in Zürich und in Leipzig bei Heisenberg, um vor den Nazis nach Stanford in den USA zu fliehen. Dort sammelt Robert Oppenheimer seine Pappenheimer, also die Spezialisten der Teilchenphysik, die er noch aus seiner Göttinger Zeit kennt, und alle anderen, die sich aus gutem Grund gegen Nazideutschland zusammentun, um die schrecklichste Waffe der Menschheitsgeschichte zu bauen: die Atombombe. Also auch Bloch, der nach dem Krieg den Physik-Nobelpreis für die Entdeckung der Kerninduktion erhält. Blochs Leben ist gut dokumentiert, weshalb Capus aus dem Vollen schöpfen kann. Er verlegt den Schwerpunkt des Bloch-Erzählungsstrangs auf die Motivation des Schweizers, sich für die theoretische Physik zu entscheiden, auf die Gedankenwelt eines jungen Mannes im Konflikt mit den handfesten Vorstellungen seines Vaters und der eigenen Neigung zum Maschinenbau. Ein zweiter erzählerischer Schwerpunkt entsteht im Austausch mit Oppenheimer und der Frage, ob man die Bombe bauen kann und soll. Hier hätte man sich noch ein wenig mehr Reflexion des Pazifisten Bloch gewünscht, aber zum Thema fehlender Reflexion unten mehr.

Laura d’Oriano wird in eine kosmopolitische Künstlerfamilie geboren, die im nördlichen mediterranen Raum zu Hause ist. Sie hat das Gesangstalent ihrer Mutter geerbt, scheitert aber in Paris in ihrer professionellen Ausbildung. Sie strandet in Marseille, verdient ihren Lebensunterhalt als Verkäuferin in einer Musikalienhandlung und tritt immer wieder auf. Ihre Verwandlungskunst aus der Bühne ist eine Facette ihres künstlerischen Erbes, das ihr auch beim verkaufen zugute kommt - und als Spionin. Ehe sie aber im faschistischen Italien im Zweiten Weltkrieg als Spionin gefangen genommen und als einzige Frau in der Geschichte des Landes hingerichtet wird, lernt sie den Vater ihrer beiden Töchter können, einen windigen und weichen Bauernsohn, an dessen Seite Laura ins Elend rutscht, dass sich schließlich in Bottighofen in der Schweiz befindet. Aus der Enge dieser elenden Provinz entflieht Laura und lässt ihre Kinder zurück. Erneut verdingt sie sich als Verkäuferin und Sängerin, bis der französische Untergrund auf die aufmerksam wird und Lauras Fähigkeiten in der Spionage einsetzt. Ein Hauch von Mata Hari weht durch Lauras Geschichte, doch lässt Capus ihn weitestgehend vorüberstreichen. Momente der Reflexion, über die man hier gern mehr gelesen hätte, sind Lauras Entscheidungen, ihre Kinder bei ihrem Mann zurückzulassen, und sich in den Dienst des Widerstands gegen Nazi-Deutschland zu stellen. Warum tut sie das?

Beim dritten Erzählstrang handelt es sich um das Leben von Emile Gilliéron, wobei es davon zwei gab: Vater und Sohn. Der Sohn hatte den Vater an jenem denkwürdigen Tag am Züricher Hauptbahnhof dabei, allerdings als Häuflein Asche in der Urne. Die Gilliérons besaßen großes Zeichentalent und setzten es ein, um die Entdeckungen, Ausgrabungen und Erkenntnisse der damals boomenden Archäologie in Szene zu setzen. Dabei erlaubten sie sich künstlerische Freiheiten in der Schließung der Überlieferungslücken, indem fehlende Stücke in Fresken oder Vasenbildern munter gefüllt wurden. Dabei halfen sie den Ausgrabungsgiganten ihrer Zeit - Heinrich Schliemann (Troja) und Arthur Evans (Knossos) - bei der Konstruktion ihrer Antikelegenden. Letztlich taten die Zeichner das, was Capus mit den Überlieferungssplittern über die drei Leben dieses Romans auch anstellt. Nicht ganz konsistent in der Geschichte Gilliérons ist, dass eigentlich zwei Leben erzählt werden, also der Roman aigentlich „Die Fälscher …“ und nicht „Der Fälscher …“ heißen müsste. Zwar erlaubt sich Capus hier mehr Introspektive in die handelnden Personen, am Ende erscheint es aber symptomatisch für die nur knapp dargestellte Reise Gilliérons, dass er früh un still im Schlaf verstirbt.

Capus ist bekannt dafür, dass er historische Quellen akribisch auswertet und daraus seine Romane strickt. im vorliegenden Fall tritt er aus der Rolle des auktorialen Erzählers auch oft heraus und kommentiert die Quellenlage dieses oder jenes Sachverhalts. Dann fällt der Tonfall plötzlich in den Konjunktiv: „Hier könnten sie …“ - „Vielleicht dachte er …“ - „Genaueres ist nicht überliefert, möglicherweise …“ Dabei wird sich Capus etwas gedacht haben, es ist ihm gewiss nicht aus Versehen passiert, dass er die Romanfiktion mit diesen Einlassungen aufbricht - oder an anderen Stellen über die Gegenwart mancher Gegenstände im Jahr 2013 berichtet. es stört aber den Lesefluss, denn der Text scheint sich nicht entscheiden zu wollen, ob er Roman oder Dokumentation sein will. Mal lauscht der Leser den Dialogen der Figuren oder den Gedanken etwa Felix Blochs in einer schlaflosen Nacht, dann wiederum muss der Leser zur Kenntnis nehmen, dass über andere Momente keine Quellen existieren - etwa ob Block und Oppenheimer sich über Los Alamos noch einmal ausgesprochen haben. Oder der Konjunktiv springt ein und muss eine mögliche Erklärung, einen möglichen Handlungsfortgang im Ungefähren ausführen. Warum ist Capus an diesen Stellen nicht Romancier und füllt die Lücken der Überlieferung mit fiktionaler Erzählung? Warum spart er Reflexionen seiner Figuren gerade an den Stellen aus, an denen Brüche und Widersprüche in den Figuren auftauchen? Deshalb nämlich bleiben alle drei unnahbar.

Das sind offene Fragen, die in guter Gesellschaft sind mit der Frage: Wieso stehen diese drei Geschichten beieinander? Gemeinsam haben die Lebensläufe lediglich die Anknüpfungen an die Schweiz und den gröblich gezimmerten Moment der Gleichzeitigkeit am Züricher Hauptbahnhof. Gemeinsam ist den Leben von Bloch, Laura und Gilliéron zwar auch, dass große Träume und Lebensentwürfe die Begegnung mit der Wirklichkeit nicht überstehen und dass schließlich immer alles anders kommt als gedacht. Aber das ist zu banal, um als Tertium comparationis ernst genommen werden zu können.

Am Ende hat sich Capus‘ Buch nicht entscheiden können, was es sein wollte: Roman oder Dokumentation. Die Geschichten wirken, als hätten sie allein nicht für ein Buch gereicht; zusammen reichen sie aber auch nicht zum Roman. Das wird nicht dadurch gerettet, dass alles schön geschrieben ist und voller eleganter Sätze glänzt.

Veröffentlicht am 06.10.2022

Eine sehr lange, sehr kritische Besprechung

Die karierten Mädchen
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Von Alexa Hennig von Lange habe ich fast alles gelesen und vieles gerne. Jüngst hat mir vor allem die Reihenhausskizze „Kampfsterne“ sehr gut gefallen, denn da zeigt die Autorin, wie sie Sujet und Milieu ...

Von Alexa Hennig von Lange habe ich fast alles gelesen und vieles gerne. Jüngst hat mir vor allem die Reihenhausskizze „Kampfsterne“ sehr gut gefallen, denn da zeigt die Autorin, wie sie Sujet und Milieu in den Griff bekommt und zu einem aussagekräftigen Text kommt. In „Die karierten Mädchen“ misslingt dies alles.

Es gibt eine Kurzversion und eine Langversion für meine Buchbesprechung, die ich – das bekenne ich – als Historiker geschrieben habe, der sich beruflich mit dieser Zeit und ihrer Vergangenheitsbewältigung befasst.

Kurzversion:

Vier Dinge muss man dem Roman und seiner Autorin vorwerfen:

1) Sie vermittelt das Bild eines Deutschlands aus Mitläufern und ohne Täter. Dieses Bild entspricht der Selbsterzählung der Deutschen nach dem Krieg und vor den Frankfurter Auschwitzprozessen. Sehr wahrscheinlich entspricht es auch dem Selbstbild der Großmutter der Autorin. Aber das ist ein Bild, das hinterfragt werden muss – denn es ist durch Scham und Schuld der Mittäter verzerrt.

2) Die Autorin berichtet in Interviews, eines hängt dem Buch auch an, dass sie die Leerstellen, die in den Aufzeichnungen der Großmutter auftauchten, als es an die Zeit des Nationalsozialismus geht, auffüllte. Aber die Autorin hat nicht den naheliegenden Sinn ergänzt – nämlich dass die Großmutter ihre Mitschuld verschwieg, ihre aktive Verstrickung oder gar Mittäterschaft, sondern sie ergänzt ausufernde Reflexionen, die das Verhalten der Großmutter entschuldigen, ihr Unwissenheit oder Naivität einschreiben. Naheliegend wäre: Die Großmutter hat ihre Schuld verdrängt und verschwiegen – selbst auf ihren Kassetten. Etwas anderes zu erzählen, hat nichts mit „dem wahren Fall“, sondern mit dem Darstellungswillen der Autorin zu tun.

3) Die Figur der Tolla ergänzt die Schuldbefreiung der Großmutter durch die Autorin auch noch um eine noble Geste, nämlich die vorläufige Rettung eines jüdischen Mädchens. Das ist eine schon frech zu nennende Geschichtsfälschung: Nicht nur wird die Leerstelle der Vergangenheit mit Entschuldigungen gefüllt, mit dem Mädchen kommt nun auch noch eine Entlastungszeugin, die der Großmutter nicht nur edle Motive im Denken, sondern auch im Handeln einzuschreiben versucht. Dass Tolla am Ende nicht gerettet wird, weil die Großmutter, eben nicht Mutter genug ist, entlarvt die Frauenfigur der Klara Möbius vor allem als nicht starke Frau.

4) Der Roman ist schwach erzählt. Die ständigen Psychologisierungen der Figuren durch innere ausschweifende Monologe erweckt in mir den Eindruck, dass die Autorin um jeden Preis verhindern möchte, dass man Klara Möbius die Schuldfrage stellt. Es wird kein Raum für Interpretation ihres Handelns gelassen, die Handlung wird fortwährend innerweltlich kommentiert und entschuldigt. Hinzu kommt eine langweilige und ganz und gar ambitionsfreie chronologische Erzählung, in der man bis zum letzten Absatz den doppelten Boden vermisst. Schiefe Bilder („Trojanische Pferde“ s.u.) ergänzen den sprachlichen Sinkflug. Vor allem aber fehlt es dem Text an literarischer Relevanz. Wozu eine Geschichte wie aus den 1950er Jahren, in denen niemand etwas gesehen, gewusst oder gar getan haben wollte?

Im schlimmsten Fall ist dieser Roman sogar gefährlich, weil er suggeriert, dass man hier am authentischen Fall der Großmutter erfährt, dass man „damals“ wirklich nichts dafür gekonnt habe.



Langversion:

„Die karierten Mädchen“ erzählt die Geschichte der Lehrerin Klara Möbius, die 1929 in einem Frauenbildungshaus als Hauswirtschaftslehrerin anfängt und in wirtschaftlich schwieriger Zeit nach dem Tod der vormaligen Leiterin die Zügel in die Hand nimmt und das Heim wieder zum Laufen bringt. Die Rettung der Institution erfolgt durch die Überführung von einem freien Träger in ein so genanntes „ländliches Frauenbildungsheim“, von denen es im Land Anhalt vier in staatlicher Hand gegeben hat. Die Fahrnisse der Zeit spielen insofern eine Rolle, als die Erstarkung des Nationalsozialismus in den Schaltzentren des Landes sowie im Gedankengut von Nebenfiguren deutlich wird. Kulminationspunkt ist der Terror der Reichspogromnacht, nach deren Gewaltexzess eine für die Figur Klara wichtige Entscheidung in die Tat umgesetzt wird: das jüdische Waisenmädchen Tolla, das Klara an Kindes statt angenommen hat von dem sie sich ‚Mama‘ nennen lässt, wird in ein jüdisches Waisenhaus in Berlin gegeben. Der Titel nimmt Bezug auf die Einheitskleidung, die im weltanschaulichen Kontext der Frauenbildungsheime angeraten war: karierte Kleider im Dirndlschnitt.

Soweit die Handlungsebene. Die Abgründe dieses Romans tun sich auf, wenn man hinter das Handlungsgerüst schaut. Klara Möbius ist nämlich keine literarische Heldin, sondern basiert auf der Lebenserzählung der Gro0mutter der Autorin. Diese Lebensgeschichte ist in 130 Audiokassetten überliefert, die von der Großmutter selbst besprochen worden sind. Die Autorin hat sich von diesen Kassetten zur Lebenserzählung ihrer Großmutter inspirieren lassen, wobei sie in einem vom Dumont-Verlag herausgegebenen Interview erklärt: „Aber Klara Möbius ist nicht meine Großmutter. Das liegt daran, dass ich beim Anhören der Kassetten nach einer Weile gemerkt habe, dass sie einige Dinge nicht erwähnt. […] Ereignisse, die beschreiben, wie sich die Nationalsozialisten nach und nach alle Bereiche der Gesellschaft unterwerfen. […] Meine Großmutter erzählt sehr gut und lebhaft von den Heimen, die sie leitete, von den Schülerinnen, den Kindern, den Mitarbeitern, den nationalsozialistischen Funktionären, die das Haus besuchten. […] Nur eben nicht, dass ein paar Gehminuten entfernt die Synagoge brannte.“

Alexa Hennig von Lange ist keine Historikerin. Das ist ihr nicht vorzuwerfen – die meisten Menschen sind keine Historiker. Allerdings glauben die meisten, sich über die Vergangenheit äußern zu können wie Historiker, weil sie sie ja selbst erlebt hätten – oder ihre Großmütter. Dabei beginnt das Problem schon damit, Vergangenheit und Geschichte zu verwechseln. „Geschichte“ ist die gedeutete Vergangenheit. Sie zu deuten, ist ein handwerklicher Prozess, der viel mit einer fundierten Ausbildung zu tun hat, unter anderem gehören dazu Werkzeuge aus „der Werkstatt des Historikers“ (Marc Bloch): Kenntnis der Zeitumstände, der Theorien, Methoden und Paradigmen – sowie neben der Imagination, die dem Autorenberuf wesensverwandt ist, die Quellenkritik. Denn wenn historische Erkenntnis aus „Texten Tatsachen“ schaffen will, dann müssen diese Texte analysiert, interpretiert und vor allem immer wieder kritisiert werden.

Alexa Hennig von Lange ist Autorin, weshalb sie die Leerstellen in der Erzählung ihrer Großmutter bemerkt hat. Sie äußert sich in dem besagten Interview wie folgt: „Wenn man ihr auf den Kassetten genau zuhört, stellt man fest, dass sie in manchen Momenten zögert oder nach Formulierungen sucht, um das für sie wohl Unaussprechliche nicht aussprechen zu müssen. Ich glaube, sie hatte wirklich den Anspruch, das Vergangene so korrekt wie möglich wiederzugeben. Andererseits wollte sie sicher von einem sehr bewegten, herausfordernden, aber auch gelungenen und erfolgreichen Leben berichten. Dafür musste sie Dinge auslassen.“ Die Autorin kennt meines Erachtens nicht besonders viele Ego-Dokumente aus dieser Zeit, hat wahrscheinlich noch nie eine Vernehmung aus irgendeinem der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, aus deren Nachfolgeprozessen oder aus den Auschwitz-Prozessen Fritz Bauers gelesen – denn dann hätte sie wenig Schwierigkeiten gehabt, das Zögern im Lebensbericht als Sorge der Selbstbezichtigung oder Selbstbelastung zu erkennen. Die Autorin hat womöglich auch nie Hannah Arendts Prozessanalyse „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ gelesen. Dort lässt sich viel lernen über die Betonung des Alltags, der Routinehandlungen, der kleinen Pflichtübungen, die über die eigentlichen Verbrechen und Missetaten hinwegtäuschen sollten. Dann wäre auch bekannter, dass kaum eines der Ego-Dokumente von Tätern über brennende Synagogen berichtet – wieso auch? Dass sie gebrannt haben, ist doch allgemein bekannt, wie viele Eier ein Landfrauenheim verbraucht hingegen nicht. Es ist zu befürchten, dass Hennig von Lange die Kassettenerzählung ihrer Großmutter keiner Quellenkritik unterworfen hat. Sie hat überdies offenbar ein Bild ihrer Großmutter entworfen, das dem selbst erlebtem Bild nicht widersprach. Das ist menschlich, aber kurzsichtig. Ein Nazi kann Nazi sein und dennoch lieb zu seinen Enkeln.

Die Autorin füllt nun die Leerstellen: „Anschließend habe ich angefangen, meine Recherche mit den Erinnerungen meiner Großmutter zu verweben, um die Leerstellen zu füllen. Die Boykottaufrufe für jüdische Läden, die ‚Säuberung‘ des Dessauer Theaters, die Schließung des berühmten Bauhauses, Verhaftungen von Sozialdemokraten.“ Mit anderen Worten: Sie ergänzt die Erzählung um harte Fakten, um Sachinformationen, um ein lexikalisches Korsett, das dennoch über die Person Klara nicht mehr erzählt. Das geschieht nicht, indem die Synagoge im Text brennt, sondern indem die Figur mit dem Ereignis in Verbindung gebracht wird.

Alles, was wir über Klara erfahren, wird durch Reflexionen vermittelt, nicht indem sie handelt. So lässt uns die Autorin ständig vom inneren Widerstand der Figur Klara wissen, ohne dass dieselbe Figur auch so handelt. Im Gegenteil: 1938 gelten beide Ländlichen Frauenbildungsheime Oranienbaum und Sandersleben als Vorbilder für den Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB), wie der auch im Roman als Figur aufscheinende Dr. Friedrich Hiller schrieb. (Die ländlichen Frauenbildungsheime in Anhalt, in: Neue Bahnen 49 (1938), Heft 3, S. 65-72). Wenn dieser prominente Mandatsträger der Partei schwärmt, „daß die vom Nationalsozialismus geforderte Einheit der Erziehung von Leib, Seele und Geist“ auch hier gewährleistet ist (S. 72), dann kann es mit dem inneren Widerstand der Leiterin beider Einrichtungen nicht weit her gewesen sein. Ergo: Es ist eine Behauptung der Autorin, die an der Geschichte etwas klittert.

Eine Ausnahme in der Charakterisierung durch Reflexion bildet das Verhältnis von Klara zum jüdischen Waisenmädchen Tolla. Klara wird wirklich tätig und entwickelt Muttergefühle für das Mädchen, das ihrerseits Klara als Mutter betrachtet. Umso erschütternder, dass Klara, als ihre Karriere durch Tollas Existenz bedroht ist, das Kind in ein jüdisches Waisenhaus gibt, nachdem sie erfahren hat, dass während der Reichspogromnacht auch Übergriffe gegen die Berliner jüdischen Waisenhäuser stattgefunden haben. Wohlgemerkt: nachdem. Alexa Hennig von Lange äußert im Interview: „Tolla symbolisiert für mich die Unschuld, die der Gesellschaft und auch Klara in dieser Zeit verloren ging. […] Als die Verhältnisse für die jüdische Bevölkerung dann immer gefährlicher werden, gibt sie Tolla schließlich als ihre eigene Tochter aus, weil sie denkt, das Heim sei ein sicherer Ort für sie. Doch irgendwann kann sie Tolla nicht mehr beschützen. Klara ist längst Teil des Systems geworden.“ Tolla (danke auch, dass die Autorin mich gleich darauf festlegen möchte, als was ich die >Figur betrachten soll) soll also als Allegorie auf die Gesellschaft fungieren, funktioniert so aber nicht. Denn dann wäre ja die Gesellschaft wie ein zehnjähriges Mädchen der Willkür der Nazis ausgesetzt und – unschuldig. Die Allegorie krankt also einmal daran, dass die Nazis nicht etwa Außerirdische waren, die das Deutsche Reich besetzt hätten, sondern sie waren Teil der Gesellschaft, ja: die Mehrheitsgesellschaft. Und zum anderen daran, dass die Preisgabe Tollas aus Feigheit 1938 oder 1939 geschieht, als zu einem Zeitpunkt, zu der Führungskader des NSLB wie Klara schon längst tragende Säulen des Systems geworden waren und man keineswegs mehr von „einer lebensfrohen, jungen Frau [..], die eben noch nicht so wissend ist, wie wir es heute sind“ sprechen kann (Zitat AHvL). Zwar spielt der Roman vor der Shoah, aber die Verdrängung der Juden aus Wirtschaft, Verwaltung und der bürgerlichen Existenz war zu diesem Zeitpunkt sichtbar abgeschlossen.

Das Hauptproblem mit Tolla aber ist der Gestus, es habe nicht in Klaras Macht gelegen, Tolla zu schützen: „Doch irgendwann kann sie Tolla nicht mehr beschützen. Klara ist längst Teil des Systems geworden.“ (AHvL) Richtiger formuliert muss es heißen, irgendwann wollte sie Tolla nicht mehr beschützen, doch Klara war Teil des Systems geworden. In der Diskrepanz dieser beiden Modalverben Können und Wollen liegt der Abgrund der Figur Tolla und der Kolportageerzählung über die Großmutter als heimliche Widerstandskämpferin. Klara und ihr Liebster Gustav „waren Trojanische Pferde, die sich ihre geheime Fracht bewahrten“ schreibt AHvL in einem ihrer schiefen Bilder (S. 276), das deshalb schief ist, weil im Innern des Trojanischen Pferdes Krieger sitzen, bereit zum Handeln. Was wäre es für ein Roman, wenn Klara das Mädchen zu beschützen versucht hätte! Welche Message liefert aber die feige Mitläuferhandlung einer keineswegs starken Frau, die im Roman auch noch die Klassifizierung als „feiner Mensch“ nicht ablehnt? S. 339: „Du bist ein feiner Mensch, Klara Möbius.“ – „Das stimmte vielleicht. Und doch war es unerträglich und ein Albtraum, ihre zehnjährige Tochter wegschicken zu müssen […]. Ab jetzt konnte sie gar nichts mehr für sie tun.“

Doch, kämpfen. Oder es wenigstens darauf ankommen lassen. Ein Risiko eingehen.

Die Autorin verwendet eine Quelle, und zwar die mündlich niedergelegten Erinnerungen ihrer Großmutter, um daraus eine Geschichte zu erzählen, die der Leserschaft eine bestimmte Zeit und eine Frau wie die Großmutter der Autorin näherzubringen. Da muss die Frage gestellt werden: wozu? Was erfahren wir über die Zeit oder die Frau, was wird literarisch verarbeitet, um einen höheren Sinn, eine ästhetische Qualität oder gar einen ethischen Komplex darzustellen?

Die Antwort darauf ist: nichts. Was wegen der fortwährenden exkulpatorischen Reflexion der Hauptfigur erreicht wird, ist die Erzählung einer in der Frauenbewegung des Nationalsozialismus engagierten, womöglich anfangs naiv-konservativen Frau, die im besten Fall verstrickte Mitläuferein war, im schlechtesten Fall eine karrierebewusste Kollaborateurin. „‚Die karierten Mädchen‘ ist das Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit ihren Erinnerungen. […] Mein Buch ist der Versuch, mit meiner Oma über eine zutiefst verstörende Wahrheit ins Gespräch zu kommen.“ Dies schreibt AHvL im Nachwort (S. 366) und offenbart ihr völliges Versagen, den Dialog mit einer wie auch immer gearteten Wahrheit zu führen, weil sie die Antwort immer schon selbst gibt.

Was ist das für eine Wahrheit, mit der sich die Autorin auseinandersetzen möchte? Die Wahrheit über die Handlungsspielräume der Deutschen zwischen 1933 und 1945 oder die Wahrheit über die Großmutter und deren Handlungen in dieser Zeit? Die zweite Wahrheit sucht die Autorin nicht, denn sie hat ihre Erklärungen bereits in den Roman geschrieben: Klara ist eine heimliche Widerstandskämpferin, die nur mit den Wölfen heult, um – tja was eigentlich? Karriere zu machen? Klara ist nicht nur Nutznießerin des nationalsozialistischen Aufschwungs in Anhalt und in Deutschland, sondern sie sucht den Anschluss an diesen Aufschwung aktiv, um ihr Frauenheim weiterführen zu können. In der moralischen Abwägung, ob man mit den beschriebenen Nazis mitmachen und sie zu Hilfe rufen darf, um die materiellen Möglichkeiten zum Weiterarbeiten einer Hauswirtschaftsschule zu haben, deren Kindererholungsheim nur Mittel zum Zweck der Frauenschule ist, in dieser moralischen Frage hat Klara bereits versagt. Ein anständiger Mensch hätte sich eine andere Arbeit gesucht, um sich wenigstens die Hände nicht schmutzig zu machen. Indem die Autorin die zweite Wahrheit – über ihre Großmutter – als unwissentlich Verstrickte, als naive Mitläuferin ausfüllt, verhindert sie die Auseinandersetzung mit der Suche nach der ersten Wahrheit. Wie wäre ein anständiges Leben in der Zeit des Nationalsozialismus möglich gewesen? Welche Handlungsspielräume hatte man, welche Grenzen wurden dem Anständigen gesetzt und wie? All dies passiert in diesem Roman nicht – weder passiert es Klara noch der Autorin.

Soll die Moral von der Geschicht etwa lauten: „Was sollen wir armen Bürger machen“, wenn sie nicht im KZ enden wollen? „Darauf gab es nur eine Antwort. […] Wenn sie nicht so enden wollten wie der Pazifist, mussten sie sich anpassen und ihren inneren Widerstand für sich behalten.“ (S. 254) Wer darauf als Leser des Romans die Antwort gibt, es handele sich doch um eine wahre Geschichte, muss sich mit der Tatsache konfrontieren, dass erstens die Geschichte nicht wahr ist, wie AHvL selbst sagt, und dass zweitens nicht jede vermeintlich wahre Geschichte erzählenswert ist. Warum soll irgendjemand einen Roman lesen, in dem eine Mitläuferin zur heimlichen Widerstandskämpferin stilisiert wird und die Lehre des Romans zu sein scheint, dass die Nazis die anderen waren und man selbst keine Wahl hatte, als sich wegzuducken? Wer soll das lesen? Wem soll das nützen? Welche Kolportage lesen wir als nächstes – die Beichte eines Einsatzgruppensoldaten, der keine Lust am Erschießen von Juden und Partisanen hatte? Ach, Stopp: Den Roman gibt es, er wurde von Jonathan Littell geschrieben und heißt „Die Wohlgesinnten“. Zurecht preisgekrönt.

Diesen Roman kann man empfehlen, dazu freilich von Hans Fallada „Jeder stirbt für sich allein“ über normale Menschen und ihren echten Widerstand (auch eine wahre Geschichte) oder von Robert Merle „Der Tod ist mein Beruf“ über die Banalität des Bösen oder als wirklich lesbares Sachbuch von Norbert Frei „Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933–1945“ darüber, wie diese Zeit funktioniert hat.

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Veröffentlicht am 19.11.2019

Im Stakkato zerstottert

Das Singen der Sirenen
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Eines sollte man aus der Odyssee gelernt haben: Die Sirenen sollte man besser nicht singen hören. Wildenhains Sirenengesang hätte ich mir auch lieber gespart: Sein sprachlich experimenteller, in eigenwilligen ...

Eines sollte man aus der Odyssee gelernt haben: Die Sirenen sollte man besser nicht singen hören. Wildenhains Sirenengesang hätte ich mir auch lieber gespart: Sein sprachlich experimenteller, in eigenwilligen Splittern dahingeschepperter Roman hat mich genervt. Statt der Ohren wollte ich mir die Augen zuhalten (um im homerischen Bild zu bleiben).

Den Klappentext kann man lesen, ich spar mir die Inhaltsangabe. Auch deshalb, weil sie wenig mit dem zu tun hat, was mir der Roman vermittelt hat. Jörg Krippen, der Literaturwissenschaftler auf Dozentur in London, ist ein Lappen; seine Frauenbeziehungen sind eskapistische Midlifecrisis-Erscheinungen; Berlin ist ein Scherbenhaufen aller Insiderorte, die nicht „in“ sind, die nur dem ein Begriff sind, der Berlin sehr, sehr gut kennt. Zum Beispiel: „Blick über das RAW in Schöneweide“. Wer weiß denn außerhalb des VEB-Kiezes in Schweineöde, dass damit das Reichsbahnausbesserungswerk gemeint ist?

Am unangenehmsten hat mich die Sprache getroffen: Wildenhain verweigert sich einem Erzählfluss. Er probiert sprachlich aus, gibt einzelnen Passagen unterschiedliche Tempi, Stile, Tiefen. Herauskommt aber ein experimentelles Durcheinander, das ich nervtötend fand. Substantive werden im Stakkato auf mich abgeschossen, absatzweise wird kein Satz beendet, sondern in der Ellipse erstickt; einander folgende Absätze beginnen gleich - das hat seinen Sinn, stieß mich aber vor allem auf die häufigen Wiederholungen im Text und mir übel auf.

Durcheinander ist auch das Stichwort für das Erzählkonzept Wildenhains, der Zeiten und Szenen in zum Teil Satz auf Satz folgenden Ebenen verschränkt, mischt oder - verwirrt. Auf artifizielle, höchste elaborierte Passagen folgen mitunter provokant geschleuderte Fäkalausdrücke, die kaum zu einander passen. Ich bin überzeugt davon, dass der Autor sehr viel Mühe darauf verwendet hat, so viele Motive, Zeiten, Ideen, Personen und Aussagen gegenüberzustellen und das sicherlich auch kunstvoll nennt. Mir hat es den hinter dem Text liegenden Sinn nicht aufgeschlossen und stattdessen eine etwaige Erzählung buchstäblich in Stücke geschlagen.

Just davor habe ich einen südamerikanischen Meistererzähler gelesen; dafür kann Wildenhain nichts, aber der Kontrast macht mir deutlich, was „Das Singen der Sirenen“ vor allem unterlässt: Geschichten gut zu erzählen.

Veröffentlicht am 18.01.2019

Nur etwas für Actionliebhaber – ansonsten herrscht trübe Grünödnis

Die Klinge des Schicksals
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Danèstara von Tiamin ist die „Klinge des Schicksals“, die nächtens und im Schlaf an irgendeinen Ort des Kontinentes Nankan teleportiert wird, um dort für die Mächte des Guten einzugreifen. Dieses Mal geht ...

Danèstara von Tiamin ist die „Klinge des Schicksals“, die nächtens und im Schlaf an irgendeinen Ort des Kontinentes Nankan teleportiert wird, um dort für die Mächte des Guten einzugreifen. Dieses Mal geht es um nichts weniger, als die Rettung der Welt, denn Nankan wird von der Grünödnis bedroht, jenem menschenfeindlichen Urwald, der wildwuchernd bereits den Kontinent Yarkin verschlungen hat, an dem Nankan als Subkontinent hängt, zersplittert in viele sehr unterschiedliche Reiche mit sehr unterschiedlichen Merkmalen. Danèstara steht dem schwangeren Mädchen Kalenia bei, einem Zirkel von Dämonenbeschwörern auf die Spur zu kommen, die für das Vordringen der tödlichen Natur verantwortlich zeichnen. Ein Wettlauf der Klingen, Intrigen und des Blutes beginnt.

Soweit die Geschichte. Ab hier wird es ernst, und wer das Buch noch lesen möchte, sollte nicht weiterlesen.

Heitz schreibt ein aufschlussreiches Nachwort, in dem er zwei Motive für diesen Roman offenbart: Erstens präsentiert er seinen Grundgedanken für „Die Klinge des Schicksals“: „Was wäre, wenn wir eine ältere Heldin hätten […]?“ Zum Zweiten liefert er mit Yarkin/Nankan „[w]ieder eine neue Welt […], weil es […] sehr viel Spaß macht, neue Welten zu entwerfen.“

Damit sind schon die zwei Grundübel des Romans benannt.

Erstens ist Danèstra nicht alt. Sie hat nur weiße Haare, ansonsten agiert sie wie eine Frau in den besten Jahren. Sie könnte alles zwischen 30 und 50 sein. Nicht umsonst steht auf Seite 556 (von 571): „Zum ersten Mal wirkte sie erschreckend alstund zerbrechlich.“ Genau! Hätte Heitz eine ältere Heldin haben wollen, hätte Danèstra auch älter sein sollen. Weiße Haare und Runzeln als Merkmale des Alters machen noch keinen alten Helden (der wirklich mal reizvoll wäre, aber sich eher im englischen Landhauskrimi antreffen lässt). Zum "Helden" unten mehr.

Zweitens ist es einerseits eine tolle Sache, Welten zu entwerfen, es ist aber andererseits noch toller, wenn diese Welten auch stimmig funktionieren. Nankan aber ist eine Mixtur von lauter mehr oder weniger guten Ideen, die anfangs vielleicht gut klangen, aber nicht über 500 Seiten tragen. Beispielsweise die Natur als „das Böse“ (TM). Das ist ein witziger Gedanke, den aber auch Heitz nicht zu Ende denken mag, denn schließlich ist es doch nicht die Grünödnis (was für ein verqueres Oxymoron), die auf der Gegenseite steht, sondern die von bösen Menschen bedrohte „gute Natur“. Oder die Binnensee Meerwasser/Süßwasser, die ein maroder Damm trennt. Das Szenario ist ein pfiffiger Gedanke, zumal sich eine echte Bedrohung für den Subkontinent ergibt, wenn der Damm bricht. Aber dass die Crokodyle des Süßwassers sich später in der salzigen See ganz im Osten tummeln, ist eine entlarvende Inkonsistenz. Auch die Merkmale der einzelnen Reiche – Elektriker, Bodenschürfer, Stierwahlkönige, Dammwächter und superreiche Verschwender sind Gedanken, die keine tragfähige Basis für einen im Gesamten funktionierenden Kontinent erschaffen. Die zum Teil unaussprechlichen Namen und sinnlosen Akzente tun ihr Übriges, mich mit den Ideen fremdeln zu lassen („Danèstara“, „Nankan“ hat über dem zweiten A einen langen Strich, den meine Textverarbeitung nicht einmal unter den Sonderzeichen kennt).

Nankan ist wie ein Kramladen, in dem es ein paar echte Entdeckungen, aber vor allem sehr viel Ramsch gibt.

Und nun zur Handlung, da wird es dann noch schlimmer.

Heitz hat in diesem Fantasy-Roman keine Helden erschaffen, sondern jede Menge naiver Meuchelmörder, angefangen bei unserer Supergreisin Danèstra, die ihre Interpretation des Schicksals stets sehr schnell zu fassen scheint, um sie anschließend nicht mehr zu hinterfragen. Eigentlich handelt sie stets nach dem ersten Augenschein, ohne über Alternativen nachzudenken. Erst auf Seite 396 fängt sie einmal an, ihre leisen Zweifel auch zu formulieren („Es stimmt überhaupt nichts überein. Was übersehe ich?“), aber zu diesem Zeitpunkt sind schon jede Menge Menschen einfach abgemessert worden. Dass es sich um Scheusale handelt, mildert es nicht, da viele, viele Unbeteiligte ebenfalls über die „Klinge des Schicksals“ springen mussten. Noch ärger treibt es der Schütze Iridian, der für ein Schiffsticket eine ganze Familie abknallt (S. 404). Ist vielleicht deshalb nicht so schlimm, weil es sich um Reiche handelt? Jedenfalls droht Heitz im Nachwort an, dass Danèstras Truppe wiederkommen könnte, dann aber bitte nicht mit solchen Mördern.

Graue Helden sind eine feine Sache, aber Helden zeichnet in allen guten Büchern des Genres aus, dass sie niemals so werden wie ihre Gegner, niemals. Im Angesicht der Gefahr bleibt ein Held immer seinen Prinzipien treu, und diese sind niemals beliebig. Einzelne für „das größere Ganze“, ein „höheres Ziel“ oder „ad maiorem dei gloriam“ zu opfern, ist ein vornehmes Vorrecht der Bösewichte. Denn wahre Helden sind immer dem Individuum verpflichtet, auch die „Klinge des Schicksals“, zumindest am Beginn ihrer Queste, als es noch um Kalenias Wohl ging. Danèstra gilt als Kämpferin für „Das Gute“ (TM), und ich frage mich: warum? Ihre dümmlich-naive Handlungsweise legt das nicht nahe, sondern ist kriminell fahrlässig. Eine Einteilung in „Das Gute“ (TM) und „Das Böse“ (TM), die auch noch innerweltlich vorgenommen wird, zeugt nicht gerade von der Bemühung um Grauschattierungen, korrespondiert aber auf unangenehme Weise mit der Naivität der Handelnden.

Im Übrigen: Wenn Kalenia sagt, sie sei das Instrument zur Rettung der Welt – wieso ist dann das Gegenteil richtig, wenn sich dies Aussage als Lüge entpuppt? Wieso also hält man Kalenia dann für das Instrument der Zerstörung der Welt und nicht – wie es am Ende geschieht – schlicht für eine übergeschnappte Lügnerin? Hanebüchen.

Passt aber zu der blindwütigen Jagd, zu der Danèstra mit ihrer Truppe aufbricht. Dieser über das Knie gebrochene Aufbruch samt Auftrag ist wahrscheinlich auch der Grund, warum man so schwer in den Roman hineinkommt. Die ersten 100 bis 150 Seiten sind nicht spannend – wie auch viele Rezensionen bemerken. Überdies führt die Meucheljagd über den Kontinent auch dazu, dass im Vorbeirauschen Teile der Handlung wie Fremdkörper wirken (etwa der Sonderauftrag der beiden Ingeniae im Köhlerdorf oder die folgenlose Tötung des Königs Horneus). Was das Figurenkonzept betrifft, formuliert es Ilreen dem Schützen Vytain gegenüber ausgesprochen treffend (S. 509): „Aber bei der ganzen Rennerei blieb keine Zeit, dich näher kennenzulernen.“ Genau! Uns Lesern auch nicht! Alle Figuren sind platt, eindimensional und austauschbar.

Ein Tiefpunkt der Handlung ist der Moment, in dem der Bösewicht seinen Plan zu einem unpassenden Zeitpunkt enthüllt, zu dem eigentlich keine Zeit für lange Erklärungen ist, nach denen überdies niemand gefragt hat (S. 439).

Das Ende in einem Völkerbund der Kriegsparteien ist überraschend seicht. Man fragt sich auch, wie es dazu kommen kann, nachdem die hinter dem Wald stehenden Treyden zuerst alle Menschen getötet haben, die in ihrem Wald herumgingen, und selbst während der diplomatischen Phase zum Schluss noch Erpressung, Mord und Totschlag geschehen. Das sind Handlungsmomente bar der Logik, in denen man dem Autor einfach nicht folgen kann.

Das betrifft insbesondere die Idee des „Grünen Herzens“, also des Edelsteins, um den es am Ende den Waldgeistern geht: Es ist ausweislich der im Buch erzählten Geschichte entstanden, nachdem der Wald bereits wucherte. Es ist zudem der Rest eines Magiers, keines Waldbewohners. Wie kann es dann zum zentralen energetischen Kern des Waldreiches geworden sein?

So wie der holprige Einstieg des Erzählers bisweilen wie eine schlechte Übersetzung einer fremdsprachlichen Urfassung des Textes wirkt, wirken viele Ideen und Wendungen wie plötzliche Einfälle, die nachträglich eingefügt wurden und auch nachträglich mit der Handlung verknüpft werden.

Ist denn gar nichts gut an dem Roman?

Doch, natürlich. Er liest sich nach anfänglichen Schotterstrecken schnell und flüssig und ist einer seichten Serie im Fernsehen allemal vorzuziehen. Die Fülle an Einfällen des Autors liefert auch immer wieder tolle Momente – so ist es kaum möglich, den armen Tropf Quent nicht zu mögen. Auch die Elektrotechnik aus Izozath ist eine stimmige Idee. Und mit dem seltsamen UN-Hochgericht in der Causa Kalenia versöhnt einen fast vollständig der Satz „Rache kennt keine Gerechtigkeit.“ (S. 464)

Das war mein erster Heitz. Und es wird mein letzter bleiben. Wer es aber mit den Details nicht so genau nimmt und rasante Action einem kniffligen Plot vorzieht, der kommt hier auf seine Kosten.