Profilbild von Anna625

Anna625

Lesejury Star
offline

Anna625 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Anna625 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 23.03.2024

Eine Suche

ruh
0

Eigentlich heißt "ruh" Seele, aber die Assoziation "Ruhe" passt genauso gut zu diesem Roman. Nicht, weil nichts passiert oder es langweilig wäre, im Gegenteil, Cemals Leben und sein ganzes Inneres sind ...

Eigentlich heißt "ruh" Seele, aber die Assoziation "Ruhe" passt genauso gut zu diesem Roman. Nicht, weil nichts passiert oder es langweilig wäre, im Gegenteil, Cemals Leben und sein ganzes Inneres sind von Unruhe und Rastlosigkeit geprägt. Trotzdem erfasst einen beim Lesen diese typische Ruhe, die einen in die Geschichte eintauchen und alles rundherum vergessen lässt.

Die ersten 8 Lebensjahre ist Cemal bei seinen Großeltern in einem kleinen Dorf in der Südtürkei aufgewachsen. Dann plötzlich der Umzug nach Deutschland, eine neue Sprache, neue Kultur, seine eigene Familie, die ihm fremd ist. Heute ist Cemal Ende 30 und unterrichtet Deutsch an einer Grundschule, seine kleine Tochter Ekin ist alles für ihn. Er arrangiert sein Leben zwischen ihr und Georg, mit dem er seit einer Weile eine Affäre hat. Doch nun will Georg die nächsten Schritte gehen, und Cemal hat Angst davor, ihn in sein Leben mit Ekin zu lassen. Außerdem träumt er seit kurzem von seiner verstorbenen Urgroßmutter Süveyde, die er nie gekannt hat und die ihm nach und nach die Welt ihrer Jugend zeigt und ihn mitnimmt an all die Orte, die ihm aus seiner eigenen Kindheit noch so vertraut sind. Neben dem manchmal mehr und manchmal weniger unterschwelligen Rassismus sind nun auch die Träume Süveydes Teil von Cemals Alltag, in dem er versucht, endlich einen Weg hinaus aus seiner anerzogenen Sprachlosigkeit zu finden. Die Suche nach seinen Wurzeln und nach Beständigkeit und gleichzeitig die Angst und Unfähigkeit, irgendwo länger zu verharren, sind Dinge, die Cemal umtreiben.

Der Roman reißt mit. Die recht kurzen Kapitel, die dazu verleiten, ständig "nur noch eins!" mehr zu lesen, die Sprache, die Thematik, all das packt und man bekommt kaum mit, in welcher Geschwindigkeit man durch die Seiten fliegt. Cemals Geschichte macht wütend und frustriert, ist aber zugleich von riesiger Verletzlichkeit und Zartheit geprägt. Eine große Leseempfehlung für diesen schönen, feinfühligen Roman!

Veröffentlicht am 01.12.2023

Trubel im kleinsten Staat des Deutschen Reiches

Unsereins
0


Die "Buddenbrooks" mal aus einer ganz anderen Perspektive betrachten - das ermöglicht Mahlke in ihrem Roman, der zwischen 1890 und 1906 in Lübeck (im Roman stets nur als "der kleinste Staat des Deutschen ...


Die "Buddenbrooks" mal aus einer ganz anderen Perspektive betrachten - das ermöglicht Mahlke in ihrem Roman, der zwischen 1890 und 1906 in Lübeck (im Roman stets nur als "der kleinste Staat des Deutschen Reiches" bezeichnet) angesiedelt ist, Entstehungszeit und -ort von Manns Roman. Und, ja, auch er selbst wird porträtiert, tritt auf als Tommy "der Pfau" Mann, vielversprechender Schüler, beobachtet durch die Augen seines Mitschülers Georg. Dieser wiederum kann nicht verstehen, was an der Zukunft als Kaufmann so toll sein soll, und fühlt sich selbst kaum aufgenommen in dieser für ihn neuen Stadt.

Doch Mahlkes Roman bietet viel mehr als nur die Nacherzählung eines Klassikers von der anderen Seite, denn es herrscht geschäftiges Treiben im kleinsten Staat des Deutschen Reiches; jede*r hat hier etwas zu erzählen. Da wären zum einen zwei Familien, die Schillings und die kinderreichen Lindhorsts, zum anderen deren Bedienstete und Bekannte; nicht immer ist es leicht, zwischen all diesen Namen und Perspektiven die Orientierung zu behalten, wobei einige - etwa Ratsdiener Isenhagen - für mich auch deutlich herausgestochen haben.

Es ist ein komplexes Sittenbild, das Panorama einer Stadt, das Mahlke hier in ihrem Roman zeichnet. Persönliche Sorgen stehen neben familiären Uneinigkeiten und politischen Wendungen, Schüler neben Senatoren und Hausmädchen (und Bäckermeister Bannow, der gar kein Bäcker ist). Und obwohl es da so viel zu entdecken gibt in Mahlkes Worten, ist stets auch all das besonders präsent, was nicht explizit erzählt wird, was nur zwischen den Zeilen steht oder sich hinter dem ungezwungen mitschwingenden, lockeren Humor verbirgt.
Vieles erschließt sich erst im Nachhinein, und man braucht ein gewisses Durchhaltevermögen, um hier dranzubleiben; beziehungsweise eher den Willen, das Geflecht an Figuren und Handlungen zu durchdringen, denn "durchhalten" ist eigentlich das falsche Wort - dafür liest sich der Roman viel zu spannend. Aber aufmerksam lesen sollte man schon, wenn man die Feinheiten der zwischenmenschlichen Beziehungen und politischen Anspielungen mitbekommen möchte, die Mahlke in ihrem Roman versteckt.

"Unsereins" ist für mich ein Roman, der wirklich Spaß macht. Ja, er ist komplex und manchmal auch etwas verwirrend durch die vielen Figuren und Perspektiven. Aber ich mag Romane, in denen auf diese Weise viel los ist, in denen man plötzlich zu einer anderen Figur springt und sich denkt "Ah, die wieder!" und dann gespannt darauf ist, wie der entsprechende Handlungsstrang weitergeht, bevor man dann zur nächsten springt. Natürlich mag man dabei immer die ein oder andere Figur etwas mehr oder weniger, aber für mich ist es das Gesamtbild, das sich daraus ergibt, das das große Ganze ausmacht.
"Unsereins" ist ein Roman, der sich beim Lesen sehr lebendig anfühlt, in dem immer etwas los ist und der die unterschiedlichen Figuren durch alle Gemütslagen begleitet (und dabei auch nicht an Tiefe vermissen lässt). Auch, wenn sich am Ende nicht alles klärt, ist der Roman für mich vollständig und ich habe sehr unterhaltsame Lesestunden damit verbracht. Mag ich!

Veröffentlicht am 17.11.2023

Unterhaltsam

Florence Butterfield und die Nachtschwalbe
0

In letzter Zeit war einiges los in Babbington Hall, der in einem alten Herrenhaus gelegenen Seniorenresidenz. Ein Todesfall im Garten und ein Sturz aus dem Fenster in einer Gewitternacht - nicht unbedingt ...

In letzter Zeit war einiges los in Babbington Hall, der in einem alten Herrenhaus gelegenen Seniorenresidenz. Ein Todesfall im Garten und ein Sturz aus dem Fenster in einer Gewitternacht - nicht unbedingt alltäglich an einem Ort, an dem die Menschen normalerweise eher an Altersschwäche sterben. Zumal es sich bei der vermeintlichen Fenster-Springerin um Heimleiterin Renata handelt, die zwar sehr zurückgezogen lebt und stets etwas melancholisch wirkt, kurz zuvor jedoch noch begeistert Pläne für die Zukunft geschmiedet hat. Während die einen also bei Kaffee, Kuchen, Klatsch und Tratsch zusammensitzen und die anderen ihre Nachmittage im Mahjong-Club verbringen, beginnt die 87-jährige Florence Butterfield, eigene Nachforschungen anzustellen. Denn dass hinter dem Sturz ein Suizidveruch steckt, wie alle annehmen, können Florrie und ihr Freund Stanhope Jones nicht glauben.

Unterhaltsam und humorvoll, dabei aber nie anstrengend erzählt, ist "Florence Butterfield" ein toller Roman für ein paar gemütliche Lesestunden. Die teils exzentrischen Bewohner der Residenz und die blumenreichen Gärten des Anwesens hat man beim Lesen stets vor Augen, und zwischen alledem Florrie, die sich trotz der Irrungen und Wirrungen ihres langen Lebens nicht damit zufriedengibt, teetrinkend in der Sonne zu sitzen und ihren Lebensabend zu genießen. Stattdessen versucht sie, die Umstände des Sturzes zu ergründen, und erinnert sich dabei immer öfter an ihr eigenes Leben zurück, an all die Abenteuer, an die Männer, die sie geliebt hat, auch an die dunklen, fast unaussprechlichen Dinge.

"Florence Butterfield" ist ein herzerwärmender Roman, zwar mit ein paar Längen, dafür aber mit unglaublich gemütlicher Atmosphäre, und genau richtig für graue Regentage.

Veröffentlicht am 29.09.2023

Digital Detox bis zur Obsession

Zeiten der Langeweile
0

Mila geht offline. Und zwar nicht nur kurz, sondern so richtig: Nach und nach löscht sie alle Informationen, die über sie je im Internet zu finden waren, und kehrt auch Social Media den Rücken. Einzig ...

Mila geht offline. Und zwar nicht nur kurz, sondern so richtig: Nach und nach löscht sie alle Informationen, die über sie je im Internet zu finden waren, und kehrt auch Social Media den Rücken. Einzig eine Messenger-App nutzt sie weiter als Desktop-Anwendung, allerdings nur für ein kurzes Zeitfenster pro Tag, und auch SMS sind noch erlaubt; von Instagram, Twitter, selbst von Google-Suchen und dem Smartphone als solchem verabschiedet sie sich jedoch vollkommen. Auch auf Fotos und Video-Aufnahmen will sie fortan nicht mehr zu sehen sein, was nicht nur gesellige Abenden mit Freundinnen, sondern auch das Vors-Haus-Gehen im Allgemeinen merklich erschwert. Teil ihrer Planung ist nun immer die Überlegung, zu welcher Tageszeit ein bestimmter Ort am sichersten ist, sprich, wann dort möglichst wenige Menschen anzutreffen sind, da mit der Personenanzahl auch die Gefahr steigt, dass irgendjemand mit dem Handy Aufnahmen macht, auf denen sie absichtlich oder unabsichtlich zu sehen sein könnte.
Was harmlos beginnt und von ihrem Bekanntenkreis zunächst noch recht positiv als Detox-Maßnahme aufgenommen und unterstützt wird, entwickelt sich erschreckend schnell zur Obsession. Die Wohnung verlassen kann Mila quasi nur noch nachts, sämtliche elektronischen Geräte sind eine Gefahr. Der Kontakt zu anderen Menschen geht gegen Null.

Bald schon erinnert Mila in ihrem Verhalten und ihren Ansichten immer mehr an eine Verschwörungstheoretikerin. Kurios auch die Annähreung an ihren Bruder, der seinerseits bei Oma A. auf dem Land lebt und eingefleischter Corona-Leugner und Impfgegner ist - zwar kritisiert Mila sein Verhalten zu Beginn, die Vehemenz hinter ihrer Ablehnung lässt jedoch im Laufe der Zeit spürbar nach und sie entwickelt eine ganz eigene und auf vollkommen andere Weise radikale Sichtweise und Systemkritik.

So unverständlich einige von Milas Ansichten und Verhaltensweisen sind, so nachvollziehbar sind doch manch andere - phasenweise wird man auch als Leser
in des Romans durchaus etwas paranoid, was technische Geräte anbelangt. Die dramaturgische Gestaltung des Romans hat mir ausgesprochen gut gefallen, denn ja, es gibt einige Längen und irgendwann wiederholt sich alles für eine gewisse Zeit, aber das veranschaulicht auch extrem gut den Alltag Milas, indem einfach nichts mehr passiert. Erst beim vollständigen Verzicht auf Social Media und das Internet wird deutlich, wie groß die Bedeutung derselben in unserem Alltag geworden ist, und wie wenig da noch bleibt, wenn man nicht mal gerade etwas googeln, Musik hören oder mit irgendwem auf irgendeiner Plattform kommunizieren kann. Denn sind wir mal ehrlich, so ist es doch. Man möchte sich unterhalten? Schnell jemandem schreiben. Etwas mitteilen? Ein Post. Unterhaltung? Netflix, Spotify und Co. Etwas kaufen? Tausend Möglichkeiten. Eine Information? Google, die Wetter-App, der Onlinefahrplan. Etwas zu Essen bestellen oder irgendeine Eintrittskarte besorgen? Alles schnell per App. Die Uhrzeit? Blick auf Smartphone oder Smartwatch. Und wenn das alles wegfällt, wenn wir plötzlich analog sind, also so richtig, was bleibt dann noch übrig? Kein Wunder also, dass bei Mila schon bald nichts mehr los ist. Beim Lesen ist das vielleicth etwas langweilig, aber absolut passend und sehr realistisch und nachvollziehbar. Und darauf, dass Jenifer Beckers Roman topaktuell und am Puls der Zeit ist, muss wohl nicht weiter eingegangen werden.

Ich habe "Zeiten der Langeweile" mit einigen kleineren Abzügen sehr gerne gelesen und empfehle es gerne weiter.

Veröffentlicht am 30.10.2022

Kolonialgeschichte meets Feminismus

Die Meerjungfrau von Black Conch
0

Als David im Jahr 1976 in seinem Fischerboot vor der Küste der karibischen Insel Black Conch sitzt und plötzlich eine Meerfrau aus den Wellen auftaucht, um seinem Gitarrenspiel zu lauschen, kann er seinen ...

Als David im Jahr 1976 in seinem Fischerboot vor der Küste der karibischen Insel Black Conch sitzt und plötzlich eine Meerfrau aus den Wellen auftaucht, um seinem Gitarrenspiel zu lauschen, kann er seinen Augen zunächst kaum glauben. Dass es Wassermänner gibt, davon erzählen die alten Legenden und Sagen; aber Meerfrauen? In den folgenden Wochen und Monaten entspinnt sich eine zarte Freundschaft zwischen den beiden, doch dann findet in der Gegend ein großer Angelwettbewerb statt und Aycayia, die Meerfrau, vor Jahrhunderten von den Frauen ihres Dorfes verflucht und seitdem zu einem Leben halb als Mensch, halb als Fisch verdammt, gerät zwei Amerikanern an den Haken. Und sie, die seit Urzeiten Gefangene, wird machtlos von einer Knechtschaft in die nächste gezwungen.

Roh, holprig, dialektal geprägt, das ist die Sprache des Romans. Angelehnt an den Slang der Einheimischen ist der Schreibstil gerade anfangs eine Herausforderung für sich, stoßen sich die ständigen Wortwiederholungen und ungewohnten Begrifflichkeiten teilweise doch sehr mit unserer Standardsprache. Und doch trägt diese Übersetzung der dialektalen Sprache, so irritierend sie manchmal sein mag, wesentlich zur Atmosphäre des Romans bei und unterstreicht wie nebenbei die lange Liste an Kontrasten, die Monique Roffey in ihrem Roman aufzeigt. Denn der Roman ist ein ständiges Spiel der Gegensätze: Frau und Fisch (Mensch und Tier), Black-Conch-Englisch und Standardenglisch, das indigene Volk der Taíno und die Kolonialisten, Eingeborene und US-Touristen, Mythen und Realität. Und inmitten alldessen Aycayia, die einst ob ihrer Schönheit und verführenden Wirkung auf Männer von Frauen verflucht wurde, nur so den Grausamkeiten der Kolonialmächte entkam und sich nun, Jahrhunderte später, in der Badewanne eines Fischers wiederfindet.

Ihre Geschichte ist die einer jungen Frau auf der Suche nach Selbstbestimmung, eine Geschichte von Einsamkeit, vom Fremd-Sein und vom Nirgendwo-Hingehören. Eng verknüpft mit der Erinnerung an die tiefen Wunden, die einst der Kolonialismus Land und Leuten zugefügt hat, wird "Die Meerjungfrau von Black Conch" so zu einem Roman, der vor einer magisch anmutenden Kulisse und doch voller Ernst längst vergangene und zugleich bis heute nachwirkende Zeiten wachruft. Eine große Leseempfehlung.