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Veröffentlicht am 11.12.2021

Rasante, atemlose Jagd mit vielen Finten

606
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John Kradle sitzt im Todestrakt von Pringshorn, Nevada, verurteilt wegen Mordes an seiner Frau und seinem Sohn. Nichts auf der Welt ist ihm wichtiger, als seine Unschuld zu beweisen und den wahren Täter ...

John Kradle sitzt im Todestrakt von Pringshorn, Nevada, verurteilt wegen Mordes an seiner Frau und seinem Sohn. Nichts auf der Welt ist ihm wichtiger, als seine Unschuld zu beweisen und den wahren Täter zu finden. Ganz unerwartet bekommt er eine Chance, als ein Erpresser die Freilassung aller 606 Gefangenen erzwingt.

Sicherlich ist der Titel nicht ganz zufällig, gehört doch 606 zu den Engelszahlen und steht eben für den Engel, der Unterstützung bietet bei der Realisierung eines Wunsches.

Autorin Candice Fox verliert keine Zeit. Der Einstieg ist großartig inszeniert und gnadenlos spannend. Ganz kurz gibt sie Gelegenheit, sich in die Ausgangssituation hinein zu begeben und einigen Charakteren zu begegnen, ehe sie ihre Leserschaft in die Eskalation katapultiert. Eine knallharte Konfrontation, Erpressung, Hilflosigkeit. Die Panik ist absolut nachvollziehbar, die Verzweiflung der Betroffenen direkt zu spüren.
Die Anzahl der Personen ist herausfordernd. Zum Glück sind die Charaktere scharf gezeichnet, mit Ecken und Kanten und vielerlei Kennzeichen. Wirklich sympathisch gerät niemand, im Laufe des Geschehens, unter extremen Bedingungen, erweist sich manche Einschätzung als Trug. Doch das stört nicht, im Gegenteil. Man fährt sich emotional beim Lesen nicht fest, bleibt in alle Richtungen offen, so wie auch die rasante Handlung. Die ist voller Haken und überraschender Wendungen. Manche dieser Wendungen sind allerdings so überraschend, dass es einige Unglaubwürdigkeit zu verzeihen gilt.
Erzählt wird weitgehend chronologisch, eine ganze Reihe paralleler Ereignisse überfluten die Bühne, spielen ineinander, beeinflussen sich gegenseitig. Durchbrochen wird das Ganze von Rückblenden in die Vergangenheit der Hauptpersonen. Damit werden nachträglich Erklärungen aufgebaut, Tiefen geschaffen.
Im Gegensatz zu etlichen anderen fesselt dieser Thriller nicht durch Grausamkeiten, auch wenn es durchaus blutige Szenen gibt. Vielmehr sind es die Besessenheit, die Dringlichkeit, die Atemlosigkeit, mit der John Kradle sein Ziel verfolgt, und die Umstände, die ihn davon abzubringen versuchen, die dafür sorgen, dass man das Buch nicht aus der Hand legen kann.

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Veröffentlicht am 19.09.2021

Tragik und Komik eng verwoben

Der Mauersegler
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Ein Arzt namens Prometheus ist in seinem Auto in ohne konkretes Ziel Richtung Norden unterwegs. Offenbar befindet er sich im totalen emotionalen Ausnahmezustand und scheint auch körperlich am Ende. Zu ...

Ein Arzt namens Prometheus ist in seinem Auto in ohne konkretes Ziel Richtung Norden unterwegs. Offenbar befindet er sich im totalen emotionalen Ausnahmezustand und scheint auch körperlich am Ende. Zu ahnen ist, dass er den Freitod als Lösung erkennt, und tatsächlich versucht er es. Doch dann kommt alles anders.
Jasmin Schreibers Talent ist neben ihrer originellen, frischen Sprache und den sprudelnden Ideen die Fähigkeit, Tragik und Komik so zu verknüpfen, dass ihre Bücher Gefühle einer umfassenden Spannbreite transportieren. Das konnte sie bereits bei „Marianengraben“ unter Beweis stellen.
Wie in ihrem ersten Buch geht es auch hier um die Verarbeitung eines Todes, um tiefe Verbundenheit, um Schuldgefühle.
Stück für Stück erfahren wir die Gründe für Prometheus´ Verzweiflung. Seine Erinnerungen sind überwältigend, beinahe präsenter als die tatsächliche Gegenwart. Mal nehmen sie ganze Kapitel ein, dann wieder sind sie wie beiläufig als Assoziationen in Klammern an andere Sätze angehängt. Die Zeitebenen sind eng verwoben, die Emotionen kreisen ausschließlich um den erlittenen Verlust seines Freundes Jakob und den eigenen Anteil an dessen Tod, den er sich zuschreibt.
Man merkt der Autorin die Biologin an. Vielfach werden Fauna und Flora in die Erzählung integriert. Als Zuschauer, als Metapher. So auch der Mauersegler, dem der Himmel näher ist als die Erde, und der sein Leben im Flug verbringt.
Die Einbeziehung der Tiere wird allerdings etwas überstrapaziert. Inwieweit die häufigen und wiederholten Erwähnungen mancher Tierarten sowie Ansätze zur Vermenschlichung der Geschichte förderlich sind, mag subjektiv unterschiedlich bewertet werden. Dasselbe ist über den Humor zu sagen, der hier mitunter slapstickartig den Ernst des Problems unterwandert, sowie über über die Sentimentalität, die in manchen Situationen übermächtig wird.
Dennoch werden Prometheus´ Schmerz, seine Zerrissenheit und sein Gefühl der Ausweglosigkeit facettenreich und glaubhaft dargestellt und machen den Roman lesenswert.

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Veröffentlicht am 28.05.2021

Provenzalische Beschaulichkeit, gepaart mit grausamen Verbrechen

Verhängnisvolles Lavandou (Ein-Leon-Ritter-Krimi 7)
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Der Friede in dem malerischen Ort La Lavandou an der Côte D´azur wird jäh unterbrochen, als am Strand die in Plastik verpackte Leiche eines Jungen aufgefunden wird. Der Leichnam ist in ein Mädchenkleid ...

Der Friede in dem malerischen Ort La Lavandou an der Côte D´azur wird jäh unterbrochen, als am Strand die in Plastik verpackte Leiche eines Jungen aufgefunden wird. Der Leichnam ist in ein Mädchenkleid gehüllt, das Gesicht geschminkt. Der Körper weist Spuren starker Misshandlungen auf.
Auch in diesem siebten Band der Reihe um den deutschen Gerichtsmediziner Leon Ritter schafft Autor Remy Eyssen diesen besonderen Spagat: Er vereint Schilderungen brutalster Kriminalfälle mit dem beschaulichen Zauber eines typisch provenzalischen Ortes. Mühelos bildet er das Dorfleben ab, lässt die mittlerweile altbekannten Bewohner wieder auferstehen, die allesamt ihren Rollen erneut gerecht werden. Ein spezielles Highlight für Boulebegeisterte ist natürlich der obligatorische Wettkampf, der auf dem Platz vor dem Bistro Chez Miou ausgetragen wird und einmal mehr die Atmosphäre des Ganzen unterstreicht.
Leon Ritter ist ein absolut integrer Mensch, penibel und geistreich in seiner Arbeit, mit dem Anspruch, den Toten, die er untersucht, ebenso respektvoll entgegenzutreten wie er es bei lebenden Patienten täte. Er konzentriert sich derart auf das, was sie ihm mitzuteilen haben, dass es sogar zu übernatürlichen Erscheinungen kommen kann. Er liebt Isabelle, die stellvertretende Leiterin der Ermittlungsstelle, deren siebzehnjährige Tochter Loulu für Turbulenzen neben dem Hauptschauplatz sorgt.
Der Kriminalfall ist nicht besonders ausgeklügelt konstruiert, die Lösung ist bei aufmerksamem Lesen durchaus zu erraten. Doch viel mehr Gewicht liegt auf der Entwicklung der Ermittlungen und den parallel stattfindenden Verbrechen. Während auf der einen Seite mühsam und unter großem Druck Spuren verfolgt und ausgewertet werden, arbeitet ein erfindungsreicher Täter an der Vollendung seines zerstörerischen Werks.
Das ist durchaus spannend zu lesen. Und da die Rahmenbedingungen so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich vorgestellt werden, darf der Band auch Neueinsteigern empfohlen werden. Diejenigen, die Leon Ritter bereits kennen, haben sicher ohnehin schon zugegriffen.

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Veröffentlicht am 01.05.2021

Fesselnd, verstörend, großartig

Girl A
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Alexa Gracie ist das Mädchen, dem die Flucht gelingt: Mit fünfzehn Jahren bricht sie aus dem Elternhaus aus, in dem sie und ihre sechs Geschwister jahrelang unter abscheulichsten Bedingungen von ihren ...

Alexa Gracie ist das Mädchen, dem die Flucht gelingt: Mit fünfzehn Jahren bricht sie aus dem Elternhaus aus, in dem sie und ihre sechs Geschwister jahrelang unter abscheulichsten Bedingungen von ihren Eltern gefangen gehalten und misshandelt worden sind. Jetzt, nach beinahe zwei Jahrzehnten, kommt sie zurück nach London, weil ihre Mutter gestorben ist und sie sich um das Erbe kümmern soll.
Der Autorin schafft es, unglaublich realistisch aus der Perspektive des ehemaligen Opfers auf dieses Verbrechen zu schauen. Es geht nicht darum, zu analysieren, wie und warum sich etwas so Unbegreifliches, Entsetzliches entwickeln kann, auch wenn immer wieder scheinbare Erklärungen wie z.B. religiöser Fanatismus durchscheinen. Vielmehr liegt das Gewicht auf dem, was geschah und was es mit den Überlebenden gemacht hat.
Alexas Leben wirkt auf den ersten Blick beinahe beneidenswert. Dank ihrer Intelligenz und Zielstrebigkeit, mit Unterstützung einer engagierten Psychologin und verständnisvoller Adoptiveltern gelingen ihr ein guter Schulabschluss und das anschließende Jurastudium. Als Anwältin arbeitet sie in einer Kanzlei in New York und ist dabei recht erfolgreich.
Wie sehr sie ihr Schicksal jedoch noch immer unter der Haut trägt, wird in jedem Gedanken, in jedem Satz, in jeder Handlung deutlich.
Diesen permanenten Ausnahmezustand zu vermitteln, ist großartig gelungen. Ganz dicht sind wir an der Protagonistin, die das aktuelle Geschehen ständig mit ihren Erinnerungen verwebt. Sie hangelt sich assoziativ und sprunghaft an einem lockeren chronologischen Faden entlang. Das ist äußerst spannend zu lesen, insbesondere auch wegen des hervorragenden Schreibstils mit vielen treffenden und aussagestarken Metaphern (Andere (Fälle) sind offen wie eine Tür im Winter und er kann ihre Zugluft spüren. S. 100).
Das ganze Ausmaß der Verstörung wird erst gegen Ende fassbar und hinterlässt Emotionen wieTrauer, Wut und grenzenloses Mitleid.
Ein Buch, das an der Substanz nagt und doch gelesen gehört.

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Veröffentlicht am 14.03.2021

Eine berührende Geschichte von Liebe und Unrecht

Stay away from Gretchen
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Greta, die Mutter des bekannten Kölner Fernsehmoderators Tom Monderath kann ihre fortschreitende Demenz nicht länger verbergen. Ihr Sohn ist nun gefordert, sich zu kümmern, und gerät dabei auf eine aufwühlende ...

Greta, die Mutter des bekannten Kölner Fernsehmoderators Tom Monderath kann ihre fortschreitende Demenz nicht länger verbergen. Ihr Sohn ist nun gefordert, sich zu kümmern, und gerät dabei auf eine aufwühlende Spurensuche.
Autorin Susanne Abel verknüpft gleich eine ganze Reihe völlig unterschiedlicher Themen zu einem rasanten, fesselnden Roman. Schon der Einstieg lässt den Berufsalltag in der Medienwelt mit einem vernachlässigten Mutter-Sohn-Verhältnis und der Herausforderung durch eine Alzheimererkrankung kollidieren. Noch ist nicht zu ahnen, dass all dies eigentlich erst den Rahmen bildet für eine Geschichte, die tief berührend und erschütternd in eine völlig unerwartete Richtung abbiegt.
Dazu braucht es neben der aktuellen Zeitebene eine zweite, die in Intervallen in die Kriegs- und Nachkriegsjahre führt. Hier können wir Greta vom Kind zur jungen Frau heran wachsen sehen. Im historischen Kontext wird ihr unsägliches Leid zugefügt, das sie stellvertretend für viele Frauen durchlebt und bis ins hohe Alter mit sich herum trägt.
Der lebhafte, frische Schreibstil mit einfachen, kurzen Sätzen, trotz der Dramatik immer wieder aufblitzender Humor, Personen, die man meint anfassen zu können, außerdem der Eindruck, dass bei schwebender Leichtigkeit hinter allem äußerst gründliche Recherche steht - das sind Zutaten, die das Lesen zum Vergnügen machen.
Es ist großartig gelungen, anhand konkreter Schicksale auf eine darüber hinausweisende Problematik einzugehen. Oder derer mehrere.
Und genau hier liegt der winzige Mangel: Viel wird zwischen die Seiten gepackt. Vielleicht zu viel. Und das in mancherlei Hinsicht. Zu viel Kehrtwendung des anfangs eher unsympathischen Tom, zu viele wirklich wesentliche Themen, zu viele Emotionen und gegen Ende zuviel … Nein, das wird hier natürlich nicht verraten!
Auf jeden Fall lässt sich sagen, dass hier ein Anliegen vorgebracht wurde. Gretas Unglück ist eines, über das gerne geschwiegen wird. Umso besser, dass es hier Gehör findet.

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