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Veröffentlicht am 24.08.2021

Wenn Bärenkinder müde werden

Dreh hin – Dreh her 1: Gute Nacht, kleiner Bär!
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Auch kleine Bären werden irgendwann müde. Dann gähnt der kleine Bär und das Spielen macht keinen Spaß mehr. „Höchste Zeit zum Schlafengehen!", findet Mama Bär. Aber vorher wird noch der Schlafanzug übergezogen, ...

Auch kleine Bären werden irgendwann müde. Dann gähnt der kleine Bär und das Spielen macht keinen Spaß mehr. „Höchste Zeit zum Schlafengehen!", findet Mama Bär. Aber vorher wird noch der Schlafanzug übergezogen, die Zähne werden geputzt, das Lieblingskuscheltier gesucht, ein Glas Wasser getrunken und eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt.

Auf fünf Doppelseiten des Pappbilderbuchs "Gute Nacht, kleiner Bär!" können die kleinen Zuhörerinnen und Zuhörer genau dabei behilflich sein, indem sie an Stoffschlaufen ziehen und das Bild dadurch verändern. Das klappt auch bei meinem knapp zweijährigen Versuchskind schon gut, das den Mechanismus sofort durchschaute und viel Spaß beim Ziehen hat, dabei allerdings leider vom Zuhören abgelenkt wird.

Was mir besonders gut an diesem Bilderbuch mit den Illustrationen von Carola Sieverding gefällt, sind die ruhige Atmosphäre im Bärenheim, die zur abendlichen Stimmung passenden, kindgerecht bunten und doch warmen Farben, die freundlichen Gesichter sämtlicher Mitglieder der Bärenfamilie und der Kuscheltiere und die Fülle an potentiellen Geschichten, die sich über die drei bis sechs Zeilen umfassenden Texte von Sylvia Tress hinaus hinter den Bildern verbergen. Die Gegenstände im Bärenkinderzimmer, im Bad und in der urgemütlichen Küche sind übersichtlich in ihrer Anzahl und so klug gewählt, dass Kinder sie benennen können. Das Weitererzählen drängt sich dabei geradezu auf. Wer genau hinsieht, kann sogar auf jeder Doppelseite ein kleines, vorwitziges Mäuschen entdecken. Schade nur, dass der nette, Zeitung lesende Bärenpapa nicht aktiver in das Abendritual eingreift.

Ich empfehle dieses hübsche Pappbilderbuch für nicht zu stürmische Kleinkinder ab zwei Jahren oder kurz davor, wegen der Mechanik vorzugsweise zum gemeinsamen Betrachten.

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Veröffentlicht am 27.07.2021

Am Scheitelpunkt

Auszeit
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Henriette, die Ich-Erzählerin in "Auszeit", steckt mit Mitte 30 in einer handfesten Lebenskrise. Vordergründig ist eine nur wenige Monate zurückliegende Abtreibung dafür verantwortlich, doch die Probleme ...

Henriette, die Ich-Erzählerin in "Auszeit", steckt mit Mitte 30 in einer handfesten Lebenskrise. Vordergründig ist eine nur wenige Monate zurückliegende Abtreibung dafür verantwortlich, doch die Probleme reichen bis ins verbummelte Kulturwissenschafts-Studium zurück und manifestieren sich aktuell in der festgefahrenen Dissertation zum Thema „Der Werwolf und seine Kulturgeschichte“:

"Mir fehlt auf elementare Weise der innere Antrieb. […] Ich wünschte, ich könnte sagen, ich wäre erst seit dem Frühjahr so. […] Aber es war schon immer so. Es fühlt sich nur schlimmer an." (S. 85)

Ganz anders ist ihre langjährige Freundin Paula: dem Leben zugewandt trotz schwerer Schicksalsschläge, spirituell, zupackend, empathisch:

"Paula ist im Leben, ich bin es nicht. Ich bin in meinem Kopf." (S. 14)

Ortswechsel als Therapie
Kurzerhand verordnet Paula Henriette eine gemeinsame herbstliche Auszeit in einer abgelegenen bayerischen Hütte. Dort soll sie die Seele baumeln lassen, mittels Yoga, Reiki und Waldspaziergängen zur Ruhe kommen und die Schreibblockade lösen.

Tatsächlich erscheinen die Probleme mit dem Abstand zu Berlin zunächst lösbarer, doch dreht sich die Gedankenspirale in Henriettes Kopf weiter. Sie reflektiert ihre Beziehung zu Tobias und den „Sex, der eigentlich keiner war“ (S. 139), ihre Bewunderung für die Lebenserfahrung dieses einige Jahre älteren Familienvaters, der ihr zuhörte, sie aber auch manipulierte. Die ungeplante Schwangerschaft erschien ihr zunächst „als wäre in meinem Inneren ein Licht angeschaltet worden“ (S. 99), trotzdem hat sie „eine Entscheidung gegen die Natur getroffen, gegen meine Natur“ (S. 134) und leidet darunter, deshalb nicht trauern zu dürfen:

"Das Recht, um das Kind zu trauern, habe ich verwirkt." (S. 55)

Mit dem Eintreffen von Tom, Paulas On-Off-Beziehung, wird aus dem Duo ein Trio. Ein neuer Takt muss gefunden werden – mit überraschenden Folgen.

In Teilen autobiografisch
Auch wenn die 1987 geborene Hannah Lühmann mit ihrer Protagonistin Henriette die Erfahrung eines Schwangerschaftsabbruchs teilt und seit ihrer Kindheit eine Grusel-Faszination für Werwölfe hegt, kann sie doch ansonsten nicht viel mit der zögerlichen Romanfigur verbinden. Wer wie sie mit Mitte 30 nach einem Philosophie- und Kulturjournalismus-Studium bereits für die FAZ, die Süddeutsche Zeitung, die Zeit und andere renommierte Presseorgane gearbeitet hat, nun als stellvertretende Ressortleiterin im Feuilleton der Welt tätig ist und den ersten Roman im Verlagshaus Hanser veröffentlicht, verzweifelt nicht an den Möglichkeiten dieser Generation, sondern hat sie ergriffen.

Eine neue Autorin mit viel Potential
Ich bin selbst überrascht, dass ich dieses düstere Buch, durch das allerdings - wie durch die stilisierten Äste auf dem hervorragenden Cover - stellenweise Licht dringt, gerne gelesen haben. Dabei kenne ich eher zielstrebige 30-Jährige und hege eine Abneigung gegen sich permanent selbst bespiegelnde, nur fordernde, nie gebende Menschen wie Henriette. Es erging mir hier ähnlich wie beim Roman "Die Glücklichen" von Kristine Bilkau, wo ein Paar in Henriettes Alter, allerdings anderer Lebenssituation, ähnlich erstarrt und leer ist. Die „groteske Unbegrenztheit von allem“, die „Überzahl an Entscheidungen“ und die „Übermacht möglicher Abläufe“ (S. 83) erweist sich als potentieller Hemmschuh dieser Generation.

Hannah Lühmann ist definitiv eine literarische Entdeckung für mich, auf deren weitere Romane ich sehr gespannt bin. Auch wenn ich mich beim Thema ihres schmalen Debütromans lediglich als staunende Zuschauerin fühlte, mochte ich den Schreibstil sehr, die große Dichte, Präzision, Knappheit und Sensibilität.

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Veröffentlicht am 25.03.2021

Der schönste, schrecklichste Sommer

Hard Land
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Ort: eine fiktive Kleinstadt namens Grady in Missouri
Zeit: 1985/86
Protagonist und Ich-Erzähler: Sam
Erster Satz: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“ (S. 11)
Roter Faden: ein ...

Ort: eine fiktive Kleinstadt namens Grady in Missouri
Zeit: 1985/86
Protagonist und Ich-Erzähler: Sam
Erster Satz: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“ (S. 11)
Roter Faden: ein fiktiver Gedichtband namens Hard Land von Gradys einzigem Schriftsteller aus dem Jahr 1893, die „Geschichte des Jungen, der den See überquerte und als Mann wiederkam […] Ein Zyklus von über neunzig zusammenhängenden Gedichten, unterteilt in fünf Akte“ (S. 45/46) – wie der Roman.

Melancholie
Die Sommerferien ragen 1985 wie ein „Berg von Langeweile“ (S. 11) vor dem knapp 16-jährigen Sam Turner auf, bis ein Aushilfsjob im örtlichen Kino seine Welt für immer verändert. Sam war immer ein introvertierter Außenseiter, in seiner Kindheit geplagt von Panikattacken, sein einziger Freund ist im letzten Herbst weggezogen, die ältere Schwester lebt als Serien-Drehbuchschreiberin weit weg an der Westküste und meldet sich kaum. Als wäre das nicht schon genug, ist das erzkonservative Grady seit der Schließung des größten Arbeitgebers ein Ort im Niedergang, Sams in sich gekehrter Vater Joseph deswegen arbeitslos und seine empathische Mutter Annie leidet seit Jahren an einem Hirntumor:

"Immer, wenn die Krankheit akut war, waren wir alle in Alarmbereitschaft, alles andere spielte keine Rolle mehr. Nur war dieses »alles andere« mein Leben." (S. 106)

Euphorie + Melancholie = „Euphancholie“
Die Hoffnung der Mutter auf Freundschaften für Sam erfüllt sich mit der Arbeit im Kino, obwohl die eingeschworene Kino-Clique zunächst reserviert reagiert und ihn anfänglich nur aus Mitleid aufnimmt. Allerdings sind der schwule Cameron aus reichem Haus, der sportliche, farbige Brandon, genannt Hightower, der unter Rassismus leidet und früh seine Mutter verlor, und die hübsche Kirstie, die immer wieder Pech in der Liebe hat, zwei Jahre älter und damit im Gegensatz zu Sam, der noch zwei Schuljahre vor sich hat, bereits auf dem Absprung. In diesem Sommer mit ihnen erlebt Sam jedoch alles, was gemeinhin zum Erwachsenwerden gehört. Sie ermuntern ihn, sich seinen Ängsten zu stellen und verhelfen ihm so zu mehr Selbstvertrauen. Sie sind für ihn da, als seine Mutter stirbt und es ihm den Boden unter den Füßen wegzieht:

"»Sie war wie diese Stützräder, wenn man Fahrradfahren lernt«, sagte ich." (S. 248)

Als seine drei Freunde am Ende des Sommers Grady verlassen, bleibt Sam allein mit seiner Trauer und seiner unerfüllten Liebe zu Kirstie zurück, doch der nächste Sommer kommt bestimmt…

Schwächer als der Vorgänger
Der 1984 geborene Benedict Wells erzählt diese klassische Coming-of-Age-Geschichte mit sehr viel Empathie für die 1980er-Jahre, für seine Themen und Figuren. Vor allem Sam ist unwiderstehlich. Sämtliche Begleiterscheinungen des Erwachsenwerdens und wirklich alle Klischees sind vorhanden, ebenso die Filme und Songs der 1980er-Jahre (Soundtrack im Internet abrufbar). Leider führt das zu Vorhersehbarkeit und bei mir zum Eindruck, dass man vieles schon einmal gelesen oder gesehen hat und Themen systematisch abgearbeitet werden. Selbst der tolle erste Satz ist, wie der Autor gesteht, „mitgenommen“ aus Charles Simmons Roman "Salzwasser". Bewundernswert ist allerdings, wie Benedict Wells die sprachlichen Kitschklippen gekonnt umschifft, wie gut er die Atmosphäre des sterbenden Ortes einfängt, wie er die behutsame Vater-Sohn-Annäherung andeutet und die verschiedenen Phasen der Trauer beschreibt.

Alles in allem konnte mich das leicht konsumierbare "Hard Land" nicht so mitreißen wie "Vom Ende der Einsamkeit". Gute Unterhaltung, auch für Jugendliche, ist es trotzdem.

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Veröffentlicht am 10.03.2021

Die südkoreanische Durchschnittsfrau

Kim Jiyoung, geboren 1982
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Ich könnte mir keinen Roman vorstellen, der besser zum heutigen Internationalen Weltfrauentag passt, als der Debütroman "Kim Jiyoung, geboren 1982" der südkoreanischen Drehbuchautorin Cho Nam-Joo. Basierend ...

Ich könnte mir keinen Roman vorstellen, der besser zum heutigen Internationalen Weltfrauentag passt, als der Debütroman "Kim Jiyoung, geboren 1982" der südkoreanischen Drehbuchautorin Cho Nam-Joo. Basierend auf eigenen Erfahrungen und Beobachtungen beschreibt sie die alltägliche weibliche Diskriminierung am Beispiel einer südkoreanischen Durchschnittsfrau. Mit 33 Jahren bekommt Jiyoung plötzlich „eigenartige Anwandlungen“ und benimmt sich während eines Besuchs bei den Schwiegereltern schockierend, so dass ihr Ehemann Daehyou einen Psychiater zu Rate ziehen muss. Was veranlasst die bisher völlig unauffällige Frau dazu, mit fremden Stimmen zu sprechen?

In zweiter Reihe
Fast hätte es Jiyoung gar nicht gegeben, hätte ihre Mutter nicht erst die dritte Tochter abgetrieben, sondern bereits die zweite. Als der von der Familie ersehnte Sohn geboren wird, rücken die Schwestern automatisch auf die Plätze hinter ihm. Trotzdem sorgt die durchsetzungsfähige, geschäftstüchtige Mutter Misuk für eine qualifizierte Ausbildung der beiden Töchter, die ihr wegen ihres Geschlechts verwehrt wurde. Obwohl auch jetzt noch die Mädchen in der Schule und an der Universität prinzipiell hinter den Jungen rangieren und sexuelle Übergriff im Alltag wie selbstverständlich geduldet werden, schafft Jiyoung Abitur und Studium. Als fast unüberwindliche Hürde gestaltet sich jedoch die Jobsuche:

"Hatte eine Frau Schwächen, kam sie deshalb nicht infrage. War sie brilliant, galt sie als Unruhestifterin. Und was sagte man ihr, wenn sie mittelmäßig war? Tut uns leid, Sie sind zu durchschnittlich?" (S. 111)

Erst als sie ihre Ansprüche zurückschraubt, stellt eine Marketingagentur sie ein. Geringere Bezahlung, Benachteiligung bei Beförderungen und sexistisches Verhalten sind im Berufsleben ihre ständigen Begleiter, trotzdem macht Jiyoung die Arbeit Spaß. Doch mit der Geburt ihrer Tochter Ziwon ist dieser Lebensabschnitt zu Ende, Berufstätigkeit und Mutterschaft scheinen in Südkorea unvereinbar. Wie so viele Frauen leidet sie unter der Doppelmoral bei der Bewertung von Hausarbeit und unter der Aussicht auf maximal einen Job im Mindestlohnbereich, ohne Sozialversicherung und festen Arbeitsvertrag.

Drei Frauengenerationen
Trotz der im Vergleich zu ihrer Mutter wesentlich besseren Startchancen, stößt Jiyoung beständig gegen einen gläsernen Deckel. Leider fehlt ihr auch deren raffiniertes Durchsetzungsvermögen. Da Jiyoung der Autorin als Modell für alle denkbaren Ungerechtigkeiten der koreanischen Gesellschaft dient, wird es gegen Ende des Buches etwas zu viel des Guten, was aber vermutlich beabsichtigt ist. Außerdem hätte ich mir etwas mehr Beachtung für das Schicksal von Jiyoungs kleiner Tochter gewünscht, die als Auslöser für die Frustration ihrer Mutter ebenfalls Opfer ist, doch ist dies eindeutig nicht Thema des Romans.

Mit Wut geschrieben
Cho Nam-Joo erzählt diese zutiefst trostlose Geschichte aus einem patriarchal geprägten Hightech-Land in vollkommen nüchterner Sprache. Erst spät wird klar, wer erzählt - ein besonders gelungener Kunstgriff. Doch nicht nur die Schreibweise erinnert an ein Sachbuch, auch die Quellenangaben zu Statistiken, Studien und Dokumentationen über weibliche Lebensumstände in Südkorea sind äußerst ungewöhnlich für einen Roman. Allerdings geht es Cho Nam-Joo nicht um Unterhaltung, vielmehr möchte sie die unhaltbaren Zustände in ihrem Land anprangern, unterdrückten Frauen eine Stimme geben und die Gesellschaft aufrütteln. Dass der im Original 2016 erschienene Roman in Südkorea zu einem inzwischen auch verfilmten Bestseller wurde, lässt hoffen, dass er zu Veränderungen beitragen kann.

Fazit: "Kim Jiyoung, geboren 1982" ist nicht das beste Buch des Literaturfrühlings 2021, aber sicher eines der wichtigsten und eine Mahnung an Frauen weltweit, wachsam und wehrhaft zu bleiben.

Veröffentlicht am 16.02.2021

Zwei Mütter, drei Väter, viele Heimatorte

Das achte Kind
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Wäre der Buchtitel "Herkunft" nicht schon vom Gewinner des Deutschen Buchpreises 2019, Saša Stanišić, besetzt - er hätte auch zum Debütroman von Alem Grabovac wunderbar gepasst. Beide Autoren erzählen ...

Wäre der Buchtitel "Herkunft" nicht schon vom Gewinner des Deutschen Buchpreises 2019, Saša Stanišić, besetzt - er hätte auch zum Debütroman von Alem Grabovac wunderbar gepasst. Beide Autoren erzählen autofiktional in der Ich-Form, beide Romane gehen in ihrer Bedeutung weit über das Einzelschicksal hinaus und beschreiben ein Aufwachsen in Deutschland außerhalb der allgemeinen Wahrnehmung. Doch während Saša Stanišić 1992 mit 14 Jahren als Kriegsflüchtling aus Bosnien nach Deutschland kam, wurde Alem Grabovac als Sohn jugoslawischer Gastarbeiter, Mutter Kroatin, Vater Bosnier, 1974 in Würzburg geboren.

Verschiedene Welten
Die Nachricht vom Tod seines leiblichen Vaters Emir Grabovac ist Ausgangspunkt des Romans. 34 Jahre lang hatte die Mutter Alem belogen, um ihm ein „schönes Vaterbild“ zu erhalten, und ihm die erfundene Geschichte vom rechtschaffenen, bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommenen Vater erzählt.

Alems Mutter Smilja lernte ihren Mann 1973 in Deutschland kennen, wo sie ein Leben als Gastarbeiterin gegen ein prekäres, von familiärer Gewalt geprägtes Dasein in ihrem kroatischen Bergdorf eingetauscht hatte. Emir entpuppt sich schnell als arbeitsscheuer, trunksüchtiger Kleinganove, dem sie unmöglich tagsüber den neugeborenen Sohn überlassen kann. Schweren Herzens entscheidet sie sich deshalb für eine Pflegefamilie. Nachdem Emir endgültig untertaucht und Smilja auf der Flucht vor Eintreibern seiner Spielschulden nach Frankfurt zieht, bleibt Alem nun auch an den meisten Wochenende bei Marianne und Robert Behrens, die ihn wie die eigenen sieben Kinder fürsorglich und liebevoll aufziehen. Bewundernd und stolz lauscht er Roberts Kriegsgeschichten und malt Panzer. Die nationalsozialistische Gesinnung und den ausgeprägten Judenhass seines ansonsten „herzensguten“ Pflegevaters, der „immer für mich da war“, begreift er erst als Jugendlicher und distanziert sich:

"Ich blickte auf seine Kriegsverletzung, das riesige Loch in der Schulter, auf das ich als Kind so unglaublich stolz gewesen war. Doch das Loch hatte sich verändert, war schattiger und dunkler geworden, hinter seiner tiefen Ausbuchtung verbarg sich etwas, vor dem ich mich zunehmend fürchtete." (S. 181/182)

Während sich Alem bei seiner Pflegefamilie trotz zahlreicher Umzüge in deren penibel geregeltem Alltag geborgen und zuhause fühlt, fürchtet er die Besuche bei seiner leiblichen Mutter und deren gewalttätigem, unberechenbarem neuen Partner, dem Serben Dušan. In Frankfurt gibt es weder Tischmanieren noch Sandmännchen, Dalli Dalli oder eine geregelte Nachtruhe, dafür Prügel vom häufig betrunkenen Stiefvater für Alem und Smilja.

Überlebensstrategien
Wie übersteht man eine solches Aufwachsen in unterschiedlichen Familien und zwischen schwäbischen Kleinstädten, Frankfurt und den Besuchen bei den Großeltern im kroatischen Maovice? Mit dem Ziel eines Studium als überaus bewundernswertem Weg durch Bildung zur Freiheit und mit Zufluchtsorten:

"Ich versuchte, ruhig zu bleiben, […] und hatte in der Literatur, wie schon zuvor im Fußball und in Kinofilmen, einen neuen Ort gefunden, an den ich mich klammheimlich zurückziehen konnte, wenn das Leben mal wieder zu laut und chaotisch wurde." (S. 215)

Mehr Bericht als Roman
Alem Grabovacs Debütroman ist gerade deshalb eindrucksvoll, weil er nicht Mitleid heischt und Pathos meidet. Allerdings frage ich mich, was diesen eher distanzierten autobiografischen Bericht zum Roman macht, und vermisse ein wenig die Emotionalität und die literarische Originalität eines Saša Stanišić. Als Beitrag zu zwei großen Themen der Nachkriegszeit, dem Schicksal tausender Gastarbeiter und dem Weiterleben der Naziideologie, ist "Das achte Kind" jedoch sehr empfehlenswert.

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