Überfrachtet und oft zu distanziert
Effingers„Die Effingers“ lassen mich zwiegespalten zurück. Es ist eine grandiose Idee, die Geschichte von vier Generationen aus zwei Familien zu erzählen und diese so dicht mit der deutschen Geschichte zu verweben. ...
„Die Effingers“ lassen mich zwiegespalten zurück. Es ist eine grandiose Idee, die Geschichte von vier Generationen aus zwei Familien zu erzählen und diese so dicht mit der deutschen Geschichte zu verweben. Von 1878 bis 1948 begleiten wir die Effingers und Oppners und damit durch die wohl lebhaftesten Jahrzehnte der deutschen Neuzeit. Von 1933 bis 1950 schrieb Tergit an dem Buch und das erklärt vielleicht, warum die Nazizeit, die diesen beiden jüdischen Familien alles, auch das Leben, nahm, etwas knapp und manchmal hastig erzählt wird. Als die Autorin 1933 zu schreiben begann, warf das schreckliche Schicksal, das ihre Charaktere erwarten würde, zwar schon erste dunkle Schatten, war aber in seinem ganzen grauenvollen Ausmaß noch nicht absehbar. Das Ende hat mich in seiner lakonischen und doch eindringlichen Knappheit und dem Bogen, den es zum Beginn der Geschichte schlug, berührt und ergriffen.
Leider trifft das auf den Großteil des restlichen Buches nicht zu. Die Charaktere erreichten mich nur selten und viele Passagen zeichnen sich vor allem durch durch langatmige Nichthandlung aus. Während zu Beginn die beschauliche Welt der Effingers liebevoll und in herrlich bildhaftem Schreibstil beschrieben wird, ändert sich das schon sehr bald. Immer neue Charaktere bevölkern die Szenerie - Familie, Dienstboten, Angestellte, Kollegen, Bekannte … es wird ziemlich voll auf den Buchseiten und so bleiben viele Charaktere recht blass. Hinzu kommt die seltsam distanzierte Erzählweise. Fast 300 Seiten lang plätschert die Geschichte vor sich hin. Seitenlange Beschreibungen von Menüs, Kleidung und Einrichtung, aber kaum Leben. Paare begegnen sich bei einer Abendgesellschaft, erklären sich am folgenden Tag emotionslos ihre Liebe und heiraten. Manch eine Beziehung birgt erzählerisches Potential, das so gut wie nie ausgeschöpft wird. Wir erfahren kaum je, wie sich diese Beziehungen entwickeln, alles verläuft im immer selben Kreislauf: Kennenlernen, heiraten, Haus einrichten. Die Wohnzimmereinrichtung erfährt mehr Beachtung als die Verhältnisse zwischen den Eheleuten. War es zu Beginn noch unterhaltsam, die authentisch und informiert geschilderten Lebenswelten des Großbürgertums kennenzulernen, erschöpfte sich der Neuigkeitswert mit jeder Wiederholung. An wichtigen Themen wurde zudem zielsicher vorbeigeschrieben. So wird zweimal in einem Nebensatz erwähnt, daß ein Familienmitglied ein Kind hat, das wohl entwicklungsverzögert und in einer „Anstalt“ ist. Mehr erfahren wir aber nicht und plötzlich ist da einem sechzehnjährigen, munterer Sohn, der plötzlich Teil der Geschichte ist. Ist das das zuvor erwähnte Kind? Wir erfahren es nicht. Welchen Sinn hatten die Bemerkungen über das Kind? Wir erfahren es nicht. Auch sonst tauchen Kinder wie aus dem Nichts auf; gerade wird sich zur Heirat entschlossen, plötzlich ist es fünf Jahre später und wir begegnen ohne Einführung neuen Namen und fragen uns: „Wer ist das?“. Ich hatte oft den Eindruck, daß erhebliche Passagen gekürzt wurden (der Roman wurde in früheren Ausgaben tatsächlich gekürzt - ob das hier auch der Fall ist, ist nirgendwo vermerkt), denn es ist ein Wirrwarr aus plötzlich auftauchenden und verschwindenden Charakteren. Andere Charaktere begleiten uns über Jahrzehnte, dann wird ihr Tod irgendwann in einer flüchtigen Nebenbemerkung erwähnt. Eine Ehefrau verläßt ihren Mann, in der nächsten Szene wohnen beide wieder zusammen. Immer sind es solche Momentaufnahmen, die recht ungeordnet zusammengeworfen werden, zu selten erfahren wir Zusammenhänge und Emotionen und so bleiben einem die Familienmitglieder oft fremd.
Ab etwa der Mitte, mit Beginn des Ersten Weltkriegs, nimmt das Buch abrupt Abschied von der Gemächlichkeit des Familienlebens und stürzt sich in eine stakkatohafte Erzählweise, die uns mit Charakteren und Nebencharakteren überschüttet, und zu viel nebensächlich behandelt. Die zuvor ausschweifenden Menü-, Kleider- und Möbelbeschreibungen werden größtenteils von ebenfalls viel zu ausschweifenden politischen Diskursen ersetzt. Seitenlange politische Abhandlungen finden sich hier, und erneut treten die Charaktere zurück. Das ist insbesondere deshalb bedauerlich, als zwischendurch herrlich geschilderte historische Begebenheiten zeigen, was für ein grandioses Buch dies hätte werden können, wenn die Fokussierung besser gewesen wäre. Auch beim Schreibstil schwankte ich - es gab Passagen von berührender Eindringlichkeit, von sprachlicher Eleganz neben anderen Passagen, die stilistisch richtig schlecht waren. Manchmal hatte ich das Gefühl, zwei Leute hätten dieses Buch geschrieben, so sehr war ich beim Lesen ständig hin- und hergerissen.
Und so weiß ich nicht, was ich von dieser Lektüre halten soll. Ich hätte gerne mehr Zugang zu den Charakteren bekommen, und m.E. hätte es der Geschichte gutgetan, sie nicht so sehr zu überfrachten und ausschweifend wiederholende Passagen durch eine sorgfältigere Behandlung der Charaktere und ihrer Geschichten zu ersetzen. So bleibt das Gefühl des verschenkten Potentials.