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Veröffentlicht am 21.01.2020

Spannend, informativ, abwechslungsreich, mit viel Gefühl

Jahre der Veränderung
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„Das Leben war es, das den Neubeginn brachte, nicht der Kalender.“ (S. 214)
10 Jahre sind vergangen, seit Edith, Luise und Margot die Hebammenausbildung erfolgreich abgeschlossen haben. Sie arbeiten zusammen ...

„Das Leben war es, das den Neubeginn brachte, nicht der Kalender.“ (S. 214)
10 Jahre sind vergangen, seit Edith, Luise und Margot die Hebammenausbildung erfolgreich abgeschlossen haben. Sie arbeiten zusammen in der Klinik, bilden inzwischen selbst aus und arbeiten (zum Teil ehrenamtlich) in verschiedenen Beratungsstellen für Frauen. Natürlich ist es jedes Mal ein Wunder, wenn sie einem Baby auf die Welt helfen, aber sie werden auch fast täglich mit Leid und Elend konfrontiert: junge Mädchen, die sich prostituieren müssen, um zum Unterhalt der Familie beizutragen und sich dabei mit Geschlechtskrankheiten infizieren oder schwanger werden, Opfer von Vergewaltigungen, die die Kinder austragen müssen, weil Abtreibungen verboten sind, und Frauen, die nicht wissen, wie sie auch noch das achte Kind satt und groß bekommen sollen.

Luise, die Günthers Tod nie verwunden hat, stürzt sich regelmäßig ins Nachtleben, um zu vergessen und sich abzulenken. „Wir laufen alle vor irgendwas davon. Die meisten wissen es nicht einmal. Sie verlieren sich in der Welt der Leuchtreklamen, in Ballhäusern und Nachtbars. … Es ist eine Sehnsucht nach irgendwas, nach dem Verbotenen, wie es scheint. Ausbrechen, Fortlaufen, den Alltag hinter sich lassen.“ (S. 62) Dabei lernt sie die geheimnisvolle Marina kennen, auch eine verlorene Seele. Können sich die beiden vielleicht gegenseitig retten?
Auch Margot ist noch nicht angekommen. Sie hat eine Affäre mit einem verheirateten Mann, der ihr immer wieder verspricht, sich scheiden zu lassen. Wie lange soll sie noch darauf warten?
Edith kann sich seit der versuchten Vergewaltigung vor vielen Jahren keine Beziehung mit einem Mann vorstellen. Sie geht in ihrer Arbeit in der Sexualberatungsstelle auf. Eine der Ärztinnen dort versucht sie zu überzeugen, ebenfalls Medizin zu studieren – dann könnten sie zusammen eine Praxis eröffnen. Aber Edith ist Jüdin und wird deswegen erstmals von einer Patientin beleidigt und abgewiesen.

Nach „Aufbruch in ein neues Leben“ erzählt Linda Winterberg in „Jahre der Veränderung“ die Geschichte der drei Freundinnen und Hebammen im Berlin der beginnenden 30er Jahre weiter. Im Nachtleben spürt man die Goldenen Zwanziger noch – rauschende Partys, große Shows, Alkohol, Drogen und unverbindlicher Sex. Doch tagsüber sind die Anzeichen der Weltwirtschaftskrise nicht mehr zu übersehen. Immer mehr Menschen werden arbeitslos und verlieren ihre Wohnungen. Die politische Situation spitzt sich zu. Es kommt zu Demos, Straßenschlachten und antisemitischen Übergriffen. Ihr Augenmerk richtet sich dabei natürlich besonders auf die Rolle der Frauen. Diese sind oft die einzigen Ernährer der Familie, da sie billigerer Arbeitskräfte sind als die Männer. Dabei haben sie weniger Rechte und wehren sich zu selten gegen ihre brutalen Ehemänner.
Ich war erstaunt, wie relativ modern man damals schon in der Frage der Familienplanung war. In den Beratungsstellen werden Kondome und Pessare ausgegeben, um die Gefahr von Schwangerschaften und Geschlechtskrankheiten zu minimieren. Die Hebammen führten Sexualberatungen durch, es gab Mütterkurse (heute: Geburtsvorbereitungskurs) und sie bildeten Kindermädchen aus – die oft selber gerade erst den Kinderschuhen entwachsen waren.

Linda Winterberg schreibt sehr spannend und mitreißend. Die Handlung ist informativ, sehr abwechslungsreich und mit viel Gefühl. Mit anderen Worten – ein echter Pageturner. Ich bin schon sehr gespannt, wie sich die Lebenswege von Edith, Luise und Margot weiterentwickeln und kann Band 3, der im August erscheint, kaum erwarten.

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Veröffentlicht am 20.01.2020

Heimatlos

Tage des Lichts
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„Sie machte die Arbeit nicht gern, aber sie machte sie sorgfältig, weil diese Arbeit ihr ein Leben in einem Land ohne Nazis und ohne offenen Hass gegen Juden erlaubte.“ (S. 78)
August 1939: Ruth lebt und ...

„Sie machte die Arbeit nicht gern, aber sie machte sie sorgfältig, weil diese Arbeit ihr ein Leben in einem Land ohne Nazis und ohne offenen Hass gegen Juden erlaubte.“ (S. 78)
August 1939: Ruth lebt und arbeitet auf dem Hof der Sandersons in Frinton-on-Sea, damit sie ihre Arbeitsvisum nicht verliert und ihre Familie nachholen kann. Die Situation ist schwierig, die Ehe ihrer Arbeitgeber Olivia und Freddy nicht glücklich. Olivia hatte sich mehr vom Leben erhofft und behandelt Ruth wie eine Leibeigene, zum Glück setzt sich Freddy oft für sie ein. Ruth, die früher selber Bedienstete hatte, muss jetzt alles machen, was an Haus- und Hofarbeit anfällt. Sie steht vor allen anderen auf und geht als letzte ins Bett. Außerdem plagt sie die Sorge, ob die Unterlagen, die sie nach Deutschland geschickt hat, um ihren Vater aus Dachau herauszuholen, wirklich angekommen sind und ihre Familie endlich auf dem Weg nach England ist. Sehnsüchtig wartet sie auf den erlösenden Anruf.

„Tage des Lichts“ ist der dritte Teil der Seidenstadt-Saga und beruht auf den wahren Erlebnissen der Jüdin Ruth Meyer. Ulrike Renk hat es wieder geschafft, mich von der ersten Seite an in die Geschichte zu ziehen und nicht mehr loszulassen. Sie schreibt so fesselnd, dass ich beim Lesen die Zeit vergessen und das Buch erst weit nach Mitternacht aus der Hand gelegt habe.

Der größte Teil des Buches spielt auf dem Hof der Sandersons, trotzdem bekommt man einen sehr guten Einblick in die sich ändernde politische Lage und Entwicklungen in der Welt und wie diese sich auf alle Bereiche niederschlagen. Zudem erfährt man so aus erster Hand, wie sich die Menschen fühlen und was sie denken. Die Älteren erinnern sich noch an den ersten Weltkrieg und können sich nicht vorstellen, dass es nur 20 Jahre später zum nächsten kommen soll. „Hat denn keiner aus der Geschichte gelernt?“ (S. 483) Ruth hatte gehofft, in England endlich in Sicherheit zu sein, doch jetzt rückt der Krieg unaufhaltsam näher. „Es fühlt sich so an, als wären wir losgerissen worden und würden nur immer weiter und weiter getrieben werden.“ (S. 399) Werden sie es nach Amerika schaffen, bevor die Nazis sie alle umbringen?

Ruth hat eine große Entwicklung hinter sich. Aus dem verwöhnten, blauäugigen Mädchen mit dem Kopf in den Wolken und voller Träume von der großen Liebe, ist eine tatkräftige und zupackende junge Frau geworden, die alles daransetzt, ihre Familie vor den Nazis zu retten. Sie hat Angst, ist sehr einsam und vermisst ihre Familie und Freunde. Zudem muss sie sich immer öfter gegen die Anschuldigungen wehren, dass sie ja eine Deutsche und damit automatisch ein Nazi wäre. Ich habe jedes Mal mit ihr mitgefühlt und bewundert, wie sie das alles aushält. Besonders Olivia macht ihr das Leben schwer, wofür ich diese lange Zeit nicht gemocht habe. Sie wirkte überheblich und dumm, bis mir klar wurde, dass sie es einfach nicht besser wusste und der Propaganda glaubte, dass die Juden ihren Reichtum in Deutschland nur verstecken haben und jetzt nach England kommen, um dort die Herrschaft zu übernehmen!
Einen großen Eindruck hat wieder Edith Nebel bei mir hinterlassen. Sie ist ebenfalls Jüdin und eine ehemalige Deutsche, die Ruth eine große Stütze ist und selbstlos so viele Juden wie möglich zu retten versucht.

„Tage des Lichts“ hat mich wieder sehr berührt. Ich habe mit Ruth gezittert, gebangt und gehofft und bin schon sehr gespannt, wie die Geschichte weitergeht. „Wir sind noch auf der Reise und wahrscheinlich noch lange nicht am Ziel angekommen. Vielleicht werden wir das auch nie wieder.“ (S. 230)

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Veröffentlicht am 10.01.2020

Mit kühlem Kopf und klarem Verstand

Bergab geht's tot am schnellsten
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Kurz vor Weihnachten nimmt Henni mit ihren Freundinnen Conny und Claudia den Auftrag an, die Feier zum 100. Geburtstag eines längst verstorbenen Filmstars musikalisch zu Begleiten. Die Witwe des Toten ...

Kurz vor Weihnachten nimmt Henni mit ihren Freundinnen Conny und Claudia den Auftrag an, die Feier zum 100. Geburtstag eines längst verstorbenen Filmstars musikalisch zu Begleiten. Die Witwe des Toten hat dazu ihre engsten Freunde (kaum einer unter 80) in das „Grandhotel Alpenstern“ in die malerisch verschneiten Schweizer Alpen eingeladen. Leider stellt sich das Grandhotel als uralte baufällige Holzhütte heraus. Fast alle Räume sind kahl und dreckig, nur die Zimmer für die zahlenden Gäste wurden auf Vordermann gebracht. Die drei Musikerinnen hingegen und Hennis Kater, der wieder mit dabei ist, werden im Dach in ehemaligen zugigen Dienstbotenzimmern untergebracht.
Schon beim Galadinner am ersten Abend eskaliert die Situation. Während der Festrede zu Ehren des Toten kommt es zum handfesten Streit, den die Musikerinnen zum Glück schlichten können. Doch in der Nacht weckt Cindy Henni, sie hat zwei Gestalten entdeckt, die zur nahegelegenen Kapelle schleichen: „Irgendwie habe ich dauernd das Gefühl, etwas Schreckliches könnte geschehen.“ (S. 153). Dann wird das Hotel auch noch eingeschneit und die drei Freuen müssen plötzlich überall mit anfassen, das Essen servieren, die Alten waschen und anziehen – dafür bekommen sie eindeutig zu wenig Honorar, meint Henni. Wenn es wenigstens einen richtigen Mord gäbe …

„Bergab geht´s tot am schnellsten“ ist der zweite Band der Cosy-Krimi-Reihe mit Henni (Henriette Sophie von Kerchenstein) und ihrem Kater Walter von Stolzing. Obwohl die Fälle in sich abgeschlossen sind, würde ich mit dem ersten Band „Tote kriegen keinen Sonnenbrand“ anfangen, um die Figuren besser zu verstehen.

Hilke Sellnick hat es wieder geschafft, mich von der ersten bis zur letzten Seite wunderbar zu unterhalten. Ihre Protagonisten sind herrlich skurril. Die alternden, klapprigen Filmsternchen gehörten schon zu ihren erfolgreichen Zeiten maximal zu den C-Klasse-Promis und pflegen seit Jahren ihre Freund- und Feindschaften. Jetzt, auf engstem Raum und mitten im Schneesturm, kochen die Gefühle hoch und dann wird auch noch das Essen knapp (!), weil sie länger bleiben müssen als geplant.
Natürlich stolpert Henni dann wirklich noch über eine Leiche und muss sich mit dem unfreundlich Unterkommissar Huber arrangieren, der immer wieder einen kühlen Kopf und klaren Verstand bei den Ermittlungen fordert. Doch Henni setzt lieber auf ihre weibliche Intuition und eine ordentliche Portion Neugierde – und gerät prompt selbst in Gefahr. „Ein Unglück zieht das andere nach …“ (S. 175)

Mein Fazit: Skurril, sehr amüsant und spannend bis zum Schluss – ich hoffe, Henni ermittelt bald in ihren nächsten Fall!

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Veröffentlicht am 28.12.2019

Gehen oder Bleiben?

Juni 53
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„Es scheint, als ob es niemals friedlich sein kann.“ (S. 7)
Im fünften Teil der Max-Heller-Reihe beschäftigt sich Autor Frank Goldammer mit den Geschehnissen rund um den 17. Juni 1953. Die Unzufriedenheit ...

„Es scheint, als ob es niemals friedlich sein kann.“ (S. 7)
Im fünften Teil der Max-Heller-Reihe beschäftigt sich Autor Frank Goldammer mit den Geschehnissen rund um den 17. Juni 1953. Die Unzufriedenheit der Menschen wächst, sie sind wütend wegen der Mangelwirtschaft, den Stromsperren und zu hohen Arbeitsnormen und demonstrieren gegen die Regierung: „Es musste so weit kommen. Ich frage mich, wie blind und taub man eigentlich sein kann. Wir ... sprechen seit Jahren die Probleme der Arbeiter an ... Niemand wollte das hören!“ (S. 28)
Das MfS nutzt den Aufstand für scheinbar wahllose Verhaftungen. Erwischen sie wirklich die Aufrührer oder schaffen sie sich so ungeliebte Störenfriede vom Hals und schüchtern die Bevölkerung ein?!

In dieser hochexplosiven Situation muss Heller in einer Firma für Rohrisolierungen ermitteln. Dessen Leiter, Martin Baumgart, wurde brutal mit Glaswolle erstickt und der zur gleichen Zeit verschwundene Parteifunktionär Kruppa soll entführt worden sein. Sind tatsächlich die Demonstranten vom 17. Juni schuld? Das behauptet zumindest Stasi-Offizier Bech, der Heller zugeteilt wurde, schon vor Beginn der Ermittlungen. Oder liegen die Gründe doch in der Vergangenheit der Firma? Heller stolpert nämlich über fehlende bzw. lückenhafte Unterlagen zu Zwangsarbeitern und Untersuchungen, inwieweit die Lungen der Arbeiter durch die Glasfasern geschädigt werden.

Heller scheint es bei den Ermittlungen zu diesem Fall noch schwerer zu haben als bisher. Sein Vorgesetzter Niesbach wurde ohne Ankündigung durch einen neuen Kommandeur ersetzt, den Heller überhaupt nicht einschätzen kann. Außerdem mischt sich Stasi-Offizier Bech immer wieder in die Ermittlungen ein. Er lässt Zeugen als verdächtig verhaften und manipuliert sie, überstellt Gefangene ins Stasi-Gefängnis oder lässt plötzlich wieder frei. Es kommt mehrfach zu Kompetenzgerangel und Anschuldigungen, dass Heller zu zimperlich und seine Methoden überholt sind. „So ist die neue Welt. … Schnell und sauber, und wir säubern sie so lange, bis das letzte bisschen Dreck verschwunden ist!“ (S. 268)

Max ist in der Sinnkrise, sämtliche Illusionen sind zerstört. „Die ganze Zeit über, all die Jahre nach dem Krieg, dachte ich, es wird bestimmt besser. … Aber jetzt wird mir klar, sie werden keinen Millimeter zurückweichen. Im Gegenteil. Sie sind unerbittlich.“ (S. 249) Karin will, dass er endlich sein Versprechen einlöst und mit ihr in den Westen geht, wie so viele andere auch. Es hält sie schließlich kaum noch etwas. Er wird bei jeder Beförderung übergangen, weil er nicht in der Partei ist. Ihr Sohn Klaus entfremdet sich ihnen immer mehr, gehört zum MfS und sieht in seinem Vater einen Störenfried und Klassenfeind, für den er sich schämt. Eine weitere Belastung ist die alte Frau Marquardt, deren Demenz und damit verbundene Pflege sie alle an ihre Grenzen bringt. Aber sie bekommen keinen Heimplatz für sie und zudem hat Max Hemmungen, weil diese sie nach der Bombennacht aufgenommen hatte. Er meint, es ihr schuldig zu sein.

Es sind gerade die Informationen über Hellers Lebenssituation, die ihn so menschlich und nachvollziehbar macht. Häufig geht sein Beruf vor und das Privatleben muss warten. Er geht in seiner Arbeit auf, auch wenn Bech ihn oft behindert oder versucht kaltzustellen.
Die Ermittlungen in diesem vielschichtigen Fall gestalten sich extrem schwierig und verwirrend und münden in ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem MfS. Man muss beim Lesen dranbleiben, wenn man den Faden nicht verlieren will – ich habe Heller wieder einmal um seine Weitsicht und seine Kombinationsfähigkeit beneidet.
Auch die herrschende bedrückende Atmosphäre, die Angst der Bevölkerung („Alle werden jetzt verhaftet, einer nach dem anderen, bis keiner mehr da ist!“ (S. 96)) und die Selbstherrlichkeit und Selbstgerechtigkeit von Machtmenschen wie Bech wird sehr anschaulich beschrieben. Ich hatte beim Lesen mehrfach Gänsehaut und bin froh, dass ich diese Zeit nicht selbst erlebt habe.

5 Sterne und meine Leseempfehlung für Hellers neuesten, extrem fesselnden Fall mit Gänsehautgarantie.

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Veröffentlicht am 17.12.2019

Nur Erinnerungen sind Erinnerungen

Macht das glücklich, oder kann das weg?
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Man sammelt viel zu viel Zeug an. Schon vor dem Lesen des Buches ist mir das bei der Kramschublade in unserer Küche aufgefallen. Nachdem ich sie einmal komplett aus- und danach wieder eingeräumt hatte, ...

Man sammelt viel zu viel Zeug an. Schon vor dem Lesen des Buches ist mir das bei der Kramschublade in unserer Küche aufgefallen. Nachdem ich sie einmal komplett aus- und danach wieder eingeräumt hatte, war sie plötzlich nur noch halbvoll, der Rest ist im Müll gelandet. Ich bin der DDR aufgewachsen und gewohnt, so viel wie möglich aufzuheben um es bei Bedarf wiederverwenden zu können. Das vermeidet Müll und Neuanschaffungen. Aber wir besitzen heute durchschnittlich 10.000 Dinge! Ist das nicht erschreckend?!

Die Mitdreißigerin Merle ist diesbezüglich ein gebranntes Kind. Ihre Mutter war kaufsüchtig und hoch verschuldet. Merle will es besser machen und lebt in einer winzigen Wohnung mit so wenig Dingen und Kleidung wie möglich. Ihr Motto ist: „One in one out“ – für jedes neue Teil fliegt ein altes raus. Damit ist sie perfekt für ihren Job bei „Queen of Clean“ geeignet, einer professionellen Aufräumagentur. Ihr erster eigener Auftrag bringt sie allerdings schnell an ihre Grenzen. Sie soll der ehemaligen Designerin Ella Castello helfen, die zurück nach Rom ziehen will und nur wenige Dinge aus ihrer 300 m2 Villa mitnehmen kann. Es sind vor allem die Kleider, die Ella früher entworfen hat, von denen sie sich nicht trennen will, weil sie sich durch sie definiert: „Mit diesen Kleidern habe ich mich vor mehr als vierzig Jahren selbst erfunden. Durch sie bin ich ein anderer Mensch geworden. Wer bin ich denn noch ohne sie?“ (S. 160/161)

Mit Merle und Ella prallen zwei Welten aufeinander. Merle ist sehr introvertiert und möchte auf keinen Fall auffallen. Sie liebt es, aufzuräumen und Ordnung in das Leben anderer zu bringen. Seit Jahren ist sie mit Surfladenbesitzer Tom zusammen und hofft auf Ehe und Familie, aber Tom denkt nur an die nächste perfekte Welle. „Tom wirst du nicht heiraten, mein Kind. … Er sieht gut aus, …, aber er ist nicht der Mann fürs Leben.“ (S. 19)
Ella führte früher ein bewegtes Leben in der Öffentlichkeit, hatte sich dann aber auf einen Schlag komplett zurückgezogen. Sie glaubt an Astrologie und Horoskope und erschwert Merle die Arbeit dadurch zusätzlich. Ihr Haus spiegelt ihr Leben wider, ist voller Erinnerungen. Neben den Kleidern hat sie unzählige Bücher, Kunstschätze und Reiseandenken gesammelt. Aber es ist geschmackvoll eingerichtet und eigentlich perfekt – das sieht sogar Merle so. „Je mehr Zeit sie in Ellas Haus verbrachte, desto leerer kam ihr die eigene Wohnung vor – leer an Dingen und leer an … Leben.“ (S. 272)

Im Laufe der Zusammenarbeit öffnen sich die beiden Frauen. Sie erzählen sich von ihrer Vergangenheit und lüften einige Geheimnisse. Beide haben schwere Schicksalsschläge hinter sich und gehen verschieden damit um. Ella verdrängt lieber, Merle lenkt sich ab. Sie geben sich gegenseitig Ratschläge und werden Freundinnen – und auch die Liebe kommt nicht zu kurz. Am Ende ist nicht nur Ellas, sondern auch Merles Leben komplett umgekrempelt.

„Macht das glücklich, oder kann das weg?“ ist ein sehr unterhaltsamer, amüsanter und kurzweiliger Roman mit ernstem Hintergrund. Wunderschön zu lesen.

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