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Veröffentlicht am 05.07.2022

Gestohlene Kindheit

Brunnenstraße
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Günther Sawatzki ist ein erfolgreicher Journalist und viel in der Welt herumgekommen. Der ist ein charmanter Frauenschwarm und als seine Ehefrau stirbt, heiratet er seine langjährige Geliebte. Sie zieht ...

Günther Sawatzki ist ein erfolgreicher Journalist und viel in der Welt herumgekommen. Der ist ein charmanter Frauenschwarm und als seine Ehefrau stirbt, heiratet er seine langjährige Geliebte. Sie zieht aus dem ländlichen Süddeutschland zu ihm und bringt die gemeinsame achtjährige Tochter Andrea mit. Die glückliche und sorgenfreie Zukunft, die sich Mutter und Tochter erhoffen, stellt sich jedoch nicht ein. Der Vater leidet an Demenz und schon bald reiben sich Andrea und ihre Mutter mit der Betreuung auf.

Gnadenlos ehrlich beschreibt die Autorin ihren Alltag zwischen dem Vater, der sie nicht mehr erkennt und der Mutter, die sie kaum noch sieht. Die kleinen Szenen, die Sawatzki aneinanderreiht, machen betroffen und offenbaren das Bild einer gestohlenen Kindheit. Sie zeigen das höchst anstrengende Leben mit einer demenzkranken Person, das die Betreuenden an den Rand der physischen und psychischen Erschöpfung bringt, das Vereinsamen und die Hilflosigkeit.

Hin und her gerissen zwischen der Liebe, nach der sich Andrea sehnt und der Bitterkeit, die sie oft empfindet, vergehen Jahre und zuletzt hofft sie nur noch auf das Ende dieser unfassbar belastenden Situation.

Ich habe das Buch mit 168 Seiten in einem Rutsch gelesen und war sehr bestürzt, was Mutter und Tochter ausgehalten haben bzw. aushalten mussten und was dieses Ausgeliefertsein an die Situation mit dem kleinen Mädchen in den 1970er Jahren gemacht hat. So offen über die eigene Kindheit und die eigenen zwiespältigen Gefühle zu schreiben, das erfordert Mut.

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Veröffentlicht am 25.06.2022

Jeder hat sein Päckchen zu tragen

Der Distelfink
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Theo Decker hat ein ziemlich großes Päckchen zu tragen. Er verliert seine Mutter, die der Mittelpunkt seines Lebens war, seine Trauer ist unvorstellbar. Sein Vater ist verschwunden, die Großeltern wollen ...

Theo Decker hat ein ziemlich großes Päckchen zu tragen. Er verliert seine Mutter, die der Mittelpunkt seines Lebens war, seine Trauer ist unvorstellbar. Sein Vater ist verschwunden, die Großeltern wollen ihn nicht ... Sein Trost ist "Der Distelfink", ein kleines Bild, das durch einen schrecklichen Zufall in seinen Besitz gelangt und ihn begleiten wird, bis er sich selbst und sein Schicksal annehmen kann.

Was für eine Geschichte. Donna Tartt breitet das Leben des kleinen Theo (als die Handlung beginnt, ist er dreizehn Jahre alt) aus, wie einen nicht enden wollenden Faltplan. Mit unglaublicher Detailgenauigkeit beschreibt sie die äußeren und inneren Eindrücke, die Theo zu schaffen machen. Seine Lebensfreude, immer wenn er Pippa trifft, seine tief verzweifelten und depressiven Gedanken über den Sinn des Lebens. Das tut manchmal richtig weh. Jede Station, die Theo auf seinem Weg anläuft, wird mit so viel Hingabe beschrieben, dass man sie jedes Mal ungern wieder verläßt, um sich mit Theo wieder auf den Weg zu machen. Die wunderbaren Charakter und Schauplätze konnte ich mir alle so bildhaft vorstellen, wie in einem Film. Die Einbindung des Distelfink-Bildes, die Todesumstände des Künstlers und der Mutter von Theo, das war schon eine grandiose Verflechtung.

Mich hat die Geschichte wahnsinnig gefesselt. Die Entwicklung, die Theo durchmacht, sein Abrutschen in die eine und dann noch in die andere Richtung, sind so tragisch und doch auch nachvollziehbar.

Die Jugendgeschichte hat mir jedoch besser gefallen, als der zweite Teil der Handlung und der letzte Abschnitt, der in den Niederlanden spielt, war mir etwas zu wirr und philosophisch. Leider ging mir Boris auch zunehmend auf die Nerven. Dennoch ist das Buch - trotz der 1.024 Seiten - eine echte Leseempfehlung.

Mich hat es ein wenig an Gottfried Kellers "Der grüne Heinrich" erinnert.

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Veröffentlicht am 11.06.2022

Feuer und Wasser

Heimkehren
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Nur durch ein paar Steine sind sie von einander getrennt und doch leben sie völlig unterschiedliche Leben: Effia, die einen englischen Offizier heiratet und in der Festung Cape Coast lebt und ihre Halbschwester ...

Nur durch ein paar Steine sind sie von einander getrennt und doch leben sie völlig unterschiedliche Leben: Effia, die einen englischen Offizier heiratet und in der Festung Cape Coast lebt und ihre Halbschwester Esi, die im Festungskerker sitzt und als Sklavin verkauft wird. Mit diesen beiden afrikanischen Frauen beginnt die Familiengeschichte, die sich über sechs Generationen zieht und die Entwicklung der beiden Familienteile nachzeichnet.

Die Autorin hat mit ihrem Debüt eine faszinierende, grausame und doch wunderbar zu lesende Geschichte geschrieben. Dabei wird abwechselnd über die Familienzweige geschrieben, immer steht eine Person der nächsten Generation im Fokus. Obwohl es jeweils nur kleine Abschnitt im Leben dieser Charaktere sind, ist der Roman absolut rund und es blättert sich eine vielschichtige Familiensaga heraus, in der die Sklaverei und ihre Folgen im Zentrum stehen. Dabei geht es in Afrika nicht weniger schrecklich zu, als in Nordamerika.

Das Kapitel über "H", der in den Kohleminen schuften muss, ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Die Willkür, mit der Menschen verhaftet und bestraft wurden, das erinnert alles auf schreckliche Art und Weise an aktuelle Diskussionen über das Verhalten gegenüber Schwarzen in den USA. Die Autorin sagte selbst in einem Interview, dass die Folgen der Sklaverei noch lange nicht überwunden seien.

Ein lesenswerter Roman, der vor allem durch die parallele Erzählweise beeindruckt und diverse Aspekte der Sklaverei auf beiden Kontinenten schonungslos darstellt.

Der Familienstammbaum an Ende des Buches ist aber wegen der vielen Namen und Generationen unverzichtbar. Ich habe mir eine Kopie gezogen und darauf Notizen gemacht, das hat sehr geholfen, den Überblick zu behalten.

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Veröffentlicht am 13.05.2022

Das Buch als Langstreckenläufer

Papyrus
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Die wenigsten von uns haben sich in der Schule mit Feuereifer in die griechische und römische Antike verbissen, oder? Vielleicht hätten wir Irene Vallejo gebraucht, um uns für diese Zeit zu begeistern, ...

Die wenigsten von uns haben sich in der Schule mit Feuereifer in die griechische und römische Antike verbissen, oder? Vielleicht hätten wir Irene Vallejo gebraucht, um uns für diese Zeit zu begeistern, denn begeistert ist sie von dieser Epoche, das merkt man diesem Buch an.

Durch die Literatur wird uns eine andere Perspektive auf die Welt (nicht nur der Antike) aufgezeigt. Das Buch ist ein Ritt durch alle Facetten, die mit Büchern in Berührung kommen, zunächst in der griechischen Kultur (Teil 1), dann in der römischen (Teil2), die auf der griechischen aufbaut bzw. sich viel von dieser abgeschaut hat.

Da geht es um die Bücherjäger, die auf der Suche nach jedem Buch der bekannten Welt sind, um die große Bibliothek von Alexandria zu bestücken. Die Schwierigkeiten des Übersetzens, zumal, wenn eine Sprache bereits ausgestorben ist. Der Übergang vom Papyrus zum Pergament und vom überwiegend lauten Lesen zum vereinzelten, stillen Lesen. Vallejo berichtet über den Beginn des Alphabetes und welchen Umbruch es bracht, dass Dinge nicht mehr nur durch das Gedächtnis bewahrt werden mussten, sondern quasi extern gelagert und wieder abgerufen werden konnten. Es geht um Bibliotheken und ihre Bibliothekare und Bibliothekarinnen, um die Systeme der Lagerung und das Katalogisieren von Büchern, das Vernichten von Büchern, um das Theater, Buchhändler und schließlich den Begriff "literarischer Kanon". Als mit dem Untergang des römischen Reiches auch dessen schriftliche Hinterlassenschaften schrumpften und zerstört wurden, überlebte die Antike quasi nur durch Bücher, die in Klöstern vorhanden waren und dort wieder von Hand kopiert wurden. Erst mit dem Aufkommen der abendländischen Universitäten setzt der Durst nach den "Klassikern" wieder ein und erneut sind Bücherjäger unterwegs. Damit schließt sich der Kreis.

Was das Buch so interessant macht, sind die unglaublich zahlreichen Nebeninformationen und Querverweise auf andere Werke, besonders auf moderne Literatur und vor allem auch Kinofilme! Die Autorin hat ein unglaublich breit gestreutes Wissen und wenn sie von den antiken Universalgelehrten schreibt, meint man, in ihr selbst eine solche vor sich zu haben.

Die vielen kleinen Aha-Momente machen Spaß, einiges wußte ich bereits, hatte aber auch vieles wieder vergessen oder schlicht noch nie gelesen. So macht Vallejo nebenbei z.B. auf besondere Berufsgruppen aufmerksam, die "Filmerklärer" (S. 168f.) der Stummfilmära oder die reitenden Bibliothekarinnen von Kentucky (S. 657f.). Gefreut habe ich mich, einen meiner Lieblingsfilme zitiert zu finden: Ist das Leben nicht schön? (S. 251) Was könnte dieser Weihnachtsfilm mit dem Thema Buch zu tun haben? Es wird an dieser Stelle nicht verraten.

Insgesamt sind die 663 Seiten Text eine unglaublich interessante und spannende Lektüre. Ich habe Seite für Seite gelesen und nicht nur quer. Dabei gibt es aber auch ein paar Längen, denn unweigerlich kommt es zu Wiederholungen, wenn immer wieder mit einem (weiteren) Themenaspekt von vorne begonnen wird. Die Autorin tritt übrigens häufig aus dem Text hervor und bringt eigene Erlebnisse ein, das ist allemal unterhaltsam und lesenswert, streckt das Werk aber auch.

Wer sich lediglich nüchternes Fachwissen aneignen möchte, dem kann ich das Buch nicht empfehlen. Dies ist ein Werk, das unterhält und Freude an Büchern und ihrer Welt, an antiken Autor:innen und antiker Geschichte auf jeder Seite vermittelt. Ein wahrer Schatz für Schmökerfans. Was ich mir gewünscht hätte, wären Abbildungen gewesen, die hätten den über 600 Seiten (kleingedruckter Schrift) ganz gut getan, um die Augen gelegentlich etwas zu entlasten. Abgerundet wird das Buch durch ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister.

Noch kurz zur Optik: Der Schutzumschlag ist großartig gelungen, schlicht und mit der Goldprägung doch wertvoll. Das Buch hat sich über Jahrtausende behauptet und wird es auch weiterhin tun, davon ist die Autorin überzeugt - ein echter Langstreckenläufer.

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Veröffentlicht am 14.04.2022

Menschliche und tierische Urgewalt

Wo die Wölfe sind
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Warum sollte sich die Umwelt renaturieren lassen, nur weil wieder Wölfe angesiedelt werden? Inti Flynn und ihr Team haben im schottischen Hochland mit ihrem Wolfsprojekt keinen guten Stand bei den Einheimischen. ...

Warum sollte sich die Umwelt renaturieren lassen, nur weil wieder Wölfe angesiedelt werden? Inti Flynn und ihr Team haben im schottischen Hochland mit ihrem Wolfsprojekt keinen guten Stand bei den Einheimischen. Von argwöhnisch bis aggressiv reichen die Reaktionen der Farmer und das Team fürchtet um jeden einzelnen Wolf, der ausgewildert wird. Intis ruppige Art, ihr Misstrauen gegenüber den Menschen im allgemeinen und ihre unterdrückte Sympathie für den Polizeichef machen die Arbeit nicht einfacher. Als einer der größten Widersacher des Projektes spurlos verschwindet, richtet sich der Verdacht sofort gegen die Wölfe. Zu Recht?

Es ist schon viel über das Buch geschrieben worden. Neben den wirklich interessanten und erschütternden Umweltaspekten, ist die Schilderung der Mirror-Touch-Synästhesie, unter der Inti leidet (einer sehr stark ausgeprägten emotionalen Empathie), ein absolut spannendes Feld. Diese Empathie geht so weit, dass die Protagonistin körperlich fühlt, was sie an ihrem Gegenüber beobachtet; von einfachen Berührungen bis zur Schmerzen, dabei ist es unerheblich, ob das Gegenüber ein Mensch oder ein Tier ist. Das macht ihre Arbeit mit Wölfen so besonders.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Es hat mich an manchen Stellen erschüttert, sehr stark berührt und zu Tränen gerührt. Allerdings gab es auch einige Szenen, die sich gezogen haben. Der Autorin wird eine große Sprachgewalt zugesprochen und dem kann ich nur zustimmen. Als Leser:in wird man völlig in die Geschichte eingesogen und klebt an den Figuren. "Zugvögel" habe ich nicht gelesen und kann daher keinen Vergleich anstellen. "Wo die Wölfe sind" kann ich aber absolut empfehlen, allerdings werden wieder einmal menschliche Abgründe aufgezeigt, die sich so aus dem Klappentext nicht ableiten lassen. Ein Roman, der zum Nachdenken anregt, über die Natur, die Tiere und die Menschen.

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