Ein herausragender historischer Roman!
Judith und HamnetJedes Leben hat seinen Kern, seinen Dreh- und Angelpunkt, von dem alles ausgeht, zu dem alles zurückkehrt. Für die abwesende Mutter ist es dieser Moment: der Junge, das leere Haus, der verwaiste Hof, der ...
Jedes Leben hat seinen Kern, seinen Dreh- und Angelpunkt, von dem alles ausgeht, zu dem alles zurückkehrt. Für die abwesende Mutter ist es dieser Moment: der Junge, das leere Haus, der verwaiste Hof, der ungehörte Schrei. (2%)
Agnes ist eine eher wilde und ungezügelte junge Frau. Sie trägt ihr Haar offen und zieht mit ihrem Falken durch die Wälder. Sie ist naturverbunden, unabhängig und unberührt von der Meinung anderer und hat die Gabe Dinge zu sehen, die anderen verborgen bleiben. Sie nutzt diese Gabe und ihr Wissen über Heilkräuter, um den Menschen zu helfen.
Als ihr eines Tages der Lateinlehrer ihrer Brüder begegnet, wissen die beiden schnell, dass sie entgegen der Meinung ihrer Familien zusammenleben möchten. Sie heiraten, ziehen zu Agnes’ Schwiegereltern und bekommen drei Kinder.
Agnes steht absolut sicher in ihrem Leben. Sie sorgt dafür, dass ihr Mann nach London ziehen und dort arbeiten kann, weil sie spürt, dass ihn sein Elternhaus einengt und unglücklich macht. Selbst bleibt sie mit ihren drei Kindern aber bei ihren Schwiegereltern.
„Sie weiß noch, dass sie einmal eine Frau war, für die sich das Leben und alles, was es für sie bereithielt, wie eine Gewissheit anfühlte; sie hatte ihre Kinder, sie hatte ihren Mann, sie hatte ihr Zuhause.“ (81%)
Nur die Sorge um Judith, ihre jüngste Tochter und Zwillingsschwester von Hamnet, treibt sie seit deren Geburt um. Judith ist ein schwaches, kleines Kind und Agnes fürchtet immer wieder um Judiths Leben. Als ihre Tochter im Alter von elf Jahren die Beulenpest bekommt, setzt Agnes alles dran, sie zu heilen, den Tod irgendwie abzuwenden. Ihr entgeht dabei, dass auch Hamnet sich mit der schrecklichen Krankheit angesteckt hat…
Atemlos liest man diese spannende und etwas mystische Geschichte über Trauerbewältigung und eine eine ganz besondere Partnerschaft. Vor allem ist dieser Roman aber das beeindruckende Porträt einer eigenwilligen Frau, die im England des 16. Jahrhundert ihren Weg geht. Einer Mutter, die ihre Kinder liebevoll großzieht und die so einen schrecklichen Schicksalsschlag hinzunehmen hat. Sie, die immer glaubte, die Zügel selbst in der Hand zu haben.
O’Farrell erzählt nebenbei eine unkitschige, wunderschöne Liebesgeschichte. Und, ach ja, der namenlose Ehemann ist übrigens kein Geringerer als William Shakespeare.
Doch hier wird Agnes’ Geschichte erzählt, ihr berühmter Mann ist ein Teil ihrer Geschichte. Und das ist irgendwie eine ganz bezaubernde, starke Perspektive! Der Name Shakespeares glitzert im Hintergrund, aber O’Farrell hat es nicht nötig, ihn auch nur ansatzweise aus seiner Nebenrolle herauszuholen oder gar zu benennen, denn ihre Protagonistin ist groß und wichtig genug, um ihre Geschichte selbst zu tragen.
Manchmal „zoomt“ die Erzählperspektive den Leser sogar in eine Außenansicht und wir erfahren zum Beispiel, wie sich die Pest ihren Weg bin hin zu Judith und Hamnet gebannt hat. Oder aber, wie Hamnet den Weg in die Theaterwelt Londons gefunden hat und zu einem Stück Weltliteratur wurde.
„Judith und Hamnet“ ist mein literarisches Highlight für dieses Jahr und von Maggie O’Farrell muss ich unbedingt mehr lesen. Ein herausragender historischer Roman!