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Veröffentlicht am 06.04.2022

Fehlende Puzzleteile einer Familie

Die Wahrheit und andere Erinnerungen
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Ausgezeichnet mit dem Penguin Literary Prize 2019 erscheint das bewegende Debüt der australischen Autorin Imbi Neeme nun auf Deutsch – dabei erkunden zwei ungleiche Schwestern die eigenen Traumata der ...

Ausgezeichnet mit dem Penguin Literary Prize 2019 erscheint das bewegende Debüt der australischen Autorin Imbi Neeme nun auf Deutsch – dabei erkunden zwei ungleiche Schwestern die eigenen Traumata der Familie, verwebt in unterschiedliche Erinnerungen und Wahrheiten der Vergangenheit, die jahrzehntelang bis in die Gegenwart wirken.

Vor mehr als dreißig Jahren hat sich der Wagen der Schwestern Nicole und Samantha auf einer Straße in Westaustralien überschlagen – am Steuer saß ihre alkoholkranke Mutter Tina. Zwar wurden die jungen Mädchen nicht schwerwiegend verletzt, aber der seelische Schmerz über die Unsicherheiten mit dem Leben einer suchtkranken Mutter sowie viele unausgesprochene Verletzungen quälen die Schwestern noch Jahre später in ihrem Erwachsenenleben. Während Samantha die Kontrollierte spielt und ihr Leben mit Ehemann und Tochter scheinbar im Griff hat, kämpft sie unterbewusst mit einer anderen Samantha, die wie ihre Mutter zur Alkoholsucht neigt. Überfordert mit den Anforderungen an eine junge Mutter und mit den Dämonen aus der Vergangenheit, scheint sie zu den gleichen Fehlern wie Mutter Tina zuzusteuern. Nicole hatte kein glückliches Händchen mit Beziehungen und leidet an wenig Selbstbewusstsein – mit ihrem jetzigen Freund samt Reichtum scheinen sich die Dinge für sie in eine bessere Richtung zu entwickeln, doch sie leidet sehr an einer vergangenen Fehlgeburt und an ihrer Kinderlosigkeit.

Ständige Reibereien und Missverständnisse, konträre Ansichten und verschüttete Konflikte innerhalb der Familie haben die Schwestern auseinanderdriften lassen und zu einer verbitterten, spärlichen Kommunikation geführt. Dann stirbt Mutter Tina quälend an ihrer Alkoholsucht und Leberversagen im Krankenhaus – kann dieses einschneidende Ereignis die Schwestern wieder zusammenbringen und ihre unterschiedlichen Sichtweisen auf die schmerzvolle Vergangenheit zusammenfügen?

Imbi Neeme hat ihre berührende und empathische Familiengeschichte klug konstruiert – mit vielen auktorial erzählten und zeitlich bunt gewürfelten Sequenzen aus der Vergangenheit, die wichtige Ereignisse der zerrütteten Familie in Kindheit und Jugend schildern, verzweigt mit der persönlichen Sichtweise von Nicole und Samantha nach dem Tod ihrer Mutter aus der Ich-Perspektive. Dabei zoomt die Autorin multiperspektivisch sehr nah heran an ihre dicht gezeichneten Protagonistinnen sowie ihre persönlichen Probleme und schafft mit vielen frech-zornigen Dialogen eine fast filmreife Atmosphäre, die aber das Setting in Australien fast unberücksichtigt lässt. Feinfühlig und detailliert greift sie die unterschiedlichen, nicht verlässlichen Erinnerungen sowie Schuldgefühle der Schwestern auf und lässt Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven zart zusammenlaufen, bis eine ausschlaggebende Wahrheit aufbricht, die sich auf den Unfall im Jahre 1982 bezieht.

Der Originaltitel „Die Verschüttung“ passt dabei präzise, da die Familie durch verschüttete und transgenerationale weitergegebene Konflikte und Traumata im Wirrwarr gefangen ist. Eindringlich und mitfühlend zeigt Neeme dabei auch das tiefe Leid auf, das ein alkoholkrankes Elternteil samt Weitergabe der Sucht verursacht. Insgesamt ein gutes, warmherziges und unterhaltsames Debüt zwischen Jugendbuch und Erwachsenenroman, das subtil die fehlenden Erinnerungs-Puzzlestücke einer Familie zusammensetzt und Verluste, Ungesagtes sowie das Tragische aufspürt, um dabei auch das Humorvolle, Tragende und die Hoffnung zu finden. Stellenweise hätte eine Straffung der manchmal redundanten Ereignisse sowie eine Präzisierung und mehr Tiefgang der vielen, teils derben Dialoge gut getan – und doch entlässt Neeme den Leser nach ihrem intimen Porträt einer komplizierten Schwesternschaft mit einem warmen Gefühl im Bauch und dem erwartungsvollen Ausblick, was noch von ihr veröffentlicht wird.

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Veröffentlicht am 08.02.2022

Am Fleischerhaken alter Träume

Damenbart
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Dort hängen fast alle vereinsamten Protagonist*innen der intensiven Erzählungen aus „Damenbart“ von Sarah Pines – die etwas sperrigen Charaktere der in den USA lebenden Journalistin und Autorin blicken ...

Dort hängen fast alle vereinsamten Protagonist*innen der intensiven Erzählungen aus „Damenbart“ von Sarah Pines – die etwas sperrigen Charaktere der in den USA lebenden Journalistin und Autorin blicken mit Wehmut, Traurigkeit und Groll auf vergangene Zeiten. Wie die in die Jahre gekommenen Schauspielerinnen Blanca und Peg, die ihre Glanzzeiten im alten Hollywood hinter sich haben – während Blanca trotz Netflix und Alter noch Rollen erkämpft, stürzt sich Peg wie ihr reales Vorbild Entwistle tragisch und theatralisch im schönsten Kleid vom berühmten weißen Schriftzugs Hollywoods in den Tod. Meist haben die Frauen Liebhaber, denen sie abfällige Spitznamen geben und sie betrügen ihre Ehemänner. Es gibt auch die unerreichte Liebe, verzweifelte Sexgeschichten und mythologische Figuren, an denen sich die Charaktere an geografisch facettenreichen Orten erfolglos klammern. Fast alle stecken hinter unerreichbaren Masken, Selbstzweifeln am eigenen Körper und Rollen, die sie im Leben einnehmen, ohne ausbrechen zu können.

Pines entwirft in ihren eindringlichen 17 Geschichten, die von kleinen assoziativen Miniaturen bis zu längeren Erzählungen reichen, stets einen eigenen Kosmos von Einsamkeit, Verfall und Unzulänglichkeiten – die Schauspielerei, aber auch eine Bandbreite an sinnlichen Farben und dem eher unangenehmen Schweiß wiederholen sich im Erzählten. Pines ist eine versierte Meisterin der szenischen Details, was die Atmosphäre der Geschichten anbelangt wie in dem tristen amerikanischen Ort Buffalo, wo Shaina während der Trump-Wahl vergeblich auf ein besseres Leben hofft. Oder in „Krabbencocktail", in dem ein Junge sein stummes Elternhaus inmitten der Louisiana-Vegetation samt aufkommenden Weg in den Alkoholismus aufzeigt. Sowie das morbid-verfallene französische Schloss in „Schweiß“, in dem eine Herrin im von Schwammpilzen übersäten Stuhl auf den Mord zweier Kinder blickt. Und in „Wintersonne“ bringen Orangen einen betagten Mann zurück ins sehnsuchtsvolle Afrika vergangener Jugendtage.

Mit wenigen pointierten und sinnlichen Sätzen skizziert Pines außergewöhnliche Leben voller Enttäuschungen, Unschönem und „am Fleischerhaken alter Träume“, die gerade in den längeren Geschichten präzise und sehr atmosphärisch zur Geltung kommen. Die Short-Storys ermöglichen nur ein kleines Schlaglicht auf Charaktere und Umgebungen, die keinen näheren Blick zulassen und sich teilweise in zu vielen lakonisch-obszönen Aussprüchen, Selbsthass und offenen Enden verlieren. Trotzdem ein lesenswertes und vielschichtiges Debüt, das mit seinen melancholisch-poetischen Erzählungen zwar die Seele nicht aufheitert, aber auf weitere Veröffentlichungen der talentierten Autorin hoffen lässt.

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Veröffentlicht am 26.08.2021

Mit der Kraft von Legenden

Jeder Tag ist eine Schlacht, mein Herz
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Es sind einige Schlachten, die von der 21jährigen Zelda bestritten werden müssen. Sie leidet an der Fetalen Alkoholspektrumsstörung (FASD) und benötigt im Alltag Hilfe von
Ihrem Bruder Gert. Trotzdem kämpft ...

Es sind einige Schlachten, die von der 21jährigen Zelda bestritten werden müssen. Sie leidet an der Fetalen Alkoholspektrumsstörung (FASD) und benötigt im Alltag Hilfe von
Ihrem Bruder Gert. Trotzdem kämpft sie für Autonomie, Glück, erste Liebe und als sich Gert in kriminelle Machenschaften verstrickt, auch um ihn. Zelda hat ihre eigene Perspektive, ihre eigene Wahrnehmung ihrer Umwelt – mit Hilfe von Legenden, Wikingersagen und –übertragungen gibt sie sich Kraft, Struktur und Anhaltspunkte, was in schwierigen Situationen zu tun ist. Sei es, ihre geliebte „Sippe“ ist in Gefahr, der erste Sex oder wie man Unholde und zwielichtige Gestalten das Fürchten lernt. Doch nicht immer kann sie sich vor gewaltvollen Übergriffen schützen, was schmerzlich beim Lesen ist und doch der Realität entspricht. In der Bibliothek liest sie jedes Wikingerbuch, was sie in die Hände bekommt, schreibt sich Denkzettel, Handlungshilfen und altnordische Begriffe auf.

Andrew MacDonald erweckt in seinem unkonventionellen und tief menschlichen Debütroman eine kraftvolle Protagonistin zum Leben – mit einem taffen Sound, einem schier unendlichen Mut, für seine Bedürfnisse trotz kognitiver Einschränkung zu kämpfen und in dem es viel um Zusammenhalt geht. Zeldas naiv-kindliche und doch starke Perspektive hinterlässt Eindruck und einen bleibenden, berührenden Einblick in ihre Welt. Zahlreiche schlagfertige Dialoge und Gedanken wechseln mit keckem Humor, spannenden Einlagen und bewegenden Erlebnissen ab – insgesamt ist die Romanvorlage flüssig, filmreif und szenisch komponiert. Das Ende von Zeldas Coming-of-Age gleicht einem Nervenkitzel und verliert sich nicht in Rührseligkeit. Ein mitreißende Geschichte mit einer außergewöhnlichen Heldin und die das wichtige Thema Inklusion aufgreift.

„In den Wikingerlegenden ist der Held immer kleiner als der Unhold. Deswegen wird er zur Legende.“ S. 324

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Veröffentlicht am 23.06.2020

Dunkle Schatten & Geheimnisse

Im grausamen Licht der Sonne
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Die Pianistin Anahera kommt nach dem Tod ihres Ehemanns zurück in ihr neuseländisches Heimat-Küstenstädtchen Golden Clove. Doch so sonnig und golden wie es der Anschein erweckt, sieht es in den Seelen ...

Die Pianistin Anahera kommt nach dem Tod ihres Ehemanns zurück in ihr neuseländisches Heimat-Küstenstädtchen Golden Clove. Doch so sonnig und golden wie es der Anschein erweckt, sieht es in den Seelen der Bewohner nicht aus - viele bergen dunkle Geheimnisse und Schattenseiten in sich. Auch Anahera kommt hierher in ihr Elternhaus zurück, um den Dämonen und Verletzungen aus ihrer Vergangenheit zu entkommen und Frieden zu schließen. Doch so einfach wird es nicht werden: die junge, wunderschöne und lebenshungrige Miriama verschwindet spurlos beim Joggen - schnell werden schlimme Erinnerungen aus der Vegangenheit wach - es sind schon drei Wanderinnen in der wunderschönen, aber auch gefährlichen Gegend verschwunden. Hatten sie einen Unfall - oder gibt es einen Mörder in Golden Clove?

Zusammen mit dem einzigen und neu hierher versetzten Polizisten Will macht sich Anahera auf die Suche nach Miriama und wird duch die Anziehung zu Will mit ihrem Schmerz konfrontiert. Und auch Will hat einige Traumata aus der Vergangenheit, die er ihr anvertraut. So entsteht in dem spannenden Thrillergewebe noch eine kleine, zurückhaltende Romanze.

Leider kenne ich noch kein Buch der Bestsellerautorin Nalini Singh und ihr Schreibstil hat mir sehr gut gefallen - flüssig, szenisch, schöne Sprachbilder (die sich leider manchmal wiederholen), ein gutes Gefühl für subtile Wellen im Zwischenmenschlichen und die Gabe, dass man einfach weiterlesen möchte. Sie zeigt die Schönheit von Natur und Menschen, aber auch, wie rauh und gewalttätig beides sein kann. Obwohl die zwei Protagonisten Will und Ana eher Einzelgänger sind und etwas schroff, waren sie mir sympathisch.

Als einzigen Minuspunkt ziehe ich das Ende und die Auflösung des Falles ab - da ging es mir persönlich etwas zu schnell und die Mordsabsichten waren mir nicht ganz zu erschließen. Aber Singh macht auch hier deutlich, was hinter den schönen Fassaden lauern kann - und das in einem tollen, neuseeländischen Setting mit der Māori-Kultur.

Fazit: Ein unterhaltsamer Thriller in sehr schöner Sprache - leider für mich etwas mit Schwächen im Plot.

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Veröffentlicht am 04.06.2020

Tragikomischer Tanz des Pandas

Pandatage
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Danny ist das, was man heute leider als Loser bezeichnet: chronisch pleite, perspektivlos, ohne richtige Ausbildung und als ihm nach dem Jobverlust der Vermieter mit einem Hammer nach Geld droht, vor dem ...

Danny ist das, was man heute leider als Loser bezeichnet: chronisch pleite, perspektivlos, ohne richtige Ausbildung und als ihm nach dem Jobverlust der Vermieter mit einem Hammer nach Geld droht, vor dem Existenzverlust. Doch noch schlimmer knabbert an ihm das Verhältnis zu seinem elfjährigen Sohn Will - dieser ist nach dem Unfalltod seiner Mutter Liz traumatisiert und spricht kein einziges Wort mehr. Auch Ärzte können nicht weiterhelfen. Als Danny Straßenkünstler im Londoner Hyde Park sieht, kommt ihm eine Idee - er kauft sich ein ausrangiertes Pandakostüm und probiert als Tanzbär im Park Geld zu sammeln. Doch seine Tanzkünste sind miserabel - da trifft er die resolute und sehr freche Bartänzerin Krystal, die ihm Tanzunterricht gibt. Das zeigt Früchte, aber noch besser ist, dass Will anfängt, mit dem Panda zu reden - nichts ahnend, dass sein Vater unter dem Tierkostüm steckt. Schritt für Schritt nähern sich die beiden wieder an, bauen Brücken über Verletzungen und beide finden einigermaßen zurück ins Leben.

James Gould-Bourn lässt in seinem filmreifen Debüt "Pandatage" Tragik mit Komik, Trauer mit Humor tanzen und oftmals ist dies auch zu lachen und besonders die Vater-Sohn-Annäherung sind die emotional stärksten Stellen im Buch. Auch werden Werte wie Mut und vor allem Freundschaft groß geschrieben - Danny hat seinen ukrainischen Hünen Ivan mit großem Herz zur Seite und Will seinen Mo, der selbst eine Behinderung hat. Doch der Wert eines freundlichen Miteinanders fehlt an vielen Stellen - so gingen mir Krystals Sprüche oftmals zu weit und der schwarze britische Humor konnte mich nicht erreichen. Manche Figuren sind so plakativ geraten, dass sie für mich die Situationskomik nicht mehr ganz rund gemacht haben.

Das Hörbuch wird präzise, professionell und mit stimmlicher Variation sehr unterhaltsam von Hendrik Duryn gesprochen, was der Geschichte nochmal mehr Farbe und Unterhaltungswert verleiht. Fazit: Eine emotional mitreißende Geschichte, für mich leider mit kleinen Schwächen in Logik und Figurenzeichnung. Weniger Paukenschläge hätten an der einen oder anderen Stelle vielleicht noch mehr Wirkung und Nähe erzeugt.

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