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Veröffentlicht am 02.11.2021

Kann das wahr sein?

DAFUQ
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Anja sitzt im Arrest. Sie soll zu einer Demo aufgerufen haben, gegen die Korruption des russischen Systems, die Politik, Putin. Alle anderen durften nach Hause, sie fährt für zehn Tage ein. Dafuq?

Nicht ...

Anja sitzt im Arrest. Sie soll zu einer Demo aufgerufen haben, gegen die Korruption des russischen Systems, die Politik, Putin. Alle anderen durften nach Hause, sie fährt für zehn Tage ein. Dafuq?

Nicht die einzige Ungereimtheit, die sie in den nächsten Tagen erlebt. Die Berufung? Nur ein kleines Schauspektakel. Ihr Entlassungstermin? Willkürlich. Und dann sind da noch die Visionen, die Anja rund um ihre Mitbewohnerinnen erlebt. Immer nachts, immer beim Wegdämmern. Geht da alles mit rechten Dingen zu – in ihrer Zelle und im russischen System?

Kira Jarmysch zeichnet ein intensives, prickelndes und – vielleicht nicht nur für Westeuropäer – oft fassungsloses Bild russischer Frauen. Von der zahnlosen Natascha, die bereits im Straflager saß, der mit 25 Jahren schon zweifachen Witwe Diana, der alkoholkranken Irka, der glamourösen Maya und eben Anja, der Hauptfigur.

Von ihrem Alltag im Knast, den Gesprächen mit den männlichen Insassen, irgendwo zwischen Flirt und Belästigung, übergriffig auf jeden Fall. Von ihrem Politikstudium und ihrem Außenministerium, das auf der Couch eines Diplomaten endete, während in der Barentsee die Kursk versank. Von ihrer Dreiecksbeziehung mit Sascha und Sonja. Und ihrer Familie, Eltern geschieden, Vater neu verheiratet und völlig aus ihrer Welt entflohen, bis er sie im Arrest besucht.

Dafuq ist ein hochpolitisches Buch, natürlich, Jarmysch arbeitet für Alexej Nawalny, ja, genau, den Nawalny, aber auch ein großartiger Roman über das Erwachsenwerden, über das Leben und die Liebe. Und über starke Frauen, die jede ihre Rollen gefunden und akzeptiert haben, auch wenn das für die anderen Frauen unfassbar und rätselhaft erscheint. Ein Kleinod voller Dafuqs – absolut lesenswert.

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Veröffentlicht am 12.10.2021

Büdchenliebe

Das Karlgeheimnis
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Was ein Schlamassel. Die fiese Bertram, Emils Klassenlehrerin, hat sein supergeheimes Notizbuch einkassiert. Seine Mutter macht Überstunden an der Supermarktkasse. Ein neues Mädchen hat mit ihrer Vorwitzigkeit ...

Was ein Schlamassel. Die fiese Bertram, Emils Klassenlehrerin, hat sein supergeheimes Notizbuch einkassiert. Seine Mutter macht Überstunden an der Supermarktkasse. Ein neues Mädchen hat mit ihrer Vorwitzigkeit seine Krimiidee zunichte gemacht. Und jetzt ist auch noch Karl verschwunden – der Besitzer des Büdchens nahe Emils Wohnung und so eine Art väterlicher Freund seit, ja … seit.

Das Karlgeheimnis ist eine mal lustige, mal tieftraurige Kinderdetektivgeschichte. Emil ist mit seiner Mutter in eine neue Wohnung gezogen, seit sein Vater nicht mehr da ist. Warum deutet sich erst an und wird dann Realität, er ist nach langer Krankheit verstorben. So richtig viel Zeit und Gelegenheit zum gemeinsamen Trauern hatten Emil und seine Mutter nicht, eine Sache, die eine gewisse Melancholie in dieses Buch bringt, vielleicht aber auch nicht ganz ausgereizt, ganz rund abgeschlossen wird. Der einzige Kritikpunkt an Jutta Wilkes Geschichte.

Denn das Karlgeheimnis macht selbst erwachsenen Lesern richtig Spaß. Der kleine Emil will einen Krimi schreiben und findet sich plötzlich selbst in einem Kriminalfall wieder. Er beschreibt – ja, das Buch ist aus seiner Sicht geschrieben – all die Leute rund um Karls Büdchen mit einem charmanten Augenzwinkern, ob es die dicke Nachbarin mit ihrem Hund ist, Lotto-Werner mit seinem immergleichen Anzug oder die drei Jungs von der Müllabfuhr. Und Finja. Das neue Mädchen, das eigentlich gar nicht so neu im Viertel ist und Karl vom Büdchen schon länger kennt als Emil selbst.

Sie hilft Emil erst bei den kleineren – und für einen Jungen wie Emil schon groß genug gewordenen – Problemen, wie der Finanzierung der nahenden Klassenfahrt und dem einkassierten Notizbuch mit Emils Krimi. Und dann bei der Frage, wohin der gute Karl wohl verschwunden ist, was Darth Vader und eine Kisten Überraschungseier damit zu tun haben.

Eine charmante Detektivgeschichte in bester Erich Kästner-Manier, die nur manchmal einen Schritt hätte weitergehen können. Aber so bleibt auch Potenzial für mögliche Nachfolgebücher – denn die Geschichte von Emil und Finja ist sicher noch nicht auserzählt.

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Veröffentlicht am 12.10.2021

Das Glück der Erde

Arno und sein Pferd
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Arnos größtes Glück ist ein kleines Holzpferdchen. Doch plötzlich ist es verschwunden. Der kleine Junge erinnert sich, wohin er es überall mitgenommen hat und erlebt in seinen Gedanken den großen Sommer, ...

Arnos größtes Glück ist ein kleines Holzpferdchen. Doch plötzlich ist es verschwunden. Der kleine Junge erinnert sich, wohin er es überall mitgenommen hat und erlebt in seinen Gedanken den großen Sommer, der gerade hinter ihm liegt.

Lange Autofahrten durch das australische Outback. Planschen in einem Fluss. Abenteuer vom Ausguck des Baumhauses oder des Riesenbaums am Spielplatz. Doch das Pferdchen bleibt verschwunden.

Und so beginnt der zweite Teil des Buchs. Der die Herkunft des kleinen Tieres erzählt. Und die Geschichte von Arnos Opa. Einst ein starker Cowboy, später ein graugewordener Mann mit einem Messer und einem Stück Holz, aus dem ein Pferdchen werden sollte. Arnos Pferd. Das immer bei ihm bleiben sollte. Auch, als Arnos Opa endgültig weiterreiten musste.

Jane Godwin erzählt die Episoden aus Arnos Sommer und dem Leben seines Opas in kurzen, ruhigen Vierzeilern, die von Kathrin Köller ins Deutsche übersetzt wurden. Von der schönen gemeinsamen Zeit und von den Träumen, in den der Großvater nicht mehr traurig, krank, dement ist. Träume, in denen Arnos Opa noch lebt. Und die ihm helfen, das Glück dieser Erde, seiner Erde, wiederzufinden.

Viele eigene Erfahrungen der Autorin sind in das Kinderbuch, das von den schönen Erlebnissen der Kinder im Sommer und von der Trauer um einen nahen Verwandten handelt, eingeflossen. Von Kindern, die sie betreut hat. Von ihrem Cousin, der als Kind immer kleine Spielzeugautos mit auf Reisen genommen und dort verloren hat. Von ihrem Vater, der kurz zuvor verstorben ist.

Richtig intensiv wird die Geschichte durch den Illustrationsstil von Filicita Sala, der mit weichen Zeichnungen die farbenfrohe Natur Nordaustraliens einfängt, die Emotionen der Kinder mal deutlich zeigt und dann wieder in den Hintergrund rücken lässt und durch den Arnos Großvater wieder lebendig wird, bis er in die bunte dunkle Nacht hinausreitet.

Arno und sein Pferd ist ein großartiges Buch über vergangene Erlebnisse, das schon Kinder ab 3 Jahren hervorragend mitnimmt. Und das auch in der Traurigkeit über einen vergangenen Sommer und vor allem in der Trauer um einen geliebten Menschen das herausstellt, was wirklich zählt und den Kleinen hoffnungsvoll begreifbar macht: Die schönen, gemeinsamen Erinnerungen sind das wahre Glück der Erde.

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Veröffentlicht am 12.10.2021

Wissen und Nichtwissen

Das Glashotel
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Mysteriös liegt es da, das Glashotel in Caiette, einem kleinen Nest auf Vancouver Island, nur per Schnellboot erreichbar. Ein Refugium der Ruhe, zum Abschalten. Wenn da nicht diese Worte auf einer Glasscheibe ...

Mysteriös liegt es da, das Glashotel in Caiette, einem kleinen Nest auf Vancouver Island, nur per Schnellboot erreichbar. Ein Refugium der Ruhe, zum Abschalten. Wenn da nicht diese Worte auf einer Glasscheibe prangen würden: „Schlucken Sie doch Glassplitter.“

Worte, die bei der Belegschaft Bestürzung auslösen. Schnell wird der mögliche Täter ausgemacht. Paul, der Bruder von Barkeeperin Vincent, der erst seit kurzem im Hotel arbeitet. Er verschwindet am nächsten Morgen – und komplett aus Vincents Leben, die das Glashotel nur kurze Zeit später mit dem Hotelbesitzer und Investmentbanker Jonathan Alkaitis verlässt. Was hinter der Botschaft steckt? Das wird erst spät im Buch aufgelöst.

Das Glashotel ist ein überraschender Roman. Der Einstieg – kleine Erinnerungsfetzen, kurze Sätze – der Klappentext mit Fokus auf dieses Luxushotel im Nirgendwo, das lässt einen geheimnisvolle, tragische Familiengeschichte erahnen. Eigentlich aber ist es ein Buch über die Machenschaften von Bernard Madoff, der im Zuge der Finanzkrise 2008 zahlreiche Investoren in den finanziellen Ruin gerissen hat und in Emily St. John Mandels Roman von eben jenem Jonathan Alkaitis verkörpert wird. Und es ist eine Geschichte, in der alles, wirklich alles, eng miteinander verwoben ist. Und gleichzeitig auch geheimnisvoll und tragisch.

Emily St. John Mandel springt von Figur zu Figur, von Zeit zu Zeit. Sie nimmt sich letztere, um Personen vorzustellen, die dann für hunderte von Seiten in Vergessenheit geraten, um dann – zumindest zum Teil – doch wieder aufzutauchen. Sie spinnt eine Geschichte, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts und ins Jahr 2029 reicht. Sie zeigt das tragische Schicksal kleiner Anleger und großer Investoren, die in Alkaitis System eingezahlt haben, wissend oder nicht, was alles passieren kann. Und auch das seiner Familienangehörigen und seiner engsten Mitarbeiter, deren Leben auf den Kopf gestellt wird.

Manche Figuren, manche Schicksale, hätten vielleicht mehr Seiten verdient gehabt, nicht alle kleinen Geschichten wirken ganz zu Ende gebracht, wirken wie kleine Ausschnitte, Blitzlichter aus einem Leben, so wie die Fünf-Minuten-Videos, die Vincent im Laufe des Buches immer wieder aufnimmt. Aber Das Glashotel ist auch ein intensiver, brillant geschriebener Roman über das Wissen und Nichtwissen von Menschen, die Grenzen überschreiten und Grenzüberschreitung beobachten. Und über die vielen Schicksale, die Jonathan Alkaitis aka Bernard Madoff zu verantworten hat – ohne, dass das der Roman ein eintöniges Sachbuch über die Finanzkrise und Investmentbetrug ist.

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Veröffentlicht am 15.11.2023

Die liebe Verwandtschaft

Flitz und Fluse - Gespenster-Training leicht gemacht
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Eigentlich geht’s Familie Grausewitz blendend. Sie sind in neues altes Haus gezogen, das herrlich vermodert ist, ein kleines Geschwistergespenst ist im Anmarsch – aber leider auch Tante Twister aus dem ...

Eigentlich geht’s Familie Grausewitz blendend. Sie sind in neues altes Haus gezogen, das herrlich vermodert ist, ein kleines Geschwistergespenst ist im Anmarsch – aber leider auch Tante Twister aus dem fernen England. Sie möchte prüfen, ob die Kinder Flitz und Fluse echte Mac oh Schrecks sind – oder doch nach dem Vater kommen, in den Augen der Tante ein Waschlappen. Doch die Grausewitze bereiten sich gut auf den Besuch der alten Dame vor.

„Flitz und Fluse – Gespenster-Training leicht gemacht“ zielt auf eine ganz alltägliche Gruselgeschichte ab: Besuche der lieben Verwandtschaft. Für viele ein größerer Horror als Spinnen, Werwölfe oder eben Geister. Und da passt es ganz gut im Bild, dass der angekündigte Tantenbesuch Schweißperlen auf den Laken erkennen lässt, besonders beim Vater der Gespensterfamilie, der tatsächlich – wie alle vier Grausewitz-Geister – ein friedliebender und freundlicher Geist ist. Doch zusammen mit Onkel Polter bekommen Flitz und Fluse alle Tricks beigebracht, um Tante Twister einen gehörigen Schrecken einzujagen – und am Ende hilft ihnen der Mut, den nur Kinder haben und der auch anderen – echten – Kindern Mut macht.

Das kleine Gruselbuch von Annette Moser ist eine schöne Vorlesegeschichte für Kinder ab 4 Jahren mit tollen Illustrationen von Alex Peter. Einige Ideen sind besonders witzig, darunter Onkel Polters Wohnort – eine Hüpfburg. Und auch die Erkenntnis, wovor sich Gespenster (neben Besuchen der Verwandtschaft) so richtig gruseln, ist sehr charmant.

Negativ fällt dagegen das Bodyshaming in Bezug auf Onkel Polter und Papa Grausewitz auf – Dinge, die schon bei Gespenstern nicht ins Gewicht fallen, sollten Kindern nicht als Floh ins Ohr gesetzt werden. Das ist bedauerlich und macht den Lesespaß etwas kaputt, da es nicht nur an einer Stelle des Buchs vorkommt.

Alles in allem dennoch ein vergnügliches, manchmal etwas zu klamaukiges Vorlesebuch für die dunkle Jahreszeit, in der alles ein wenig gespenstischer wirkt und spätestens zu Weihnachten Besuche von Onkels und Tanten drohen.

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