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Veröffentlicht am 11.07.2021

Überfrachtet und oft zu distanziert

Effingers
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„Die Effingers“ lassen mich zwiegespalten zurück. Es ist eine grandiose Idee, die Geschichte von vier Generationen aus zwei Familien zu erzählen und diese so dicht mit der deutschen Geschichte zu verweben. ...

„Die Effingers“ lassen mich zwiegespalten zurück. Es ist eine grandiose Idee, die Geschichte von vier Generationen aus zwei Familien zu erzählen und diese so dicht mit der deutschen Geschichte zu verweben. Von 1878 bis 1948 begleiten wir die Effingers und Oppners und damit durch die wohl lebhaftesten Jahrzehnte der deutschen Neuzeit. Von 1933 bis 1950 schrieb Tergit an dem Buch und das erklärt vielleicht, warum die Nazizeit, die diesen beiden jüdischen Familien alles, auch das Leben, nahm, etwas knapp und manchmal hastig erzählt wird. Als die Autorin 1933 zu schreiben begann, warf das schreckliche Schicksal, das ihre Charaktere erwarten würde, zwar schon erste dunkle Schatten, war aber in seinem ganzen grauenvollen Ausmaß noch nicht absehbar. Das Ende hat mich in seiner lakonischen und doch eindringlichen Knappheit und dem Bogen, den es zum Beginn der Geschichte schlug, berührt und ergriffen.

Leider trifft das auf den Großteil des restlichen Buches nicht zu. Die Charaktere erreichten mich nur selten und viele Passagen zeichnen sich vor allem durch durch langatmige Nichthandlung aus. Während zu Beginn die beschauliche Welt der Effingers liebevoll und in herrlich bildhaftem Schreibstil beschrieben wird, ändert sich das schon sehr bald. Immer neue Charaktere bevölkern die Szenerie - Familie, Dienstboten, Angestellte, Kollegen, Bekannte … es wird ziemlich voll auf den Buchseiten und so bleiben viele Charaktere recht blass. Hinzu kommt die seltsam distanzierte Erzählweise. Fast 300 Seiten lang plätschert die Geschichte vor sich hin. Seitenlange Beschreibungen von Menüs, Kleidung und Einrichtung, aber kaum Leben. Paare begegnen sich bei einer Abendgesellschaft, erklären sich am folgenden Tag emotionslos ihre Liebe und heiraten. Manch eine Beziehung birgt erzählerisches Potential, das so gut wie nie ausgeschöpft wird. Wir erfahren kaum je, wie sich diese Beziehungen entwickeln, alles verläuft im immer selben Kreislauf: Kennenlernen, heiraten, Haus einrichten. Die Wohnzimmereinrichtung erfährt mehr Beachtung als die Verhältnisse zwischen den Eheleuten. War es zu Beginn noch unterhaltsam, die authentisch und informiert geschilderten Lebenswelten des Großbürgertums kennenzulernen, erschöpfte sich der Neuigkeitswert mit jeder Wiederholung. An wichtigen Themen wurde zudem zielsicher vorbeigeschrieben. So wird zweimal in einem Nebensatz erwähnt, daß ein Familienmitglied ein Kind hat, das wohl entwicklungsverzögert und in einer „Anstalt“ ist. Mehr erfahren wir aber nicht und plötzlich ist da einem sechzehnjährigen, munterer Sohn, der plötzlich Teil der Geschichte ist. Ist das das zuvor erwähnte Kind? Wir erfahren es nicht. Welchen Sinn hatten die Bemerkungen über das Kind? Wir erfahren es nicht. Auch sonst tauchen Kinder wie aus dem Nichts auf; gerade wird sich zur Heirat entschlossen, plötzlich ist es fünf Jahre später und wir begegnen ohne Einführung neuen Namen und fragen uns: „Wer ist das?“. Ich hatte oft den Eindruck, daß erhebliche Passagen gekürzt wurden (der Roman wurde in früheren Ausgaben tatsächlich gekürzt - ob das hier auch der Fall ist, ist nirgendwo vermerkt), denn es ist ein Wirrwarr aus plötzlich auftauchenden und verschwindenden Charakteren. Andere Charaktere begleiten uns über Jahrzehnte, dann wird ihr Tod irgendwann in einer flüchtigen Nebenbemerkung erwähnt. Eine Ehefrau verläßt ihren Mann, in der nächsten Szene wohnen beide wieder zusammen. Immer sind es solche Momentaufnahmen, die recht ungeordnet zusammengeworfen werden, zu selten erfahren wir Zusammenhänge und Emotionen und so bleiben einem die Familienmitglieder oft fremd.

Ab etwa der Mitte, mit Beginn des Ersten Weltkriegs, nimmt das Buch abrupt Abschied von der Gemächlichkeit des Familienlebens und stürzt sich in eine stakkatohafte Erzählweise, die uns mit Charakteren und Nebencharakteren überschüttet, und zu viel nebensächlich behandelt. Die zuvor ausschweifenden Menü-, Kleider- und Möbelbeschreibungen werden größtenteils von ebenfalls viel zu ausschweifenden politischen Diskursen ersetzt. Seitenlange politische Abhandlungen finden sich hier, und erneut treten die Charaktere zurück. Das ist insbesondere deshalb bedauerlich, als zwischendurch herrlich geschilderte historische Begebenheiten zeigen, was für ein grandioses Buch dies hätte werden können, wenn die Fokussierung besser gewesen wäre. Auch beim Schreibstil schwankte ich - es gab Passagen von berührender Eindringlichkeit, von sprachlicher Eleganz neben anderen Passagen, die stilistisch richtig schlecht waren. Manchmal hatte ich das Gefühl, zwei Leute hätten dieses Buch geschrieben, so sehr war ich beim Lesen ständig hin- und hergerissen.
Und so weiß ich nicht, was ich von dieser Lektüre halten soll. Ich hätte gerne mehr Zugang zu den Charakteren bekommen, und m.E. hätte es der Geschichte gutgetan, sie nicht so sehr zu überfrachten und ausschweifend wiederholende Passagen durch eine sorgfältigere Behandlung der Charaktere und ihrer Geschichten zu ersetzen. So bleibt das Gefühl des verschenkten Potentials.

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Veröffentlicht am 10.06.2021

Für meinen Geschmack zu behäbig und zu wenig Krimi

Das Phantom von Baden
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Leider hat mich dieses Buch von Anfang an nicht gepackt. Vielleicht liegt es an meinen Erwartungen: das herrliche Titelbild (sehr schön auch die abgerundeten Ecken!) und der Klappentext ließen mich einen ...

Leider hat mich dieses Buch von Anfang an nicht gepackt. Vielleicht liegt es an meinen Erwartungen: das herrliche Titelbild (sehr schön auch die abgerundeten Ecken!) und der Klappentext ließen mich einen düsteren, eventuell leicht morbiden Krimi erwarten, und das war es ganz und gar nicht. Es beginnt schon ein wenig skurril mit Alfred, der am Tag des Begräbnisses seiner Mutter von einer für meinen Geschmack etwas albernen Situation in die nächste gerät. Während mir die Sprache sofort ausgezeichnet gefiel, erinnerte mich die Geschichte an dieser Stelle an den Humor der 1970er – etwas konstruiert, etwas offensichtlich, ziemlich überdreht. Allerdings gab es hier auch amüsante Passagen.

Auch der weitere Verlauf konnte mich nicht richtig überzeugen, es passiert zwar dann schnell der erste Mord und die ersten Ermittlungen lasen sich recht interessant (auch wenn die Vorgehensweise der Polizei an mehreren Stellen nicht sehr realitätsnah war), aber dann ging es wieder um Alfreds Privatleben und ab da trat der Krimiteil für mich zu sehr in den Hintergrund. Die Geschichte verliert sich in Alfreds persönlicher Entwicklung (die – ebenso wie die Entwicklung der Beziehungen einiger Charaktere untereinander – zu schnell und nicht gänzlich nachvollziehbar geschah). Die zwei weiteren Morde und die weiteren Ermittlungen geschehen fast am Rande, immer wieder macht der Autor ausführliche Ausflüge in Alfreds Privatleben, verliert sich in den Details diverser Anlagemöglichkeiten (Alfred ist eine Art Anlageberater), die sich teilweise wie ein Versicherungsprospekt lesen und wenig interessant waren, allgemein wird einfach zu viel abgeschweift. Ich habe mich nach dem ersten Viertel des Buches fast durchgehend gelangweilt und sehr lange zum Lesen gebraucht, weil ich die Lektüre immer nach kurzer Zeit wieder abgebrochen habe. Es wirkte für mich über große Strecken hinweg zudem nicht wie ein Krimi, sondern wie ein etwas angestaubtes Boulevardstück. Wer der Mörder war, war mir schließlich recht egal, was für einen Krimi kein gutes Zeichen ist. Die Auflösung fand ich dann auch nicht wirklich überzeugend. Außerdem fehlte mir das Lokalkolorit – ich kenne Baden, mag diese pittoreske Stadt sehr gerne und hatte mich auch aus diesem Grund für das Buch interessiert. Allerdings fand ich recht wenig Baden im Buch, die Geschichte hätte in jeder anderen Stadt spielen können und auch hier lasen sich einige beschreibende Passagen eher nach Reiseprospekt und vermittelten das Gefühl für Baden und Umgebung für mich nicht.

So war es mir also wesentlich zu behäbig und zu wenig Krimi, zu viel „Alfred Eder findet sein Glück“. Gefallen hat mir die auf charmante Weise etwas altmodische, schön zu lesende Sprache und gelegentlich gelungener Humor. Auch wenn mich persönlich der Fall und die Auflösung nicht so sehr überzeugen, ist er doch sorgfältig ausgedacht. Wen die oben genannten Punkte nicht stören, wird an diesem Buch sicher Freude haben.

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Veröffentlicht am 16.04.2021

Verliert sich sehr in Nebensächliches

So wie du mich kennst
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Dies ist eines der Bücher, bei dem der Klappentext in mir ganz andere Erwartungen geweckt hat und so muss ich leider sagen, dass nicht mein Fall war.
Der Anfang hat mich absolut überzeugt, es wird sehr ...

Dies ist eines der Bücher, bei dem der Klappentext in mir ganz andere Erwartungen geweckt hat und so muss ich leider sagen, dass nicht mein Fall war.
Der Anfang hat mich absolut überzeugt, es wird sehr farbig und in gelungener Sprache geschildert, wie Karla mit der Urne ihrer Schwester Marie in ihr Heimatdorf und zu ihren Eltern zurückkehrt. Ich sah mich durch den Erzählstil vor Ort, konnte den Schmerz der Familie nachempfinden. Gleichzeitig wird Neugier geweckt, denn es gibt einige Andeutungen über Marie, die Beziehung zwischen Marie und Karla und auch Maries Tod. Ich habe mich darauf gefreut, Maries „Geheimnis“ aufzudecken.
Dann aber wartete ich sehr lange darauf, daß die Geschichte endlich anfängt. Die Autorin erzählt in einem mäandernden Stil, was an sich eine interessante Erzählweise ist, allerdings verliert sie sich häufig in Nebensächlichkeiten, die zu der Geschichte schlichtweg nichts beitragen. Wer atmosphärische Schilderungen und Alltagserinnerungen und -erlebnisse mag, wird diese hier gekonnt beschrieben finden. Mir wurde es einfach auf Dauer zu langweilig, Karla und Marie bei jedem Schritt durch die Straßen New York zu folgen, jeden verzehrten Bagel o.ä. en detail beschrieben zu bekommen und viele Plaudereien zu lesen, die die Geschichte nicht voranbrachten.Ich habe mich zunehmend gefragt, welchen Sinn diese ganzen Nebensächlichkeiten haben. Hinzu kamen häufige Wiederholungen, sowohl der Beschreibungen wie auch der Informationen. Ich muß gestehen, dass ich nicht weiß, wann ich mich bei einem Buch zum letzten Mal so gelangweilt habe.
Inmitten all dieser Schilderungen und der zahlreichen Introspektionen erfahren wir dann durchaus neue Facetten beider Schwestern und es ist gut gemacht, wie sich diese Informationen allmählich entfalten. Es wurde für meinen Geschmack aber leider zu viel Wert auf das ganze Drumherum gelegt, das die Geschichte eher überladen machte, und letztlich gibt es hier sehr viele Worte um eher wenig Handfestes. Die meisten Handlungsstränge verpuffen dazu noch – gerade die „Auflösung“ von Maries Beobachtungen fand ein ziemlich halbherziges, praktisches Ende.
Vielleicht war es auch dieses Verlieren im Nebensächlichen, das dazu führte, daß mir weder die Schwestern noch die Nebencharaktere nahekamen. Ich blieb innerlich unbeteiligt, sah niemanden richtig vor mir. Es gibt einige sehr schön geschilderte emotionale Momente, die mich durchaus berührt haben, aber im Ganzen ließ mich dieses Buch leider kalt.

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Veröffentlicht am 03.04.2021

Von Dora blieb zu wenig

Was von Dora blieb
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In „Was von Dora blieb“ erzählt Anja Hirsch von Isa, die im Jahr 2014 die Geschichte ihres Vaters und ihrer Großmutter erforscht – inspiriert ist dies von der eigenen Familiengeschichte der Autorin. Dies ...

In „Was von Dora blieb“ erzählt Anja Hirsch von Isa, die im Jahr 2014 die Geschichte ihres Vaters und ihrer Großmutter erforscht – inspiriert ist dies von der eigenen Familiengeschichte der Autorin. Dies geschieht durch die bei diesen Romanen fast obligatorischen zwei Zeitebenen – die Gegenwartsebene mit Isa und die historische Ebene aus Sicht von Isas Großmutter Dora und später Isas Vater Gottfried.

Die Schreibstil ist ein wahres Vergnügen. Die Autorin weiß mit Sprache umzugehen, bildet kleine Satzkunstwerke und erfreut mit herrlichen Formulierungen. Ich habe das genossen, mich an so vielen Stellen erfreut und diese Sprachsouveränität mehrfach bewundert.

Erzähltempo und -weise entsprachen dagegen leider weniger meinem Geschmack. Einerseits schafft die Autorin wundervoll farbige Szenen, in denen gerade die 1920er lebendig werden und die durch gut recherchierte Details glaubwürdig und echt wirken. Andererseits finden sich aber auch viele ausführlich geschilderte Nebensächlichkeiten, die zur Geschichte nichts beitragen und das Lesen zäh gestalten. Auch nimmt die Lebendigkeit der Szenen nach dem ersten Drittel zunehmend ab und weicht ausgiebigen Introspektionen.

Die Gegenwartsebene hat mich fast gar nicht überzeugt. Isa reist aufgrund einer Ehekrise an den Bodensee, widmet sich dort einer Kiste mit Unterlagen zu ihrer Großmutter und lernt außerdem Gustav kennen. Isa verliert sich häufig in Erinnerungen und ebenfalls Introspektionen, hauptsächlich aber wirken die handlungsarmen Gegenwartsszenen wie Resonanzkörper für Isas Familienrecherchen. Das, was wir in den historischen Kapiteln lesen, wird hier häufig unnötig wiederholt, dazu gibt es ausführliche Überlegungen, wie dies und jenes zu verstehen sein könnte, und Hintergrundinformationen. Diese sind leider nicht gelungen eingebracht. Es gibt ständiges Infodumping, vorwiegend durch Unterhaltungen Isas mit Gustav, der ein wandelndes Lexikon ist und zu allen Themen sofort die entsprechenden Fakten detailliert herunter rattern kann. Dies fiel besonders beim Thema BASF auf, als er vier Seiten lang die Firmengeschichte herunter betet, inklusive zahlreicher Jahreszahlen – letztlich ist nichts davon für das Buch wirklich relevant. Auch sonst werden oft artikelartige, nicht relevante Diskurse zu allerlei Themen unternommen.

Dagegen bleibt vieles Entscheidende vage und unbeantwortet. Wir lernen die titelgebende Dora im ersten Drittel des Buches sehr gut kennen, sie wird dem Leser vertraut. Dann erfolgt plötzlich ein Zeitsprung von zehn Jahren, es ist 1937 und wir lesen zwar noch aus Doras Perspektive, erfahren aber kaum noch etwas über sie. Es folgt ein Sprung ins Jahr 1943 und Dora fängt an, dezent mit dem Hintergrund zu verschmelzen und behält wesentliche Aspekte ihrer Persönlichkeitsentwicklung für sich. „Was von Dora blieb“ – letztlich leider viel zu wenig. Mit keinem einzigen Wort erfahren wir, wie sie über das Naziregime denkt, überhaupt wird diese Zeit erstaunlich knapp abgehandelt. Isas Naturspaziergänge, Schwimmbadbesuche und Reminiszenzen nehmen mehr Raum ein als die gesamte Nazizeit. Nachdem der Klappentext genau auf diese Themen (Doras Mann arbeitet bei den I.G.-Farben, Doras Sohn war einige Zeit auf einer Napola) neugierig macht, verfliegen sie fast in Nichts.

Dies mag sicher auch daran liegen, dass die Autorin bei ihrer eigenen Familienrecherche auf viele Fragen keine Antwort bekam – Isas Recherche, sehr sachbuchartig geschildert, zeigt uns, dass sie diesen Fragen nachgeht –, aber ich halte es bei einem Roman nicht für gelungen, so viel unbeantwortet oder vage zu lassen. Natürlich muß nicht jeder lose Faden verknüpft werden, aber bei einem Roman erwartet man einfach mehr Antworten, als es hier geschah. Ich habe beim Lesen mehrfach überlegt, ob ein persönlich gefärbtes Sachbuch, in der Richtung von z.B. „Haltet euer Herz bereit“, nicht stimmiger gewesen wäre. Auch die eher distanzierte Erzählweise paßte für mich nicht ganz – die meisten Charaktere und Geschehnisse berührten mich nicht, viele Motivationen waren nicht erkennbar oder nachvollziehbar und auch die Entwicklung von Freundschaften/Beziehungen geschah oft aus dem Nichts. Die Autorin hat einen journalistischen Hintergrund, vielleicht führte dies zu der oft wenig romanhaften Erzählweise.

So läßt mich das Buch zwiespältig zurück. Es fehlt vieles, was ich relevant fand, dafür gibt es vieles, was ich irrelevant fand. Viele Abschweifungen, wenige Antworten. Sehr lebendige Szenen zu Beginn, dann häufig Langatmiges, zu viel Sachbuch für einen Roman. Dafür aber eine herrliche Schilderung der 20er Jahre, fundierte Recherche – leider oft nicht gelungen eingebracht – und ein herrlicher Umgang mit Sprache, zudem eine an sich durchaus interessante Geschichte, die für meinen Geschmack nur eben sehr anders hätte erzählt werden müssen.

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Veröffentlicht am 23.03.2021

Zu viele Personen, zu viele Handlungsstränge, zu viel von allem

Die Farbe von Kristall
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Der Gedanke, einen tatsächlichen – ungelösten – Kriminalfall als Grundlage für einen historischen Krimi zu nehmen, ist ausgezeichnet. Sehr schön finde ich auch, dass tatsächliche Zeitungsartikel aus jener ...

Der Gedanke, einen tatsächlichen – ungelösten – Kriminalfall als Grundlage für einen historischen Krimi zu nehmen, ist ausgezeichnet. Sehr schön finde ich auch, dass tatsächliche Zeitungsartikel aus jener Zeit den Kapiteln vorgestellt werden. Hinten im Buch gibt es zudem einige Fotos und Informationen zu im Buch vorkommenden historischen Personen. Die Verbindung historischer Fakten und fiktiver Geschichte ist gelungen. Die historische Recherche ist ebenfalls sorgfältig und interessant, auch wenn vielleicht nicht jedes recherchierte Detail Eingang ins Buch hätte finden müssen. Und das ist letztlich auch der Grund, warum mir das Buch nicht so gefallen hat, wie die vielversprechende Idee es vermuten lassen würde.

Es wurde einfach viel zu viel hineingestopft. Das Buch hat über 800 Seiten und diese sind bis zum Bersten mit Handlungssträngen und Personen angefüllt. Neben dem interessanten Kriminalfall und der – wie alles andere gut recherchierten – Polizeiarbeit des anfänglichen 20. Jahrhunderts lesen wir noch über sämtliche privaten Probleme sämtlicher erwähnter Mitarbeiter der Frankfurter Polizei. Da ist bei einem die Frau an Alzheimer erkrankt, ein anderer trinkt, die weibliche Mitarbeiterin sieht sich ständig benachteiligt (obwohl man zu ihr nicht weniger unfreundlich ist als untereinander – es herrscht allgemein ein unangenehmer Ton) und hat noch eine Vorgeschichte, ein weiterer Mitarbeiter verliebt sich, und der mit dem Mordfall betraute Richard Biddling kommt mit so vielen familiären und beruflichen Verwicklungen – und ebenfalls einer traumatischen Vorgeschichte – daher, dass alleine das schon fast zu viel ist. Das ist bei Serien (dies ist Teil 2) in gewisser Weise natürlich zu erwarten, aber es sollte nicht übertrieben werden. Neben Richard selbst kommen auch seine Frau, seine Schwägerin, sein Schwager, sein Schwiegervater mit ihren Problemen vor. Diese Familie an sich hätte einen historischen Roman bereits gefüllt, hier werden sie auf den Kriminalfall und die zahlreichen Ermittlerschicksale und Schicksale weiterer Charaktere noch draufgepackt.

So springt man alle paar Seiten wieder in eine neue Geschichte, zu neuen Charakteren und der Mordfall gerät ziemlich in den Hintergrund. Ich fand dieses ständige Umherspringen zwischen allerlei Handlungssträngen und Personen zu viel, es war nicht möglich, sich einer Geschichte wirklich zu widmen. Dazu kommen dann doch allerhand historische Betrachtungen über Frankfurt, die an sich durchaus interessant wären, aber diesen schon überfüllten Topf dann zum Überkochen bringen. Auch die Erzählweise war oft nicht mein Fall. Viele der Dialoge sind völlig unrealistisch – gerade wenn es um Richards Frau geht, dachte ich dauernd: „Kein Mensch würde solche Unterhaltungen führen.“ Auch die reichlich übertriebenen Verweise auf Literatur und Mystik wirken hier etwas aufgepfropft, weil sie von so vielen Charakteren benutzt werden. Dazu kommen teils langatmige Passagen, gerade wenn uns (etwas plump) gezeigt werden soll, wie reich Richards angeheiratete Familie ist und wie nichtssagend seine Frau mit ihren Töchtern plaudert. Das arm-und-reich-Thema kommt wie auch andere Einzelthemen ohnehin ein wenig mit dem Holzhammer daher. Es ist schlichtweg von allem zu viel. Der Kriminalfall verliert sich dann leider in diesem Überfluss auch sehr und das Lesen machte irgendwann einfach keinen Spaß mehr.

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