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Veröffentlicht am 09.12.2019

Ian McEwan - Die Kakerlake

Die Kakerlake
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Eine gefährliche Reise für das Insekt über die vollen Straßen Londons, doch es erreicht das Ziel heile und am nächsten Morgen die große Überraschung: statt des gepanzerten Körpers findet er sich plötzlich ...

Eine gefährliche Reise für das Insekt über die vollen Straßen Londons, doch es erreicht das Ziel heile und am nächsten Morgen die große Überraschung: statt des gepanzerten Körpers findet er sich plötzlich in jenem eines Homo sapiens wieder. Nicht irgendeines Homo sapiens, sondern jenem von Jim Sams, dem britischen Premierminister. Dieser hat das größte Projekt des Landes seit Kriegsende vor sich, den Reversalismus, ein unglaublicher Vorgang, den noch kein Land gewagt hat und den er nun mit dem Intellekt einer Kakerlake durchführen muss.

Ian McEwans literarischer Beitrag zu den politischen Vorgängen, die seit über drei Jahren den öffentlichen Diskurs im Vereinigten Königreich bestimmen. Die Parallelen zu Kafkas absurdem Text überraschen nicht wirklich, man kann seit Langem nur noch mit Verwunderung zusehen, was sich auf der Insel tut und wie das Land sehenden Auges in die Katastrophe rennt und sich dabei ein immer tieferer Riss in der Gesellschaft bildet.

Es hat einen gewissen Charme anzunehmen, dass es Kakerlaken zu verantworten haben, was sich in Großbritannien tut. Die Vermenschlichung mit all ihren Einschränkungen wie dem begrenzten Blick, gelingt McEwan erwartungsgemäß überzeugend. Auch braucht es nicht viel, um die Analogie zwischen den Figuren und den realen Politikern zu erkennen, allen voran natürlich dem amerikanischen Präsidenten mit seiner Twitter-Politik.

„In schwierigen Zeiten wie diesen braucht das Land einen verlässlichen Feind.“

Würde man sich in anderen Werken an reduzierten und simplifizierten Aussagen stören, passen sie in diesem Roman perfekt. Es gibt nicht mehr viel Meinung zum Brexit auszuhandeln, es benötigt auch keine besondere Subtilität, um sich zur Gegenmeinung zu bekennen. Es fehlen einem die Worte und es braucht ein kafkaeskes Szenario, um einen Sinn darin zu erkennen, was gerade geschieht.

„Warum? Weil. Weil wir das nun mal tun. Weil es das ist, woran wir glauben. Weil wir uns an unser Wort halten. Weil das Volk es so will. Weil ich als Retter aufgetaucht bin. Weil. So lautet letztlich die einzige Antwort: weil.“

Auch wenn nicht daran zu glauben ist, dass es noch eine Umkehr geben wird, vielleicht hilft aber der berühmte Spiegel, den man vorhält, und die drastische Darstellung, die Augen zu öffnen.

Veröffentlicht am 05.12.2019

Mattias Edvardsson – Der unschuldige Mörder

Der unschuldige Mörder
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Die Zeitungskrise trifft im Jahr 2008 auch Zackarias Levin, gepaart mit der Trennung von seiner langjährigen Freundin und Wochen voller Party und Besäufnis, zieht er schließlich von Stockholm zurück zu ...

Die Zeitungskrise trifft im Jahr 2008 auch Zackarias Levin, gepaart mit der Trennung von seiner langjährigen Freundin und Wochen voller Party und Besäufnis, zieht er schließlich von Stockholm zurück zu seiner Mutter nach Veberöd in die schwedische Provinz. An einen Job in der Medienbranche ist aktuell nicht zu denken, weshalb er beschließt, ein Buch zu schreiben, immerhin hat er literarisches Schreiben studiert und genau da liegt auch die Geschichte, die er erzählen möchte. Er und seine Clique lernten in der Studienzeit in Lund durch ihre Dozentin den gefeierten Schriftsteller Leo Stark kennen, der irgendwann spurlos verschwand. Obwohl nie eine Leiche entdeckt wurde, hat man Zacks Freund Adrian Mollberg zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Schon damals und nun noch mehr hegte Zack Zweifel an dem Urteil. Er will die Geschichte erzählen, wie sie wirklich war, die Geschichte des unschuldigen Mörders. Doch schon sein erster Besuch bei ihrer gemeinsamen Freundin Betty löst eine unglaubliche Kette von Ereignissen aus, die irgendwann auch zack selbst ins Fadenkreuz der Polizei befördern.

Der schwedische Lehrer Mattias Edvardsson hat die Geschichte seines zweiten Romans clever konstruiert. Er erzählt nicht auf zwei Zeitebenen die Ergebnisse der Studentenzeit und der Gegenwart der Figuren, sondern nutzt Zacks Schreiben als Möglichkeit, die Vergangenheit wieder aufzurollen. Dabei wird bald auch klar, dass diese natürlich jeder Objektivität mangeln muss, da nur eine Figur ihre Erinnerung, ergänzt durch die aktuellen Nachforschungen, liefert und unweigerlich ein großes Fragezeichen hinter dem stehen muss, was uns Zack als reale Geschehnisse anbietet. Die hierdurch entstehende Unsicherheit und ab einem gewissen Punkt auch die Frage, ob man ihm – und nebenbei: auch allen anderen - überhaupt vertrauen und glauben sollte, macht in diesem Buch einen ganz besonderen Reiz aus.

„Der unschuldige Mörder“ ist als Roman eingeordnet, auch wenn der Titel einen Krimi nahelegt. Spannend ist die Suche nach dem tatsächlichen Mörder allemal, aber viel mehr noch lebt die Story von den Figuren und den vielen blinden Flecken des Nichtwissens und Nichtsagens.

„Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte. Ich begriff immer weniger. Aber eines verstand ich: die Wahrheit kann sehr verschieden sein.“

Daneben ist es auch eine Geschichte vom Erwachsenwerden, von großen Träumen und intensiver Liebe, die Menschen bis an ihre Grenzen und bisweilen darüber hinaus treibt. Im starken Gegensatz zu den jungen philosophierenden Literaten, die sich von der Welt ihrer Dozentin und des Autors faszinieren lassen, steht Zacks Mutter, die erfrischend deutlich die pragmatische Elterngeneration vertritt und fest im Hier und Jetzt verankert ist; ihre zutiefst banalen und lebenspraktischen Kommentare brechen die Handlung immer wieder auf und ermöglichen den Schritt zurück, wenn man sie als Leser zu sehr von der Handlung packen und hineinziehen lässt.

Eine rundum überzeugende Geschichte, die durch interessante Figuren und vor allem die subtile Erzählweise punktet.

Veröffentlicht am 27.11.2019

Helen Fields - Die perfekte Strafe

Die perfekte Strafe
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Eine junge Frau wird tot aufgefunden. Was hatte sie in der eisigen Nacht auf dem Berg zu suchen und weshalb war sie nicht bekleidet? Anzeichen von Gewalt gibt es augenscheinlich keine, erst die Blutprobe ...

Eine junge Frau wird tot aufgefunden. Was hatte sie in der eisigen Nacht auf dem Berg zu suchen und weshalb war sie nicht bekleidet? Anzeichen von Gewalt gibt es augenscheinlich keine, erst die Blutprobe weist auf Drogen hin – doch Lily war eine erklärte Gegnerin von allen Substanzen. Auch die Leiterin einer Wohltätigkeitsorganisation schwebt in Lebensgefahr, denn der nette junge Mann, der sie seit Neuestem unterstützt, hat eine eigene Agenda, die so gar nichts mit Nächstenliebe zu tun hat. DCI Ava Turner und ihr Kollege Luc Callanach stehen unterdessen immer noch unter Schock: scheinbar hat ihr ehemaliger Vorgesetzter Selbstmord begangen. Doch es gab keine Anzeichen für eine solche Tat. Ava kann und will das Ergebnis nicht hinnehmen und kommt bald schon Ungereimtheiten auf die Spur – die jedoch direkt zurück zur Polizei führen.

Teil drei für das Ermittlerduo aus Edinburgh, der beide auch ganz privat weit über ihre Grenzen hinaus führt. Auch ohne die beiden Vorgänger zu kennen, lässt sich mit „Die perfekte Strafe“ gut in die Serie einsteigen. Helen Fields gelingt es hier vor allem, die persönliche Seite der Ermittler und die Zwiespälte, denen sie ausgesetzt sind, zu offenbaren: Gefühl und Verstand lassen sich nicht immer ganz einfach unter einen Hut bringen, wenn beide auch dasselbe Ziel von Gerechtigkeit verfolgen.

Die Mordfälle scheinen zunächst völlig lose zu sein und es dauert, bis die Verbindungen sich zeigen und die Polizei überhaupt einen Ansatzpunkt findet. Die Komplexität hätte auch nicht höher sein dürfen, der Thriller ist schon recht anspruchsvoll, wenn man keinen der Handlungsstränge aus dem Auge verlieren möchte. Durch die geschickte Verwebung nimmt die Spannung dann aber kontinuierlich zu und steigert sich bis zum passenden Schluss.

Besonders konnte mich jedoch der Erzählton der Autorin begeistern. Treffsichere Formulierungen laden immer wieder zum Schmunzeln ein und brechen den brutalen Polizeialltag und die Anspannung auch immer wieder an den richtigen Punkten auf. Dies nutzt sie insbesondere da, wo auch der unterschwellige Sexismus in den Ermittlungsbehörden sich zeigt, um diesen bloßzustellen und ins Abseits zu rücken. Ein insgesamt vielschichtiger und anspruchsvoller Thriller, bei dem alles passt.

Veröffentlicht am 17.11.2019

Ilaria Tuti - Eiskalte Hölle

Eiskalte Hölle
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Das norditalienische Bergdörfchen Travenì wird von einem brutalen Mordfall erschüttert. Nicht nur wurde ein geschätzter Bewohner aus der Mitte der kleinen Gemeinschaft gerissen, nein, er wurde mit bloßen ...

Das norditalienische Bergdörfchen Travenì wird von einem brutalen Mordfall erschüttert. Nicht nur wurde ein geschätzter Bewohner aus der Mitte der kleinen Gemeinschaft gerissen, nein, er wurde mit bloßen Händen getötet und dann hat man ihm die Augen ausgerissen. Was für ein Mensch kann für so eine Tat verantwortlich sein? Auch die herbeigerufene Kommissarin Teresa Battaglia kann sich nur schwer einen Reim auf die Psyche des Mörders machen, fürchtet jedoch schnell, dass es noch weitere Opfer geben wird und zu ihrem Leidwesen behält sie Recht damit. Ein grausames Wesen treibt sich im Wald im das Dorf herum, auch die Kinder haben ihn schon gesehen und nennen ihn nur das Gespenst, weil er leichenblass ist und mit seiner Umwelt verschmilz und so geradezu unsichtbar wird, wenn er nicht gesehen werden will. Teresa hat es mit einem schwer greifbaren Gegner zu tun, doch noch ein anderer Feind setzt ihr zu: ihr eigener Körper. Wird dieser den Strapazen der winterlichen Ermittlungen standhalten und sie den Fall noch lösen können?

Das Thrillerdebut der italienischen Autorin packt den Leser schon nach wenigen Seiten. Leider wurde beim deutschen Titel einiges verschenkt, da die Aussagekraft des Originals („Fiori sopra l’inferno“) verloren geht, die im Buch wieder aufgegriffen wird und mit ein Schlüssel zur Lösung des Falls ist. Genau dieses ist es auch, dass den Roman von anderen des Genres abhebt: es gibt mehr zwischen Himmel und Erde als uns bewusst ist und es gibt Menschen, die eine besondere Verbindung zur Natur haben und mehr wahrnehmen können als andere. Ein schreckliches Ereignis ermöglicht den Blick in die Hölle, den man nie wieder loswird. So geht es Teresa, die ihre Dämonen ständig im Zaum halten muss, so geht es dem Täter. Nur hierüber kann sie sein Denken verstehen, nur so kann sie ihn fassen.

Ein Thriller kann auf vielerlei Weise beeindrucken. Die geschilderte Brutalität, die völlig degenerierte Psyche eines Täters, die clever konstruierte Handlung, das Charisma und der Intellekt des Ermittlers. „Eiskalte Hölle“ fasziniert jedoch durch etwas anderes – wenn hier auch die psychologischen Aspekte ebenso fesseln wie die Figur der Kommissarin – und rückt den Thriller schon stark in die Nähe eines Horrorromans. Die Schilderungen vor allem der Kinder, dass sie ein Wesen im Wald sehen, dass sie sich beobachtet fühlen, dass es eine nicht greifbare Präsenz gibt, jagen einem den Schauer den Rücken hinunter. Man weiß, dass es diese Figur gibt und man weiß, dass sie wieder zuschlagen wird und so beschleunigt sich der Herzschlag beim Lesen mehr als einmal. Vor lauter Sorge, dass doch wenigstens die Kinder verschont bleiben mögen, kann man gar nicht anders als weiterlesen.

Die Angst, die im Dorf umgeht, der Schrecken, der von den verstümmelten Opfern ausgeht – der real gewordene Grusel, dem man sich nicht entziehen kann. Doch dann gelingt der Autorin etwas Unerwartetes: in dem augenscheinlich Bösen erkennt ihre Protagonistin noch etwas ganz anderes und die einfache Dichotomie von Gut und Böse muss infrage gestellt werden. Ein fesselnder Roman, der sich förmlich in den Leser hineinschleicht.

Veröffentlicht am 17.11.2019

Franziska Kleiner - Was von der DDR blieb

Was von der DDR blieb
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Zum dreißigsten Mal hat sich diesen Herbst der Mauerfall gejährt. Die DDR ist Geschichte, inzwischen lebt eine ganze Generation, die ein geteiltes Deutschland nie erlebt hat und für die der ostdeutsche ...

Zum dreißigsten Mal hat sich diesen Herbst der Mauerfall gejährt. Die DDR ist Geschichte, inzwischen lebt eine ganze Generation, die ein geteiltes Deutschland nie erlebt hat und für die der ostdeutsche Staat in etwa genauso präsent ist wie der Zweite Weltkrieg. Doch ist sie wirklich untergegangen oder lassen sich auch im Deutschland des Jahres 2019 noch Spuren finden? Franziska Kleiner hatte sich bereits vor zehn Jahren auf die Suche nach selbigen gemacht und nun ihr Buch, das von Annika Huskamp dazu passend illustriert wurde, aktualisiert. Siehe da: so ganz untergegangen ist sie nicht, die DDR, denn bei genauem Hinsehen, kann man sie durchaus in Ost und West (!) entdecken.

Das kleine Büchlein ist eine Sammlung von Daten, Fakten und Anekdoten, also nichts, was man einmal von vorne nach hinten durchliest, sondern eher ein Buch, das zum Schmökern und immer wieder Reinlesen einlädt. Die Bandbreite ist dabei erstaunlich groß, der öffentliche Raum mit seinen Straßen und Autos wird ebenso betrachtet wie die Kulturszene mit ihren Filmen, Büchern und Vordenkern, aber auch der Alltag in Form von Lebensmitteln oder den typischen Plattenbauten findet seinen Platz.

Ich war zu jung, um die DDR zu Existenzzeiten zu begreifen oder die Bedeutung der Maueröffnung damals zu verstehen. An der Südwestgrenze Deutschlands geboren war sie auch einfach zu weit weg, um in meinem kindlichen Bewusstsein präsent zu sein. Umso spannender daher für mich die Frage, was mir denn von der DDR bekannt ist und tatsächlich konnten auch verschiedenste Reisen die offenkundigen Lücken kaum schließen. Die berühmten Bauwerke oder auch preisgekrönten Bücher und Filme der letzten Jahre sind nicht so überraschend gewesen, bei den Sportlern und Industrieanlagen sieht das jedoch schon ganz anders aus und bei so manchem Produkt, das ich selbstverständlich konsumiere oder benutze, war mir Herkunft und Geschichte gar nicht bekannt.

Eine dank des lockeren Plaudertons immer wieder unterhaltsame Lektüre, die ganz nebenbei auch den Blick schärft für ein Land, das auch nach seinem Untergang munter weiterlebt.