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Veröffentlicht am 08.04.2020

Jäger und Gejagte

Das wirkliche Leben
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Der abendliche Besuch des Eismanns mit seinem Wagen in der Siebzigerjahre-Fertighaussiedlung am Wald ist ein wiederkehrender Höhepunkt im ansonsten bedrückenden Alltag der namenlosen Ich-Erzählerin und ...

Der abendliche Besuch des Eismanns mit seinem Wagen in der Siebzigerjahre-Fertighaussiedlung am Wald ist ein wiederkehrender Höhepunkt im ansonsten bedrückenden Alltag der namenlosen Ich-Erzählerin und ihres jüngeren Bruders Gilles. Doch der Traum vom Eis mit Sahne wird zum Alptraum, als an einem Sommerabend die Sahnemaschine explodiert und das Gesicht des freundlichen Verkäufers zerfetzt. Ein Ereignis, das alles verändert, und nicht das letzte Gesicht, das in dieser Geschichte zerstört wird.

Ein Trauma und seine Folgen
Vielleicht hätte das traumatische Erlebnis in einer funktionierenden Familie aufgefangen werden können, der sechsjährige Gilles wäre nicht versteinert und hätte sein Milchzahnlächeln behalten. So aber fühlt sich die zehnjährige Schwester verpflichtet, den geliebten Bruder zu retten und ihm sein Lächeln zurückzugeben. Stattdessen nimmt die Leere in seinen Augen beständig zu:

"Da begriff ich, dass die Druckwelle der Explosion einen Zugang zu Gilles‘ Kopf freigelegt und das Monster, das unter unserm Dach hauste, diesen Zugang genutzt hatte, um sich in meinem kleinen Bruder einzunisten."

„Das Monster“ ist die ausgestopfte Hyäne im Trophäenzimmer des Vaters, eines passionierten Großwildjägers, der die ängstliche Mutter vor den Augen der Kinder brutal misshandelt. Ist er nicht auf Jagdreise, ist sie seine Beute.

Die Zeit zurückdrehen
In der Ich-Erzählerin reift ein fantasievoller Plan zu Gilles‘ Rettung vor seinen Dämonen. Eine Zeitmaschine könnte nicht nur den Tod des Eismanns, sondern auch die Gewaltexzesse des Vaters ungeschehen machen:

"Da rief ich mir ins Gedächtnis, dass das, was ich da sah, letztlich nicht von Bedeutung war – weil ich schon bald mit meiner Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen würde. In meiner neuen Zukunft, in meinem wirklichen Leben würde all das nicht geschehen."

Während der Bruder mit zunehmendem Alter seine Aggressionen an wehrlosen Tieren austobt und zusehens unter den Einfluss des Vaters gerät, muss die Ich-Erzählerin sich von der unmittelbaren Umsetzung ihres Planes verabschieden. Sie wendet sich stattdessen der Physik zu, die ihre große Leidenschaft wird. Aber auch hier lauert Gefahr:

"… denn allmählich begriff ich, dass das kleinste bisschen Ambition meinerseits ihn [den Vater] feindselig stimmte. Er erwartete von mir, dass ich wie meine Mutter wurde. Eine schlaffe, leere Hülle ohne eigene Ziele und Wünsche."

Zunehmend wird auch sie zur Beute des Vaters und zum Ziel seiner sadistischen Einfälle. Anders als die Mutter ist sie jedoch nicht bereit, die Opferrolle widerspruchslos anzunehmen:

"Tief in meinem Innern wuchs etwas heran, das größer, das gewaltiger war als ich. […] Dieses Tier wollte meinen Vater verschlingen. Und all die, die mir Böses tun wollten. Und es brüllte so laut, dass es die Finsternis zerriss. Ich war keine Beute mehr. Damit war Schluss. Und auch kein Raubtier. Ich war ich und dieses Ich war durch nichts totzukriegen."

Gewalt und innere Stärke
Das Romandebüt der 1982 geborenen belgischen Dramaturgin und Theaterschauspielerin Adeline Dieudonné, ein Verkaufserfolg in Frankreich, wartet mit schockierend brutalen, für mich teilweise kaum erträglichen Gewaltszenen auf. Andererseits haben mich die innere Stärke der Protagonistin, ihr unbändiges Streben nach einem besseren Leben und der ungeschminkt-sachlich wirkende Bericht über fünf Horrorjahre sehr beeindruckt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.02.2020

Eine Stimme gegen das Verdrängen und Vergessen

Rote Kreuze
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Wurden in Russland unter Jelzin viele Archive geöffnet, so liegen diese Dokumente über die Stalinzeit in der Putin-Ära erneut unter Verschluss und sind unzugänglich, soweit nicht in anderen Ländern Kopien ...

Wurden in Russland unter Jelzin viele Archive geöffnet, so liegen diese Dokumente über die Stalinzeit in der Putin-Ära erneut unter Verschluss und sind unzugänglich, soweit nicht in anderen Ländern Kopien vorliegen. Sasha Filipenko, 1984 in Minsk geborener, in St. Petersburg lebender Journalist, Drehbuchautor und Schriftsteller, hat für seinen Roman "Rote Kreuze" vor allem im Archiv des Roten Kreuzes in Genf recherchiert und macht die Korrespondenz zwischen dem Internationalen Roten Kreuz und der Sowjetregierung während des Zweiten Weltkriegs teils als Originaltexte, teils im Rahmen der Romanhandlung zugänglich. Nach Isabelle Autissiers "Klara vergessen" ist dieser Roman bereits der zweite über die Greuel der Stalinära im Literaturfrühling 2020 für mich.

Raffinert konstruiert
Die 91-jährige Tatjana Alexejewna lebt in Minsk. Ihre fortschreitende Alzheimererkrankung erklärt sie so:

"Aber jetzt, wo in meinem Leben alles vorbei ist… jetzt denkt sich Gott, dieser von mir erdachte Gott, für mich Alzheimer aus, weil er Angst hat! Er hat Angst, mir in die Augen zu schauen! Er will, dass ich alles vergesse. Alzheimer ist die Zerstörung des Weges zu ihm, und mein Alzheimer ist die stärkste Bestätigung, dass er mich fürchtet."

Bevor die Erkrankung ihr nicht nur das Kurzzeitgedächtnis, sondern auch die Erinnerung an ihre „Biographie der Angst“ raubt, möchte sie Bericht ablegen und wählt dafür den Ich-Erzähler des Romans, Alexander, der soeben mit seiner kleinen Tochter in die Nachbarwohnung einzieht. Er ist eigentlich mit seinen eigenen Dämonen beschäftigt, doch kann er sich bald dem Gehörten nicht mehr entziehen. So sehr fesselt ihn schließlich Tatjanas Schicksal, dass er sogar über ihren Tod hinaus den letzten Puzzlestein sucht.

Eine unglaubliche Lebensgeschichte
Tatjanas Bericht ist die unglaubliche Geschichte einer Frau, die, 1910 als Tochter russischer Eltern in London geboren, 1920 mit ihrem Vater nach Russland kam und ab 1930 als Fremdsprachensekretärin für das NKID, das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, in Moskau arbeitete. Dass ihr Mann während des Zweiten Weltkriegs in Gefangenschaft geriet, machte ihn und seine Familie gemäß Stalins Befehl Nr. 270 vom August 1941 zu Volksfeinden:

"Kommandeure und Politkader, die sich im Gefecht die Dienstabzeichen abreißen und ins Hinterland absetzen oder sich dem Feind als Kriegsgefangene ergeben, sind als verwerfliche Desserteure zu betrachten, und ihre Familien sind als Angehörige von eidbrüchigen und landesverräterischen Fahnenflüchtigen zu verhaften…"

Damit ist das Schicksal von Tatjana, ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter besiegelt.

Eine neue Stimme
Mit Alexander und Tatjana lässt Sasha Filipenko zwei völlig unterschiedliche literarische Figuren durch ihre Trauer und Einsamkeit zueinanderfinden. Während Tatjana stellvertretend für viele russische Opfer des 20. Jahrhunderts und dafür zurecht im Mittelpunkt steht, hätte mir für Alexander weniger Dramatik genügt. Auch hätte ich gerne noch mehr die literarische Stimme Filipenkos zulasten der journalistischen vernommen. Dass der Roman jedoch trotz aller bedrückenden Details aus der Zeit der Stalin-Diktatur und danach so gut lesbar ist, zeugt von seiner Qualität, genauso wie das in verschiedenem Zusammenhang wiederkehrende Motiv der titelgebenden roten Kreuze. Ich wünsche mir deshalb, dass bald auch die anderen drei Romane Filipenkos auf Deutsch erscheinen.

Veröffentlicht am 20.02.2020

Lebenskreise mit Schnittmengen

Echo des Schweigens
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Angelehnt an den Fall des 2005 in einer Gefängniszelle in Dessau verbrannten Sierra-Leoners Oury Jalloh ist der Roman "Echo des Schweigens" von Markus Thiele. Dass der Autor selbst Rechtsanwalt ist, macht ...

Angelehnt an den Fall des 2005 in einer Gefängniszelle in Dessau verbrannten Sierra-Leoners Oury Jalloh ist der Roman "Echo des Schweigens" von Markus Thiele. Dass der Autor selbst Rechtsanwalt ist, macht das Buch für mich besonders wertvoll, denn im Mittelpunkt steht der Interessenskonflikt des Anwalts Dr. Hannes Jansen, der sich zwischen Recht und Gewissen entscheiden muss. Das Dilemma tut sich bereits auf den ersten Seiten auf: Während seines Abschlussplädoyers im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Magdeburg erhält Jansen den Beweis für die Schuld seines Mandanten zugespielt, doch ist ihm als Strafverteidiger der „Parteiverrat“ gesetzlich untersagt.

Ein neues Gutachten sorgt für ein Wiederaufnahmeverfahren
Nur einer Ausnahmeregelung ist es zu verdanken, dass das Verfahren gegen den Vorzeigekommissar mit tadellosem Führungszeugnis und liebevollen Familienvater Maik Winkler nach dem ursprüngichen Freispruch überhaupt wiederaufgenommen werden kann, denn eigentlich gilt „Ne bis in idem“, der Grundsatz aus Artikel 103 des Grundgesetzes, nach dem dieselbe Tat nicht zweimal angeklagt werden darf. Ein neues Gutachten aus der Rechtsmedizin der Charité beweist jedoch zweifelsfrei, dass das Opfer, der in seiner Zelle verbrannte, offenbar zuvor misshandelte und an Armen und Beinen gefesselte Senegalese Abba Okeke, sich nicht wie zuvor angenommen selbst angezündet haben kann. Als einziger Tatverdächtiger gilt trotz des angeblichen Alibis Kriminaloberkommissar Winkler.

Für Hannes Jansen, den ehrgeizigen Anwalt mit Geldsorgen und Aufstiegsambitionen ist der Prozess die große Chance, auf die er lange gewartet hat. Bei einem Sieg in diesem von den Medien und der Politik gleichermaßen beachteten Verfahren winkt die lukrative und prestigeträchtige Teilhaberschaft in der Kanzlei. Erst spät erfährt er, dass die Gutachterin ausgerechnet Dr. Sophie Tauber ist, die Frau, in die er sich soeben erst verliebt hat. Sie wird nun zu seiner schäfsten Gegnerin im Prozess.

Mehrere Handlungsstränge
Nach einem kurzen Blick in den Gerichtssaal am letzten Prozesstag, der gerade so viel verrät, wie die Spannung erfordert, wird das Geschehen um das Verfahren, die Liebesgeschichte von Sophie und Hannes und Sophies Recherchen bezüglich ihrer eigenen Familiengeschichte, ausgelöst durch den Tod ihrer Mutter, vom September 2017 bis September 2018 chronologisch erzählt.

Unterbrochen wird die chronologische Abfolge der mit einer Zeitangabe überschriebenen Kapitel von Abschnitten aus den Jahren 1938 bis 1942 sowie 1948 und 1979. Eine jüdische Großmutter, die in Auschwitz ums Leben kam, ein Verrat unter Brüdern, der erzwungene „Parteiverrat“ eines Anwalts vor einem NS-Gericht und eine späte Rache haben mehr mit Sophie Tauber und Hannes Jansen zu tun, als die beiden sich in ihren kühnsten Träumen vorstellen konnten…

Ein Roman mit Thrillerqualitäten
Die Frage nach der Postition des Verteidigers im Strafprozess war für mich als juristischem Laien mit einer Vorliebe für Gerichtskrimis von besonderem Interesse, doch habe ich die Rückblicke in das Leben von Sophies Großmutter und Mutter fast genauso gerne gelesen. Einzig die allzu großen Zufälle haben mich an der ein oder anderen Stelle gestört. Davon abgesehen kann ich den flüssig geschriebenen Roman mit dem angenehm großzügigen Layout als ausgesprochen spannende und informative Lektüre empfehlen.

Veröffentlicht am 30.01.2020

Ein sonderbares Tier

Das Evangelium der Aale
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Bis zum Blick in die aktuelle Frühjahrsvorschau des Carl Hanser Verlags hatte ich mich nie für Aale interessiert. Weder bin ich Anglerin, noch habe ich jemals Aal gegessen, aber das auffallend schöne Cover ...

Bis zum Blick in die aktuelle Frühjahrsvorschau des Carl Hanser Verlags hatte ich mich nie für Aale interessiert. Weder bin ich Anglerin, noch habe ich jemals Aal gegessen, aber das auffallend schöne Cover und die originelle Idee, die Natur- und Kulturgeschichte dieses Fisches mit der eigenen Sohn-Vater-Geschichte zu verbinden, hat mich sofort fasziniert.

So viele „Aalfragen“...
Aale gibt es seit mindestens 40 Millionen Jahren und bis heute sind trotz hartnäckigster Bemühungen zahlloser Meeresforscher nicht alle seine Geheimnisse gelüftet. Drei Metamorphosen durchläuft der Aal, bevor aus dem kleinen, durchsichtigen Weidenblattlarven zunächst der durchsichtige kleine Glasaal, dann der braun-gelb-graue Gelbaal und zuletzt der Blankaal wird. Unterschiedlich lang können die einzelnen Stadien dauern und erst im letzten bilden sich Geschlechtsorgane aus, was Naturforscher wie Aristoteles oder den jungen Sigmund Freud zu Fehlannahmen bzw. zur Verzweiflung brachte. Erst im 19. Jahrhundert fand man weibliche und männliche Tiere und zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte der Däne Johannes Schmidt nach 20-jährigen Forschungsreisen die Sargassosee im nordwestlichen Teil des Atlantiks nahe den Bahamas als Geburtsstätte der europäischen Aale ausmachen, wobei bis heute weder ein lebender noch ein toter ausgewachsener Aal dort beobachtet wurde. Ungeklärt blieb bisher auch, was die Aale zu ihren langen Wanderungen bewegt und wie sie den Weg zurück zu ihrem eigenen Ursprung finden.

Das Ende der Aale?
War es jahrhundertelang nur die Neugier, die Forscher der „Aalfrage“ nachgehen ließ, so scheint es heute zur Überlebensfrage für diese durch Krankheiten, Umweltverschmutzung, Gewässerverbauung, Fischerei und die sich durch den Klimawandel verändernden großen Meeresströmungen bedrohte Gattung zu gehen:

"Alle seriösen Berechnungen sprechen dafür, dass die Anzahl neu ankommender Glasaale in Europa heute nur noch ein bis fünf Prozent dessen beträgt, was aus den 1970er-Jahren bekannt ist. Wo in meiner Kindheit jedes Jahr einhundert kleine, durchsichtige Glasrütchen den Fluss hinaufschwammen, tritt heute nur noch eine knappe Handvoll diese Reise an."

Wie lange werden also Väter mit ihren Söhnen noch an schwedischen Flüssen oder anderswo Aale angeln, wie es Patrik Svensson in seiner Kindheit erlebt hat, ein Erlebnis, ohne das er und sein Vater „zusammen nicht dieselben“ gewesen wären? Werden wie diese beiden mit Langleinen, mit der alten Fangtechnik des „Plödderns“ oder mit Reusen experimentieren und Aale fangen, die zuvor über Tausende von Kilometern gewandert sind?

Überall Aale
Biologie und Familiengeschichte, aber auch die Bedeutung des Fischens als Kulturerbe in verschiedenen Regionen Europas, die EU-Fischereipolitik oder die Auftritte des Aals in Günter Grass‘ „Die Blechtrommel“, Boris Vians „Die Gischt der Tage“ oder Graham Swifts „Wasserland“ sind längst nicht alle Themen in diesem außergewöhnlichen Sachbuch. Nur ab und zu schießt Svensson über das Ziel hinaus, wenn er dem Aal zu sehr vermenschlicht - und sich dann meist selbst bremst -, das Rätselhafte des Aals zum Echo der Fragen nach dem eigenen Sein erklärt oder wenn ihn, den Atheisten, ein fälschlich für tot gehaltener Aal an das Wunder der christlichen Auferstehung denken lässt.

Davon abgesehen ist dieses Buch aus dem Bereich Nature Writing rundum empfehlenswert, eine gleichermaßen informative wie unterhaltsame Lektüre, die mich mit der jahrtausendealten Neugier auf dieses geheimnisvolle Tier angesteckt hat.

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Veröffentlicht am 24.01.2020

Jeder ist seines Glückes Schmied

Eine fast perfekte Welt
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Aus drei Personenporträts setzt Milena Agus ihren Generationenroman "Eine fast perfekte Welt" zusammen. Die erste im Reigen ist Ester, eine Frau, die sich ihr Leben lang sehnt und nie den perfekten Ort ...

Aus drei Personenporträts setzt Milena Agus ihren Generationenroman "Eine fast perfekte Welt" zusammen. Die erste im Reigen ist Ester, eine Frau, die sich ihr Leben lang sehnt und nie den perfekten Ort findet, an dem sie leben und glücklich sein kann. Weder auf ihrer Heimatinsel Sardinien noch auf dem Festland findet sie ihr gelobtes Land.

Eine Lebenskünstlerin ist dagegen ihre gutmütige, aber keineswegs naive Tochter Felicita, die, obwohl vom Schicksal nicht verwöhnt, überall und in jeder Lebenslage das Positive erkennt. Viel mehr als Ester hätte sie Grund zur Klage, und doch ist sie als alleinerziehende Mutter ihres sonderlichen, verträumten Sohnes Gregorio in einer ärmlichen Wohnung im Hafenviertel von Cagliari so zufrieden, dass sie auch für die Menschen in ihrer Umgebung zur „Glücksbereiterin“ wird. Ihre Lebensphilosophie fasst sie in Sätzen über den italienischen Dichter und Philologen Giacomo Leopardi zusammen:

"Das ist auch mein Lieblingsdichter, ich mag ihn wirklich sehr, ich kenne viele seiner Gedichte auswendig, finde aber, dass er nicht immer recht hat. Zum Beispiel in seinem "Dialog zwischen der Natur und einem Isländer": Es gibt keinen Ort auf der Welt, wo sich dieser arme Isländer wohlfühlt. Er ist genau wie meine Mutter. Bei allem Respekt gegenüber Leopardi finde ich, dass genau das Gegenteil der Fall ist, nämlich dass es keinen Ort auf der Welt gibt, wo man sich nicht wohlfühlen kann."

Gregorio ist der erste in der Familie, der radikal seinen Träumen folgt. Weder sein Vater noch sein Großvater haben sich getraut, ihrer Liebe zur Musik nachzugeben, doch unterstützt von seiner Mutter macht Gregorio sich auf nach New York, um als Jazzpianist sein Glück zu finden.

Das gelobte Land
"Terre promesse" heißt der nur gut 200 Seiten umfassende Roman im italienischen Original und nach diesem versprochenen gelobten Land und dem Glück suchen alle Figuren der Geschichte mit unterschiedlichem Erfolg, nicht nur Ester, Felicita und Gregorio. Die drei Teile sind mit „Das Festland“, „Amerika“ und „Sardinien“ überschrieben, doch wie Felicita richtig erkannt hat, sind es nicht die Orte, die über Glück und Unglück entscheiden, es ist die Einstellung zum Leben, der Wille, Schicksalsschläge zu überwinden, und der Mut, den eigenen Weg zu gehen.

Starke Figuren
Obwohl die Grundstimmung des Buches so melancholisch ist wie die Frau auf dem Schwarz-Weiß-Cover, hat sich die Tristesse beim Lesen nicht auf mich übertragen, ein Umstand, den ich vor allem Felicitas feinem Humor und ihrem Pragmatismus verdanke. Bedauert habe ich, dass Milena Agus‘ Heimat Sardinien nicht eine größere Rolle spielt; gerne hätte ich mehr über die Landschaft, die Geschichte und die Menschen erfahren. Dafür werden mir die eigenwilligen Romanfiguren und ihre Sehnsucht nach Glück im Gedächtnis bleiben.

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