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Veröffentlicht am 03.11.2021

Niemand ist zu alt, um sich zu ändern

Barbara stirbt nicht
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Herr Schmidt, Hausgerätetechniker im Ruhestand und seit 52 Jahren verheiratet, kann weder eine Kaffeemaschine bedienen noch eine Kartoffel kochen. Bisher war das auch nie nötig, hat doch Barbara, seine ...

Herr Schmidt, Hausgerätetechniker im Ruhestand und seit 52 Jahren verheiratet, kann weder eine Kaffeemaschine bedienen noch eine Kartoffel kochen. Bisher war das auch nie nötig, hat doch Barbara, seine Frau, ihn vorbildlich umsorgt in der neuen Küche, seinem Geschenk zur Goldenen Hochzeit und allein „Barbaras Reich“. Doch eines Tages fehlt der gewohnte morgendliche Kaffeeduft, Barbara ist im Badezimmer zusammengebrochen und steht, als er sie mühsam ins Bett verfrachtet hat, nicht mehr auf. Herrn Schmidts Glaube an Barbaras unerschütterliche Gesundheit erweist sich als tragischer Irrtum.

Ende der Alltagsroutine
Es war keine Liebesheirat, eher eine Verpflichtung, als sich ein Kind ankündigte. Viel Arbeit musste Herr Schmidt in Barbara investieren, den russischen Akzent abtrainieren, sie aufpäppeln, monatelange Küchenmissgeschicke ertragen, den Widerstand seiner Mutter überwinden und verhindern, dass man in dem Dorf bei Frankfurt, in das er und seine Mutter als Flüchtlinge gekommen waren, mehr als nötig auffiel. Und doch scheint sich das Ehepaar Schmidt eingerichtet zu haben, jeder in seinem eng begrenzten Zuständigkeitsbereich, Herr Schmidt in der Erwerbsarbeit, Barbara zuhause. Nun wird die gewohnte Routine unterbrochen und Herr Schmidt durch die Vertreibung aus seiner Komfortzone aus der Bahn geworfen. Oder sorgt er sich doch um Barbara?

Küche statt Krankenpflege
Alina Bronsky erzählt die Geschichte konsequent in personaler Erzählweise aus der Sicht von Herrn Schmidt, der als einziger nie mit seinem Vornamen, Walter, genannt wird. Da er Barbaras Krankheit nicht beim Namen nennt, erfahren wir weder, worunter sie leidet, noch direkt, wie es ihr geht. Für die medizinische Behandlung, später den Pflegedienst, sind die beiden Kinder Sebastian und Karin zuständig, zu denen Herr Schmidt schon lange einen wenig herzlichen Kontakt pflegt. Wie Barbaras Krankheit verdrängt Herr Schmidt auch hier, womit er nicht umgehen kann: Sebastians schwarze (Ex-)Frau mit dem Enkel sowie Karins lesbische Beziehung zu Mai, für ihn lediglich ihre „beste Freundin“. Nur die sich häufenden Besuche und besorgte Nachfragen aus Barbaras erstaunlich großem, Herrn Schmidts überschaubarem Bekanntenkreis lassen die tatsächliche Dramatik erahnen.

Herr Schmidt dagegen wirft sich in die Küchenarbeit, unterstützt von der Bäckereiverkäuferin, dem Fernsehkoch Medinski und dessen Internet-Fangemeinde. Dass Barbara von seinen immer komplizierteren Koch- und Backversuchen immer weniger essen kann, ist ein weiterer Hinweis auf ihren sich verschlechternden Gesundheitszustand. Dabei ist Herr Schmidt sicher:

"Wenn sie gut isst, wird sie gesund." (S. 129)

"Barbara geht es gut. […] Das Wichtigste ist, dass sie nicht verhungert. Dafür sorge ich. […]“ (S.211)

Die offenbare Ignoranz ihres Vaters irritiert auch Karin:

„Papa. Ich verstehe, es ist schwer.“
„Nichts ist schwer. Lass mich.“
„Papa. Deine Reaktionen sind verstörend. Das muss aufhören. Wir können doch nicht die ganze Zeit vor Ort sein.“
„Das hoffe ich.“ (S. 164/165)

Humorvoll, aber nicht belanglos
"Barbara stirbt nicht" ist weniger skurril als vorherige Romane von Alina Bronsky wie "Baba Dunjas letzte Liebe" oder "Der Zopf meiner Großmutter", obwohl Herr Schmidt mit seiner aberwitzigen Lebensuntüchtigkeit durchaus solche Züge aufweist. Seine Wandlung vom unsensiblen, politisch unkorrekten Kotzbrocken zum einigermaßen empathiefähigen Zeitgenossen, der mir wider Willen sympathischer wurde, ist humorvoll-leicht, bisweilen schräg und immer kurzweilig beschrieben, wobei mir seine Facebook-Karriere oder das alte Familiengeheimnis zu übertrieben waren. Sehr gelungen sind dagegen die lebenserhaltenden Verdrängungsmechanismen, ein literarisches Thema, das mich immer wieder zu fesseln vermag. "Barbara stirbt nicht" ist deshalb nur vordergründig ein leichtes Wohlfühlbuch. Auf den zweiten Blick entdeckt man mehr.

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Veröffentlicht am 14.09.2021

Schattenseiten der Thatcher-Regierung

Shuggie Bain
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Mit dem einjährigen Bergarbeiterstreik 1984/85 erreichte der Widerstand gegen die Politik der britischen Premierministerin Margaret Thatcher einen Höhepunkt. Bis heute werfen die Auswirkungen des Thatcherismus ...

Mit dem einjährigen Bergarbeiterstreik 1984/85 erreichte der Widerstand gegen die Politik der britischen Premierministerin Margaret Thatcher einen Höhepunkt. Bis heute werfen die Auswirkungen des Thatcherismus besonders in Schottland lange Schatten, denn die schlimmste Rezession seit den 1930er-Jahren zerstörte ein Fünftel der industriellen Basis und führte zu einem drastischen Anstieg von Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Drogensucht, psychischen Erkrankungen, Gewalt und Selbstmordrate. Im Glasgower Stadtteil East End sank die Lebenserwartung um elf Jahre.

Douglas Stuart wuchs während dieser Zeit in Glasgow auf. Sein Debütroman Shuggie Bain, für den er 2020 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, ist zwar nicht autobiografisch, wurde jedoch von eigenen Erfahrungen von der Erinnerung an seine alkoholabhängige Mutter inspiriert, die er nicht retten konnte.

Die Schattenseiten von Glasgow
Shuggie Bain stammt aus der zweiten Ehe seiner Mutter Agnes, die zum Entsetzen ihrer katholischen Eltern mit ihren beiden älteren Kindern aus der Ehe mit einem verlässlichen, aber langweiligen Katholiken ausbricht und mit dem Protestanten Shug wieder bei ihren Eltern in eine Hochhauswohnung im Glasgower Stadtteil Sighthill einzieht:

"Für die Siedlung hatte man die Familien aus den alten Glasgower Mietskasernen geholt, und alles sollte anders sein, modern, eine große Verbesserung. Aber in Wirklichkeit war die Siedlung zu brutal, zu spartanisch, zu schlecht gebaut, um besser zu sein." (S. 94)

Shug fährt nachts Taxi, geht fremd und ist gewalttätig. Agnes trinkt zwar schon lang, doch erst als Shug sie 1982 in die dystopische Bergarbeitersiedlung Pithead am Rande von Glasgow verschleppt und sie gleichzeitig verlässt, gerät ihr Konsum von Special Brew und Wodka aus Teetassen völlig außer Kontrolle.

Unaufhaltsame Abwärtsspirale
Nun müssen Agnes und die Kinder sich allein durchschlagen. Shuggies ältere Halbschwester Catherine sucht als erste das Weite, den künstlerisch begabten Halbbruder Leek wirft Agnes im Suff hinaus, und so ist Shuggie mit nur dreizehn Jahren alleine für sie verantwortlich: als Beichtvater, Pfleger, als Schutzschirm gegen trinkende und sexuell übergriffige Nachbarinnen und Nachbarn und beim Beiseiteschmuggeln von Geld für Essen. Dabei bräuchte er selbst Hilfe, denn so wie Agnes mit ihrem Streben nach Schönheit und Gepflegtheit Außenseiterin in diesem Milieu bleibt, gehört er als schwuler Junge nicht dazu.

Keinen Tritt auf der Leiter abwärts spart Douglas Stuart aus. Überwiegend wird die trostlose Geschichte in personaler Erzählform aus der Sicht des 1981 fünfjährigen, am Ende siebzehnjährigen Shuggie erzählen. Die Dialoge im Arbeiterslang klingen authentisch. Shuggies innige, zerstörerische Liebe zu seiner dysfunktionalen Mutter, seine Bewunderung für ihre Schönheit und Würde und seine Scham über die eigene Hilflosigkeit sind nachhaltig erschütternd.

Preiswürdig, aber trotzdem verbesserungsfähig
Obwohl mich die dramatischen gesellschaftlichen Umstände sehr interessierten, hätte mich der Autor bei den sich wiederholenden Alkoholabstürzen beinahe verloren, denn es setzte eine gewisse Ermüdung und bedauerlicherweise Abstumpfung ein. Zwar hat Douglas Stuart, wie er sagt, das ursprüngliche Manuskript von 900 engbedruckten Seiten extrem gekürzt, doch hätte eine weitere Straffung aus meiner Sicht den Roman noch eindringlicher gemacht. Verstehen kann ich die Ausführlichkeit trotzdem, hängen doch an vielen Episoden sicherlich Erinnerungen.

Wie Douglas Stuart es nach einer Kindheit in diesem Milieu und früh verwaist zu einem Studium am Londoner Royal College of Art und einer Karriere als Modedesigner in New York brachte, wäre sicher ein eigenes Buch wert. Vielleicht erfahren wir es irgendwann, denn inzwischen widmet er sich ganz dem Schreiben und will zeitweise nach Schottland zurückkehren.

Veröffentlicht am 30.08.2021

Drei Wochen in der Uckermark

Der Brand
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Im August 2020 brennt nicht nur die von Rahel und Peter Wunderlich gemietete Ferienhütte in den Ammergauer Alpen kurz vor ihrer Anreise ab, auch in ihrer Ehe lodert es bedrohlich:

"Sein feiner Humor kippt ...

Im August 2020 brennt nicht nur die von Rahel und Peter Wunderlich gemietete Ferienhütte in den Ammergauer Alpen kurz vor ihrer Anreise ab, auch in ihrer Ehe lodert es bedrohlich:

"Sein feiner Humor kippt nun öfter ins Zynische, und an die Stelle ihrer lebhaften Gespräche ist eine distinguierte Freundlichkeit getreten. Damit einhergehend – und das ist das Schlimmste – hat er aufgehört, mit ihr zu schlafen." (S. 11)

Ein weiterer Brandherd ist Peters Arbeitsplatz als Literaturwissenschaftler an der Universität, seit er sich ahnungslos im Umgang mit einer diversen Studentin zeigte und damit einen Shitstorm auslöste. Von seiner Frau fühlt er sich diesbezüglich unverstanden. Rahels Beziehung zu ihrer ihr wesensfremden Tochter Selma gleicht einem Pulverfass, für das es jederzeit nur eines Funkens bedarf, und der Brand Dresdens 1945 war ursächlich für die dauerhafte Traumatisierung von Rahels Großmutter.

Uckermark statt Alpen
Statt drei Wochen Oberbayern geht es nun also in die Uckermark. Die beste Freundin von Rahels verstorbener Mutter, Ruth, muss ihren Mann Viktor nach einem Schlaganfall in die Reha begleiten und bittet Rahel und Peter, währenddessen ihren Hof und die Tiere zu versorgen. Peter beugt sich Rahel einsamem Entschluss.

Ein bunter Strauß von Problemen
Obwohl der Hof viel Arbeit macht, hat Rahel genug Zeit zum Nachdenken. Was ist nach fast 30-jähriger Ehe noch an Gefühlen übrig? Warum hat Peter das sexuelle Interesse an ihr verloren? Wie soll die 49-jährige Psychotherapeutin mit den Vorboten der Menopause und ersten körperlichen Verfallserscheinungen umgehen? Warum profitiert sie beim Umgang mit der Tochter nicht von ihrer professionellen Erfahrung? Welchen Einfluss hatte und hat das großmütterliche Kriegstrauma auf die nachfolgenden Generationen? Kann es sein, dass sie dem Geheimnis ihres unbekannten Vaters auf der Spur ist?

Für die Schlagzeilen der Weltpresse, die im Hintergrund mitlaufen, bleibt kaum Raum. Längst lesen sich Rahel und Peter nicht mehr am Frühstückstisch aus verschiedenen überregionalen Zeitungen vor und diskutieren über aktuelle Fragen.

Schwierige Figuren
Daniela Krien, 1975 in Neu-Kaliß geboren und damit ähnlich alt wie ihre Protagonistin Rahel, seziert die Probleme mit scharfem Blick, respektvoll und ohne Tabus. Ihre Sätze sind auf das absolut Notwendige verknappt und die Bilder stimmen. Sympathien konnte ich allerdings für keine der Figuren entwickeln, weder für die selbstgerecht jammernde, weitgehend kritikimmune Rahel mit ihrer mangelnden Empathie für ihre Familienmitglieder genauso wie für ihre Patientinnen und Patienten, noch für den resignierten, depressiven Peter oder die orientierungslose Selma. Dem 55-jährigen Peter als professoralem Bücherwurm kann ich die Weltfremdheit und die Weigerung, sich mit den Minenfeldern des Zeitgeistes auseinanderzusetzen, noch abnehmen, aber Rahel, die doch als Psychotherapeutin mit beiden Beinen im Leben stehen und neueren Entwicklungen gegenüber offener sein müsste, erscheint mir deutlich älter, als sie nach Jahren ist.

Reichlich Diskussionsstoff
Schon bei Daniela Kriens Bestseller "Die Liebe im Ernstfall" taten mir – trotz ihrer Schwächen – eher die Männer leid, nun war es ebenso. Auch wenn ich ihre Meinung oft nicht teile, bietet auch "Der Brand" reichlich Diskussionsstoff: in die Jahre gekommene Beziehungen, Altern, Generationenkonflikte, transgenerationale Traumatisierung und vieles andere mehr, nicht zuletzt den bei ihr allzeit präsente Ost-West-Konflikt mit für mich als Westdeutsche überraschenden Aspekten.

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Veröffentlicht am 24.08.2021

Wenn Bärenkinder müde werden

Dreh hin – Dreh her 1: Gute Nacht, kleiner Bär!
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Auch kleine Bären werden irgendwann müde. Dann gähnt der kleine Bär und das Spielen macht keinen Spaß mehr. „Höchste Zeit zum Schlafengehen!", findet Mama Bär. Aber vorher wird noch der Schlafanzug übergezogen, ...

Auch kleine Bären werden irgendwann müde. Dann gähnt der kleine Bär und das Spielen macht keinen Spaß mehr. „Höchste Zeit zum Schlafengehen!", findet Mama Bär. Aber vorher wird noch der Schlafanzug übergezogen, die Zähne werden geputzt, das Lieblingskuscheltier gesucht, ein Glas Wasser getrunken und eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt.

Auf fünf Doppelseiten des Pappbilderbuchs "Gute Nacht, kleiner Bär!" können die kleinen Zuhörerinnen und Zuhörer genau dabei behilflich sein, indem sie an Stoffschlaufen ziehen und das Bild dadurch verändern. Das klappt auch bei meinem knapp zweijährigen Versuchskind schon gut, das den Mechanismus sofort durchschaute und viel Spaß beim Ziehen hat, dabei allerdings leider vom Zuhören abgelenkt wird.

Was mir besonders gut an diesem Bilderbuch mit den Illustrationen von Carola Sieverding gefällt, sind die ruhige Atmosphäre im Bärenheim, die zur abendlichen Stimmung passenden, kindgerecht bunten und doch warmen Farben, die freundlichen Gesichter sämtlicher Mitglieder der Bärenfamilie und der Kuscheltiere und die Fülle an potentiellen Geschichten, die sich über die drei bis sechs Zeilen umfassenden Texte von Sylvia Tress hinaus hinter den Bildern verbergen. Die Gegenstände im Bärenkinderzimmer, im Bad und in der urgemütlichen Küche sind übersichtlich in ihrer Anzahl und so klug gewählt, dass Kinder sie benennen können. Das Weitererzählen drängt sich dabei geradezu auf. Wer genau hinsieht, kann sogar auf jeder Doppelseite ein kleines, vorwitziges Mäuschen entdecken. Schade nur, dass der nette, Zeitung lesende Bärenpapa nicht aktiver in das Abendritual eingreift.

Ich empfehle dieses hübsche Pappbilderbuch für nicht zu stürmische Kleinkinder ab zwei Jahren oder kurz davor, wegen der Mechanik vorzugsweise zum gemeinsamen Betrachten.

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Veröffentlicht am 27.07.2021

Am Scheitelpunkt

Auszeit
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Henriette, die Ich-Erzählerin in "Auszeit", steckt mit Mitte 30 in einer handfesten Lebenskrise. Vordergründig ist eine nur wenige Monate zurückliegende Abtreibung dafür verantwortlich, doch die Probleme ...

Henriette, die Ich-Erzählerin in "Auszeit", steckt mit Mitte 30 in einer handfesten Lebenskrise. Vordergründig ist eine nur wenige Monate zurückliegende Abtreibung dafür verantwortlich, doch die Probleme reichen bis ins verbummelte Kulturwissenschafts-Studium zurück und manifestieren sich aktuell in der festgefahrenen Dissertation zum Thema „Der Werwolf und seine Kulturgeschichte“:

"Mir fehlt auf elementare Weise der innere Antrieb. […] Ich wünschte, ich könnte sagen, ich wäre erst seit dem Frühjahr so. […] Aber es war schon immer so. Es fühlt sich nur schlimmer an." (S. 85)

Ganz anders ist ihre langjährige Freundin Paula: dem Leben zugewandt trotz schwerer Schicksalsschläge, spirituell, zupackend, empathisch:

"Paula ist im Leben, ich bin es nicht. Ich bin in meinem Kopf." (S. 14)

Ortswechsel als Therapie
Kurzerhand verordnet Paula Henriette eine gemeinsame herbstliche Auszeit in einer abgelegenen bayerischen Hütte. Dort soll sie die Seele baumeln lassen, mittels Yoga, Reiki und Waldspaziergängen zur Ruhe kommen und die Schreibblockade lösen.

Tatsächlich erscheinen die Probleme mit dem Abstand zu Berlin zunächst lösbarer, doch dreht sich die Gedankenspirale in Henriettes Kopf weiter. Sie reflektiert ihre Beziehung zu Tobias und den „Sex, der eigentlich keiner war“ (S. 139), ihre Bewunderung für die Lebenserfahrung dieses einige Jahre älteren Familienvaters, der ihr zuhörte, sie aber auch manipulierte. Die ungeplante Schwangerschaft erschien ihr zunächst „als wäre in meinem Inneren ein Licht angeschaltet worden“ (S. 99), trotzdem hat sie „eine Entscheidung gegen die Natur getroffen, gegen meine Natur“ (S. 134) und leidet darunter, deshalb nicht trauern zu dürfen:

"Das Recht, um das Kind zu trauern, habe ich verwirkt." (S. 55)

Mit dem Eintreffen von Tom, Paulas On-Off-Beziehung, wird aus dem Duo ein Trio. Ein neuer Takt muss gefunden werden – mit überraschenden Folgen.

In Teilen autobiografisch
Auch wenn die 1987 geborene Hannah Lühmann mit ihrer Protagonistin Henriette die Erfahrung eines Schwangerschaftsabbruchs teilt und seit ihrer Kindheit eine Grusel-Faszination für Werwölfe hegt, kann sie doch ansonsten nicht viel mit der zögerlichen Romanfigur verbinden. Wer wie sie mit Mitte 30 nach einem Philosophie- und Kulturjournalismus-Studium bereits für die FAZ, die Süddeutsche Zeitung, die Zeit und andere renommierte Presseorgane gearbeitet hat, nun als stellvertretende Ressortleiterin im Feuilleton der Welt tätig ist und den ersten Roman im Verlagshaus Hanser veröffentlicht, verzweifelt nicht an den Möglichkeiten dieser Generation, sondern hat sie ergriffen.

Eine neue Autorin mit viel Potential
Ich bin selbst überrascht, dass ich dieses düstere Buch, durch das allerdings - wie durch die stilisierten Äste auf dem hervorragenden Cover - stellenweise Licht dringt, gerne gelesen haben. Dabei kenne ich eher zielstrebige 30-Jährige und hege eine Abneigung gegen sich permanent selbst bespiegelnde, nur fordernde, nie gebende Menschen wie Henriette. Es erging mir hier ähnlich wie beim Roman "Die Glücklichen" von Kristine Bilkau, wo ein Paar in Henriettes Alter, allerdings anderer Lebenssituation, ähnlich erstarrt und leer ist. Die „groteske Unbegrenztheit von allem“, die „Überzahl an Entscheidungen“ und die „Übermacht möglicher Abläufe“ (S. 83) erweist sich als potentieller Hemmschuh dieser Generation.

Hannah Lühmann ist definitiv eine literarische Entdeckung für mich, auf deren weitere Romane ich sehr gespannt bin. Auch wenn ich mich beim Thema ihres schmalen Debütromans lediglich als staunende Zuschauerin fühlte, mochte ich den Schreibstil sehr, die große Dichte, Präzision, Knappheit und Sensibilität.

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