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Veröffentlicht am 18.04.2020

Welch eine aufregende Zeit!

Stern 111
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Eine spannende Geschichte ist dieser Gewinner des diesjährigen Leipziger Buchpreises sicherlich nicht, eher ein großes Panorama über das, was nach der Wende in einem kleinen Teil in Ostberlin geschah. ...

Eine spannende Geschichte ist dieser Gewinner des diesjährigen Leipziger Buchpreises sicherlich nicht, eher ein großes Panorama über das, was nach der Wende in einem kleinen Teil in Ostberlin geschah. Und ganz nebenbei geht es um die Erfüllung von fast schon aufgegebenen Träumen.
Carl, noch keine Dreißig, hat sein Studium abgebrochen, als die Wende über ihn hereinbricht. Als ihn ein Hilferuf seiner Eltern erreicht, fährt er sofort heim, irgendwo zwischen Thüringen und Sachsen. Voller Verblüffung muss er feststellen, dass seine Eltern dabei sind ihre Sachen zu packen, um sich in den Westen aufzumachen und er ihren ganzen Besitz überschrieben bekommt. Fünf Wochen harrt er als alleiniger Hausbesitzer aus, bis er mit seinem (Vaters) Shiguli aufs Geradewohl nach Ostberlin fährt, wo er an eine Gruppe junger Menschen gerät, die verlassene Häuser besetzen. Währenddessen suchen seine Eltern sich ihren Weg in Westdeutschland ...
Tja, und das ist es eigentlich schon fast, was sich auf diesen über 500 Seiten ereignet, nicht zu vergessen die große (Nicht-)Liebesgeschichte von Carl und Effi. Wer also eine packende Handlung mit Dramatik und eventuell Action braucht, sollte sich besser eine andere Lektüre suchen. Dafür jedoch bekommt man einen umfassenden Einblick in eine Welt, die Lutz Seiler so bilderreich und poetisch darstellt, dass ich es mehr als bedaure, sie nicht miterlebt zu haben.
Es muss eine unglaubliche Zeit gewesen sein: ein Abenteuer, ohne Zwänge und voller Möglichkeiten, man lebte ganz einfach. Völlig anders als das, was Carls Eltern erlebten, die sich in einer Gesellschaft zurechtfinden mussten, deren Erwartungen sie zu erfüllen hatten (ohne zu wissen, welche). Dagegen in Ostberlin: Es herrschten anarchische Zustände, Geld hatten die wenigsten, aber dafür Utopien vom gemeinsamen Zusammenleben, die in gewisser Weise tatsächlich gelebt wurden. Carl gehört zwar zu den Träumern, aber nicht zu jenen, die das große Wort führen. Doch er geht seinen Weg und wird dafür schlussendlich von allen geachtet und respektiert.
Lutz Seilers Sympathie für diese Zeit (in gewisser Weise ist Carl sein alter ego) ist deutlich zu spüren, auch wenn manche Szenen noch so absurd sind. Nie macht er sich über etwas oder jemanden lustig, stets ist er voller Zuneigung für seine Figuren und die Szenerie und auch wenn ich mich wiederhole: Wie gerne wäre ich dabei gewesen
Und weshalb dann nicht die volle Punktzahl? Weil dann einfach alles stimmen muss: Sprache, Stimmung, Handlung. Und an letzterem fehlt es ein bisschen. Aber trotzdem: Ich würde schon gerne wissen, wie es mit Carl weitergeht.

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Veröffentlicht am 18.03.2020

Was ist Wahrheit, was ist Lüge?

Die lachenden Ungeheuer
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Nair, ein Hauptmann im Nato-Geheimdienst, und Adriko, Ex-Kindersoldat unter Idi Amin und ein Mann für alle Fälle, haben sich viele Jahre nicht gesehen, doch noch immer immer bezeichnet jeder den andern ...

Nair, ein Hauptmann im Nato-Geheimdienst, und Adriko, Ex-Kindersoldat unter Idi Amin und ein Mann für alle Fälle, haben sich viele Jahre nicht gesehen, doch noch immer immer bezeichnet jeder den andern als Freund. Adriko hat einen Plan, den er jedoch seinem Freund nur bruchstückweise erzählt; und eine Verlobte, die er in seinem Heimatdorf in Uganda heiraten will - mit Nair an seiner Seite. Aber auch Nair spielt nicht mit offenen Karten: Er soll seinen Freund überwachen - er hat selbst keine Ahnung weshalb. Und nebenbei hat er noch ein kleines Geschäft laufen, von dem er Adriko nichts erzählt. Gemeinsam brechen sie in Freetown, Sierra Leone, auf. Auf nach Uganda, zum Fuß der Berge 'Die lachenden Ungeheuer'.
Es ist eine abenteuerliche Reise, die die Drei unternehmen. Derart abenteuerlich, dass sie sie fast das Leben kostet - und das nicht nur einmal. Es geht um geschmuggeltes Uran, geklaute Informationen, Spionage, Freundschaft, Liebe, Verrat - und Afrika. So unübersichtlich die Geschichte manchmal wirkt, man nicht weiß, wer gegen oder wer mit wem, so unübersichtlich ist dieses Afrika, das Denis Johnson in diesem Buch beschreibt, das zurecht nicht als Krimi oder Thriller bezeichnet wird. Denn es ist von allem ein bisschen.
Der Autor lässt seinen Ich-Erzähler Nair stellenweise ebenso verworren erzählen wie sich auch die Geschichte zeitweise darstellt. Doch mich hat es nicht gestört, denn es passt exakt zu den Geschehnissen in Sierra Leone und noch besser zu denen in Uganda, wo sie unter anderem von Rebellen gefangen gehalten werden oder anderswo eine Göttin im Baum sitzt.
Eine düstere, fesselnde Lektüre aus einem ebenso düsteren, faszinierenden Afrika.

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Veröffentlicht am 12.03.2020

Liebe das Leben. Und das Leben liebt dich!

Das kann uns keiner nehmen
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Hans möchte mit seiner Vergangenheit ins Reine kommen - mit einer Besteigung des Kilimandscharo und der Übernachtung im Gipfelkrater. Doch als er und seine Gruppe oben ankommen, muss Hans zu seinem Ärger ...

Hans möchte mit seiner Vergangenheit ins Reine kommen - mit einer Besteigung des Kilimandscharo und der Übernachtung im Gipfelkrater. Doch als er und seine Gruppe oben ankommen, muss Hans zu seinem Ärger feststellen, dass dort schon ein Anderer seine Zelte aufgeschlagen hat. Widerwillig nähert er sich dem Platz und es kommt noch schlimmer: Der ihnen Zuvorgekommene, Tscharli, ist ein ungehobelter, respektloser Urbayer mit fürchterlichen Ansichten. Auf dem am nächsten Morgen gezwungenermaßen gemeinsamen Rückweg wird deutlich, wie schlecht es um Tscharlis Gesundheit bestellt ist. Und eh Hans es sich versieht, befindet er sich plötzlich für eine Woche auf einer gemeinsamen Reise mit diesem Rüpel.
Hans berichtet diese Geschichte als Ich-Erzähler und, natürlich, ist er selbst der Maßstab, an dem er Tscharli misst. Immerhin ist er von Beginn an ehrlich genug um festzustellen, dass dieser unsägliche Bayer mit den Afrikanern wesentlich besser klar kommt als Hans, auch wenn er sie immer wieder 'Neger' nennt. Es ist durchaus belustigend zu lesen, wie der politisch korrekte Hanseat dem alten Zausel klar zu machen versucht, wie reaktionär dessen Ansichten und Verhalten sind. Tatsächlich ist es Hans jedoch, der den Einheimischen fremd bleibt bzw. sie auf Distanz hält. Ungewollte europäische Arroganz, Überheblichkeit oder schlicht Furcht? Die beiden so verschiedenen Männer freunden sich wider Erwarten an und nach und nach erzählen sie sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten; zumindest den Teil, der sie nach Afrika geführt hat.
Es ist nicht nur eine bzw. zwei Geschichten über die Liebe des Lebens, sondern auch die Liebe zum Leben, die Tscharli aller Widrigkeiten zum Trotz nicht verliert. Er, der zeitweise schmerzhaft geradeheraus ist und scheinbar zwanghaft fast immer gute Laune hat, zeigt seinem Begleiter, wie gut es sich leben lässt und Hans lernt von ihm. Er fühlt sich zum ersten Mal frei, ohne jede Zwänge, die ihm in Deutschland nicht mehr bewusst waren.
Matthias Politycki lässt seinen Protagonisten in einem Tonfall erzählen, als säße er einem gegenüber. Selbst Zögerlichkeiten beim Nachdenken, das Abwägen - alles wird festgehalten und wirkt damit wie ein persönliches Gespräch. Ein Gespräch mit Beschreibungen die so deutlich sind, dass man die Menschen wie auch die Szenerien unmittelbar vor Augen hat. Tscharli ist mir während des Lesens sehr ans Herz gewachsen und ich hoffe, dass es noch viel mehr Tscharlis auf dieser Welt gibt.

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Veröffentlicht am 05.02.2020

Ein Single-Leben

Nicht mein Ding
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Die fast 40jährige Andrea lebt als Single in New York und erlebt, wie um sie herum Familien gegründet und Kinder geboren werden – etwas, mit dem sie überhaupt nichts anfangen kann und will. Doch mit ihrem ...

Die fast 40jährige Andrea lebt als Single in New York und erlebt, wie um sie herum Familien gegründet und Kinder geboren werden – etwas, mit dem sie überhaupt nichts anfangen kann und will. Doch mit ihrem Singleleben ist sie ebenso wenig zufrieden wie mit ihrem Job, ohne jedoch konkret zu wissen, was sie tatsächlich möchte. Eine Entscheidung für oder gegen etwas zu treffen vermeidet sie und so vergehen die Tage ohne Sinn und Ziel und mit einem zunehmenden Gefühl der Verlassenheit.

Eigentlich ist es ein trostloses Buch, denn das Leben von Andrea zeigt tatsächlich wenig Erbauliches und sie selbst bietet zudem nur wenig Anreiz, sie sympathisch zu finden. Dennoch lohnt es sich zu lesen, denn die Art und Weise, wie die Autorin uns an Andreas Gedanken und ihrem Leben teilhaben lässt, wirkt derart authentisch und realitätsnah, dass zumindest ich Vieles mit ihr fühlen, wenn auch nicht wirklich Alles nachvollziehen konnte. Haben nicht viele Menschen Zeiten, in denen sie sich unfähig fühlen, Entscheidungen zu treffen und/oder Verantwortung zu übernehmen oder das Leid anderer zu ertragen? Doch darüber redet man nicht, denn es ist ein Zeichen von Schwäche und wer gibt die schon gern zu? Bei Andrea tauchen diese ‚Mängel‘ in geballter Form auf, aber was für sie spricht, dass sie sie klar benennt, zumindest sich selbst gegenüber. Somit mag Jede und Jeder sich in etwas wiederfinden, wenn auch vermutlich nicht in dieser Extremform wie bei Andrea.

Trotz des eher trostlosen Themas gibt es ein versöhnliches Ende, das jedoch sehr unterschiedliche Lesarten zulässt. Und so mag sich Jede und Jeder seine eigenen Gedanken dazu machen, wie es mit Andrea weitergeht.

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Veröffentlicht am 03.01.2020

Poetische gefühlvolle Geschichte in einer unwirtlichen Welt

Whiteout
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Hanna hat ihren Traum endlich wahr gemacht: Sie ist als Expeditionsleiterin in der Antarktis. Doch als sie von ihrem Bruder eine Mail erhält mit der Nachricht 'Scott ist tot.', bricht sie beinahe zusammen. ...

Hanna hat ihren Traum endlich wahr gemacht: Sie ist als Expeditionsleiterin in der Antarktis. Doch als sie von ihrem Bruder eine Mail erhält mit der Nachricht 'Scott ist tot.', bricht sie beinahe zusammen. Scott war ihre beste Jugendfreundin, die kurz vor ihrem gemeinsam geplanten Studium einfach verschwand und nie mehr auftauchte. Den Schmerz und die Enttäuschung darüber hat Hanna nie überwunden, nur tief in sich vergraben wie das Eis, nach dem sie und ihre KollegInnen suchen. Plötzlich stürzen all die Erinnerungen wieder über sie herein und Hanna ist kaum noch in der Lage, ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Doch die Antarktis verzeiht keine Fehler.
Es ist ein krasser Gegensatz zwischen der unwirtlichen und auch gefährlichen Umgebung, in der die Geschichte spielt und dem Stil, in dem Anne von Canal sie geschrieben hat. Voller Gefühl, Poesie und Sanftheit beschreibt sie das Vergangene, das so plötzlich Hannas Denken und Fühlen fast vollständig in Anspruch nimmt. Und das in einer Situation, in der sie sich als Expeditionsleiterin keine Fehler erlauben kann. Wunderschöne Sätze bringen einem die Lage, in der sich Hanna befindet, so nahe, dass man ihre Anspannung und Zerrissenheit förmlich mitfühlen kann. "Vielleicht findet der Schlaf mich vor den Gedanken, dann müssen sie sich ein anderes Opfer suchen." Oder "Am Morgen sitze ich in einem Haufen loser Knochen, die irgendjemand über mir ausgeschüttet hat. Die Arme und Beine, die ich finde, scheinen nicht zu mir zu passen, jedenfalls kann ich sie kaum bewegen. Das bin doch nicht ich."
Chronologisch erzählt wird lediglich die Expedition; die Erinnerungen an Scott sind hingegen zeitlich ungeordnet und springen stellenweise willkürlich auch innerhalb eines Rückblicks. Doch ich fand es weder störend noch verwirrend, sondern eher normal. Wer denkt schon an längst Vergangenes, das einem zudem wichtig war, in streng chronologischer Reihenfolge?
Es ist ein Buch, das viele Fragen offen lässt. Während der ersten 20 bis 40 Seiten wollte ich diese unbedingt gelöst wissen, doch Hannas Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit ist so eindringlich geschildert, dass all meine Fragen weitestgehend in den Hintergrund rückten - wo sie auch geblieben sind

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