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Veröffentlicht am 13.03.2022

Wilhelm Tell als Pageturner – ein ungewöhnliches Lesevergnügen

Tell
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Die Armbrust, der Apfel und ein Kopf, der nicht getroffen werden will – vielleicht sind dies die zentralen Bilder der Sage von Wilhelm Tell, die wohl vielen von uns sofort vor dem geistigen Auge stehen. ...

Die Armbrust, der Apfel und ein Kopf, der nicht getroffen werden will – vielleicht sind dies die zentralen Bilder der Sage von Wilhelm Tell, die wohl vielen von uns sofort vor dem geistigen Auge stehen. Möglicherweise ist es aber auch der Status als Schweizer Nationalheld, den Tell im Laufe der Jahrhunderte erlangen konnte. Und doch ist die Geschichte deutlich facettenreicher, hat mehr und vor allem mehr Details und Tiefe zu bieten – so ganz besonders in der Neuerzählung von Joachim B. Schmidt.
In kurzen Kapitel, erzählt aus den verschiedenen Perspektiven der einzelnen Figuren, nimmt Schmidt die Leserinnen und Leser mit auf einen rasanten Ritt durch das entbehrungsreiche Leben des Bergbauern, Sohnes, Vaters und Ehemanns Tell. Schlaglichtartig beleuchtet er dabei das Denken und Handeln aller Beteiligten, lässt diese – gleich eines vielstimmigen Chors – mit ihrer jeweils eigenen Stimme zu Wort kommen. Und deren Klang ist nicht nur eingebettet und ein Produkt ihrer Zeit, das authentisch und historisch zugleich anmutet, er ist auch den einzelnen Figuren individuell und ganz eigen und macht sie so lebendig und unverwechselbar für die Leserinnen und Leser.
Dass Tell dabei nicht als der erwartete Sympathieträger erscheint, sondern seinen Mitmenschen rauh, verschlossen und unzugänglich gegenübertritt, erstaunt dabei fast ebenso wie das hohe Tempo und die erfreuliche Dynamik und Lebendigkeit, mit welchem die Leserinnen und Leser durch die Handlung geführt werden. Das Ergebnis ist ein sowohl ungewöhnliches wie auch ungewöhnlich fesselndes Lesevergnügen, ein Pageturner und neues Lieblingsbuch für mich.
Jedoch, und das ist mir noch sehr wichtig: Literatur steht und wirbt für sich selbst – dieser wunderbare Roman ist hierfür das beste Beispiel und ein überzeugender Beweis! Der Vergleich der Erzählung mit einer Unterhaltungsserie eines großen Streamingportals ist daher aus meiner Sicht vollkommen überflüssig und mit Blick auf so einen großen Traditionsverlag wie Diogenes für mich auch sehr überraschend. Aber das ist natürlich meine ganz persönliche Meinung als große Freundin und Liebhaberin von guten Geschichten, begeisterte Leserin – und ja, nun auch glühende Anhängerin des neuen Wilhelm Tells.

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Veröffentlicht am 20.02.2022

Wenn das Darknet Dein Zuhause wird

Creep
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Der Rückzug in das Virtuelle und die Verweigerung eines Lebens in der Gesellschaft – in „Creep“ wird uns dieses Phänomen in unterschiedlichen Ausprägungen und auch Zuspitzungen präsentiert, und die Leserin ...

Der Rückzug in das Virtuelle und die Verweigerung eines Lebens in der Gesellschaft – in „Creep“ wird uns dieses Phänomen in unterschiedlichen Ausprägungen und auch Zuspitzungen präsentiert, und die Leserin und der Leser sollten dabei nicht zimperlich sein. Oder an der einen oder anderen Stelle zuvor gut gegessen haben.

Denn was soziale Isolation und das Fehlen von unmittelbarer Nähe, Wärme und Zuneigung mit der menschlichen Psyche machen und Folge wessen sie sein können, ist wohl nicht nur bei Philipp Winkler mehr als traurig. Doch hier wird es auch blutig.

Junya hat sein Dasein komplett in das Darknet verlegt, die Außenwelt in Form seiner Mutter nimmt er nur noch durch die geschlossene Zimmertür wahr. Verletzt, gekränkt und innerlich gebrochen verlässt er sein schützendes Zuhause nur für seine gelegentlichen Streifzüge durch das nächtliche Tokio, immer auf dem Weg zu seinem nächsten Opfer, für ihn selbst ein Täter seiner kindlichen Verletzungen. Wenn der schwere Holzhammer dann den Kopf seines ehemaligen Grundschullehrers zertrümmert, verschafft ihm dies Genugtuung und im Darknet jede Menge Aufmerksamkeit und Bewunderung.

Fanni dagegen führt zumindest nach außen ein Leben, das auf den ersten Blick nicht besonders oder auffällig erscheint. Als Mitarbeiterin des BELL-Konzerns verschafft sie dessen Kunden eine vermeintliche Sicherheit durch die Überwachung ihres Zuhauses. Und genau hier liegt der Knackpunkt: Ein eigenes soziales Umfeld besitzt Fanni nicht, und auch der Kontakt zu ihren Eltern ist mehr als schwierig und kühl. Eine Ersatzfamilie hat sie in den Naumanns gefunden, BELL-Kunden, an deren Leben sie passiv teilnimmt. Und damit scheint Fanni auch erstmal recht zufrieden zu sein.

Winklers Themen und Figuren entspringen dem Zeitgeist. Sie sind eindringlich, ungewöhnlich und extrem. Und ebenso erleben wir sie auch in „Creep“. Winkler gelingt es dabei, den Leser*innen nicht nur den einen oder anderen Schauer über den Rücken zu jagen, sondern sie auch in den Bann dieser beiden Leben am Rande der Gesellschaft zu ziehen – und zugleich mit überraschenden Wendungen und einem großen Finale zu begeistern.

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Veröffentlicht am 16.01.2022

Wie scharfe Pfeile, die in die Herzen treffen

Zusammenkunft
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Dicht, pointiert und grenzenlos klug – Natasha Brown hat mit „Zusammenkunft“ ein Kleinod und einen ganz besonderen Schatz erschaffen, der seinen Glanz und seine Einzigartigkeit von Seite zu Seite, von ...

Dicht, pointiert und grenzenlos klug – Natasha Brown hat mit „Zusammenkunft“ ein Kleinod und einen ganz besonderen Schatz erschaffen, der seinen Glanz und seine Einzigartigkeit von Seite zu Seite, von Gedankensplitter zu Absatz immer weiter enthüllt und leuchten lässt.
Das Leben im Londoner Finanzdistrikt fordert seinen Mitspielerinnen und -spielern so einiges ab, insbesondere, da die Zugangsvoraussetzungen und Spielregeln nicht für alle gleich sind. Die Ich-Erzählerin, eine schwarze Frau, geboren und aufgewachsen in England, wird getrieben und zerrissen: zum einen von dem als Zwang zu bezeichnenden Druck zum sozialen Ausstieg – mit all seinen Entbehrungen, Aufopferungen und in ihrer Rolle auch Erniedrigungen – und zum anderen von den Erwartungshaltungen der Gesellschaft und deren Sicht auf sie als eine, die nicht „dazugehöre“, die nicht erwünscht sei. „GO HOME“, wie es an mehreren Stellen der Erzählung heißt.
Die Bürde, Last und familiäre Festsetzung lassen keinen Raum für ein selbstbestimmtes Leben, für ein Verschnaufen im Aufstieg, ein Innehalten, möglicherweise auch eine Unterbrechung oder gar einen Stopp. „Arbeite doppelt so hart. Sei doppelt so gut. Und immer, pass dich an“ – Individualität, ein Andersseins, auch ein kulturelles Unterscheiden sind nicht nur hinderlich, sondern können Türen für immer verschließen. Das Erklimmen der beruflichen und gesellschaftlichen Karriereleiter kostet alle Kraft.
Die unerwartete Möglichkeit einer Alternative zu „überlebbar“ – dem bisher nie infrage gestellten Mantra, als Leitsatz des eigenen Lebens tief in ihr Fleisch eingeschrieben – bringt die Ich-Erzählerin zu einer Reflexion und kritischen Betrachtung des komplexen gesellschaftlichen Gefüges, in welchem sie agiert und gefangen ist, und zeichnet einen Ausweg aus der nie enden wollenden Mühsal, dem Kampf und dem Fremd- und Nicht-Erwünschtsein.
Wie Pfeile, die auf die Herzen der Leseinnen und Leser zielen, haben die unendlich klugen Gedanken, scharfen Beobachtungen und zugespitzten Ableitungen dieser Erzählung mich getroffen und mich blutend und auch schuldbewusst zurückgelassen. Veränderung durch Erkennen, Verstehen – „Zusammenkunft“ gehört in die Hände und Herzen so vieler Menschen!

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Veröffentlicht am 11.01.2022

Eine der bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit

Zum Paradies
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Reich an Worten, weit an Geschichten und voll von Lust und Qual – Hanya Yanagiharas neuer, lang ersehnter Roman ist so viel, so ungewöhnlich und so überwältigend, das er sich einer eindeutigen, klar abgrenzbaren ...

Reich an Worten, weit an Geschichten und voll von Lust und Qual – Hanya Yanagiharas neuer, lang ersehnter Roman ist so viel, so ungewöhnlich und so überwältigend, das er sich einer eindeutigen, klar abgrenzbaren Kategorisierung und Beschreibung entzieht. Was jedoch nach den knapp 900 Seiten außer Frage steht: Es ist ein Meisterwerk! Das in seiner Virtuosität sogar „Ein wenig Leben“ zu übertreffen vermag – soweit dies denn überhaupt machbar erscheint.
Drei Jahrhunderte mit ihren ganz eigenen und doch so verwandten Leben und Schicksalen geeint von dem Gefühl der grenzenlosen, alles verschlingenden und alles ermöglichenden Liebe und den Fragen: Was sind wir bereit, für eben diese Menschen auf uns zu nehmen? Welche Gefahren, welches Leid erdulden wir, um unsere Liebe, um unser gemeinsames Leben zu schützen?
Die Antworten, die Hanya Yanagihara den Leserinnen hierauf präsentiert, werden uns nicht immer gefallen – und nicht nur das: Auch wir müssen Leid erdulden, auch wir müssen den Pfad der Katharsis gehen, um einen Ausweg aus der Enge, Beklemmung und auch Bedrohung der einzelnen Lebensentwürfe zu erfahren, uns einer Lösung des schier Unlösbaren anzunähern.
Am Ende der fulminanten Erzählung steht bei mir vor allem Erschöpfung. Und ein Überborden an Gefühlen, Gedanken und Ideen, die zum Teil noch nicht gedacht, noch in der Entwicklung, im Prozess des Reifens sind. In welchem Punkte ich mir aber schon heute sicher bin: Mit Hanya Yanagihara spricht eine der bedeutendsten Erzähler
innen unserer Zeit zu uns, eine Stimme, die unverwechselbar ist und nicht nur in der zeitgenössischen Literatur ihresgleichen sucht.

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Veröffentlicht am 19.12.2021

Dem Rätsel auf der Spur: Die hochspannende Jagd geht weiter!

Red Sky Burning (Bd. 2)
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„Dark Blue Rising“ gehörte schon zu einem meiner Highlights in diesem Jahr, und umso sehnsüchtiger und voller Vorfreude habe ich auf die Fortsetzung gewartet. Und siehe da: Ich wurde nicht enttäuscht – ...

„Dark Blue Rising“ gehörte schon zu einem meiner Highlights in diesem Jahr, und umso sehnsüchtiger und voller Vorfreude habe ich auf die Fortsetzung gewartet. Und siehe da: Ich wurde nicht enttäuscht – ganz im Gegenteil!
Auch „Red Sky Burning“ hat eine gewaltige Sogwirkung auf mich entfaltet, mit welcher mich die Geschichte sofort und immer tiefer in ihren Bann gezogen hat. Wie groß war da doch meine Überraschung, nicht wie erwartet Tabby sondern zuerst einmal Denzi wiederzutreffen. Die Autorin hat ihn als eine interessante, da vielschichtige Figur angelegt, und die neben einer eigenen spannenden Geschichte zugleich verdeutlicht, dass Tabby mit ihrem Schicksal und all dem Unerklärlichen in ihrem Leben nicht allein sondern Teil eines großen Ganzen ist.
Bei aller Sympathie und Faszination für Denzi und sein Bemühen, Puzzlestein für Puzzlestein ausfindig zu machen und aneinanderzusetzen, so habe ich mich aber doch gefreut, im weiteren Verlauf der Geschichte Tabby wiederzutreffen. Tabbys Flucht und ihr Schicksal haben mich schon die vergangenen Monate immer mal wieder gedanklich beschäftigt, und nun zu mitzuerleben, wie ihre weiteren Schritte sind und sie bei aller Gefahr und Risiken um Aufklärung des großen Rätsels ringt, war wieder eine äußerst spannende, da raffiniert konstruierte Schnitzeljagd.
Je mehr ich als Leserin dabei über Tabbys und Denzis eigene Geschichte und damit über den geheimnisvollen Kreis und seine Mitglieder erfahren habe, umso mehr tappe ich bezüglich dessen Ursprungs, Vorgehens und seiner Motive im Dunkeln. Oder anders ausgedrückt: Es bleibt hochspannend!
Und so wie ich auch schon den ersten Band nur widerstrebend nach der letzten Seite aus der Hand gelegt habe, so fiebere ich auch jetzt schon dem großen Finale dieser sehr gelungenen Trilogie entgegen. Meine Vermutung: Wie bei einem Tauchgang in unbekannte Tiefen werden das Rätselhafte und dessen Enthüllung und Aufklärung uns Leser*innen den Atem rauben.

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