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Veröffentlicht am 12.12.2022

Heimat oder Freiheit

Die Suche nach Heimat
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„Aber die meisten, die das Café besuchten, wollten sich mit Verlegern, Kritiken oder Künstlerkollegen treffen. Mascha konnte sich nicht Schöneres vorstellen, als eines Tages dazuzugehören und ihren eigenen ...

„Aber die meisten, die das Café besuchten, wollten sich mit Verlegern, Kritiken oder Künstlerkollegen treffen. Mascha konnte sich nicht Schöneres vorstellen, als eines Tages dazuzugehören und ihren eigenen Namen in der Zeitung zu lesen, über einem ihrer Texte.“ (S. 17/18)
Im Sommer 1928 glaubt die 21jährige Mascha im Romanischen Café in Berlin und bei Saul Kaléko endlich eine Heimat gefunden zu haben. Darum willigt sie auch in den Antrag des knapp 10 Jahre älteren Hebräischlehrers ein, obwohl sie sich eine Familie und Kinder noch gar nicht vorstellen kann. Sie will berühmt werden und ihr Leben genießen. Aber Saul verspricht, ihr alle Freiheiten zu lassen.

Bald veröffentlicht sie regelmäßig Gedichte in Zeitungen und trägt sie auf der Bühne vor, 1931 erscheint ihr erster Lyrikband. Während all der Zeit hält Saul ihr den Rücken frei und hat nichts dagegen, dass sie fast jeden Abend ausgeht und mit anderen Männern flirtet. Und nach zwei Ehejahren wird ihr klar, dass er ihr zu alt, langweilig, gesetzt und vorhersehbar ist. Aber sie bleibt bei ihm, denn er liebt sie über alles und gibt ihr Halt.
Außerdem überrollen sie die politischen Entwicklungen. Hitler kommt an die Macht und das Leben der jüdischen Bevölkerung ändert sich eklatant. Es kommt zu Übergriffen und Boykotten, sie werden in ihrer Freiheit immer mehr eingeschränkt. Viele Schriftsteller und Künstler verlassen deshalb Deutschland und auch Saul will nach Palästina emigrieren, aber Mascha kann sich ein Leben außerhalb Berlins nicht vorstellen. Sie hofft, dass der braune Spuk bald vorbei ist. Und dann lernt sie den Dirigenten Chemjo Vinaver näher kennen und verliebt sich in ihn …

Indra Maria Janos erzählt in „Die Suche nach Heimat“ von Mascha Kalékos Aufstieg und ihrem Leben in Berlin bis zur Emigration nach Amerika. Das Buch liest sich zum Teil wie das Who's Who der Literaturszene, denn im Romanischen Café traf sich alles, was Rang und Namen hatte (wie z.B. Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Claire Waldoff, Joachim Ringelnatz und Berthold Brecht) und Mascha gehörte dazu.
Sie lässt diese aufregende Zeit im Leben der Dichterin lebendig werden, ihren Schaffensprozess und Durchbruch als Schriftstellerin, den Austausch mit anderen Künstlern, die gegenseitige Förderung, aber auch die immer stärker werdende Angst ab 1930 und die Überlegungen, was man gegen die Nazis tun kann. „Wir haben alle eine Stimme. Und wir sollten sie nutzen. Schreiben Sie darüber!“ (S. 111)
Dazu kommen das schwierige Verhältnis zu ihren Eltern, die Eheprobleme mit Saul und der Zwiespalt, als sie sich in Chemjo verliebt. Diese Zerrissenheit schildert die Autorin besonders empathisch.

Ergänzt wird die Handlung durch Maschas Gedichte. Zuerst sind sie heiter und leicht, werden aber immer ernster und schwerer. Sie zeigen ihre künstlerische Entwicklung und spiegeln ihre jeweilige Gefühlslage und die Weltpolitik wider. Geht es zu Beginn noch um amüsante Alltagssituationen oder die ersten Zweifel an ihrer Liebe zu Saul, werden sie schnell politischer und kritischer, düsterer und hoffnungsloser.

Indra Maria Janos schreibt sehr fesselnd und hat mir das bewegte Leben einer außergewöhnlichen Künstlerin nähergebracht, über die ich sie gut wie nichts wusste, wie ich beim Lesen des Buches feststellen musste.

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Veröffentlicht am 06.12.2022

Das letzte Konzert

Prost, auf die Gaukler
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„Das ist kein Hund, sondern ein Dackel, und obendrein noch eine Kollegin von uns.“ (S. 59) Schon seit Kommissar Tischlers erstem Fall hoffe ich, diesen Satz zu lesen. Dackeldame Resi hat endlich eine Hauptrolle, ...

„Das ist kein Hund, sondern ein Dackel, und obendrein noch eine Kollegin von uns.“ (S. 59) Schon seit Kommissar Tischlers erstem Fall hoffe ich, diesen Satz zu lesen. Dackeldame Resi hat endlich eine Hauptrolle, den Förster Ferstel liegt mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus und Tischlers Freundin Britta ist für Ärzte ohne Grenzen für 4 Monate in Brasilien. Da ist der Platz neben ihm auf der Couch (und im Bett, natürlich nur ausnahmsweise ) ja eh frei und auch bei den Ermittlungen zum Tod des Volksmusiksängers Ron Goldinger auf dem Brunngrieser Volksfest ist Resi immer dabei.
Dabei hieß es erst: „Da draußen hinter dem Bierzelt liegt der Goldinger und schläft seinen Rausch aus!“ (S. 11), aber der schläft nicht, sondern hat den Pfeil einer Pistolenarmbrust aus der Schießbude nebenan im Hals. Leider hat der Betreiber nicht gemerkt, dass ihm „schon wieder“ eine geklaut wurde. Tischler und Polizeiobermeister Fink raufen sich die Haare – wie soll man denn so arbeiten, zumal auch Polizeioberrat Schwenk und der der Bürgermeister vor Ort sind und sich sofort einmischen …

„Prost, auf die Gaukler“ ist bereits der 6. Band der Reihe von Friedrich Kalpenstein und genauso spannend und unterhaltsam wie die Vorgänger. Mit viel Macho-Gehabe (Fink hat sich endlich emanzipiert und gibt Tischler ordentlich Kontra), schnellen Autos und einiger stuntreifer, sehr sportlicher Verfolgungsjagden bringen die beiden Ermittler die Verdächtigen ordentlich ins Schwitzen. Und Verdächtige gibt es viele, zu viele. Goldinger war ein Frauenschwarm und hat nichts anbrennen lassen. Hat sich vielleicht eine verlassenen Ex-Geliebte oder ein gehörnter Ehemann gerächt? Außerdem war bei dem „Star“ längst nicht alles so eitel Sonnenschein, wie er es in seinen Liedern immer besungen hat. Auch für die große Karriere hat es nie gereicht, stattdessen tingelte er zusammen mit seinem Manager über Volksfeste und zu Kaufhauseröffnungen.

Friedrich Kalpenstein nimmt die Volksmusikszene ordentlich aufs Korn, persifliert sich prügelnde konkurrierende weibliche Fanclubs, übertriebenes Merchandising und selbstverliebte Möchtegernstars. Ich habe mich köstlich amüsiert.

Aber natürlich ist die Reihe auch was fürs Herz. Fink hat endlich eine Freundin, die seinen Kleidungsstil und sein Ego positiv beeinflusst, und Tischler mag gar nicht an die Zeit denken, wenn er Resi zurückgeben muss – ich sag nur Dackelblick.

Ich mag auch die Nebenfiguren der Reihe sehr. Nageldesignerin Tereza und Gastwirtin Nori steigern sich weiter in ihren Kleinkrieg rein. Ich bin gespannt, wann es bei ihnen zum Äußersten kommt und wie das dann ausgeht. Und Tischlers Automonteur steht diesmal auf der richtigen Seite des Gesetzes, also zumindest teilweise, aber das ist ja schon mal ein Anfang.

Mein Fazit: Wer einem Dackelblick nicht widerstehen kann und kurzweilige Regionalkrimis mag, ist in Brunngries genau richtig!

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Veröffentlicht am 02.12.2022

Trésor d’Or

Die Unverbesserlichen – Der große Coup des Monsieur Lipaire (Die Unverbesserlichen 1)
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„Port Grimaud kam Guillaume Lipaire manchmal weniger wie eine Stadt vor, die man ins Wasser gebaut hatte, sondern eher wie Wasser, in das ein bisschen Stadt gestreut worden war.“ (S. 5) Als er noch Wilhelm ...

„Port Grimaud kam Guillaume Lipaire manchmal weniger wie eine Stadt vor, die man ins Wasser gebaut hatte, sondern eher wie Wasser, in das ein bisschen Stadt gestreut worden war.“ (S. 5) Als er noch Wilhelm Liebherr hieß und mehrere Apotheken besaß, träumte Guillaume von einem geruhsamen Lebensabend in einer kleinen Villa des malerischen südfranzösischen Küstenörtchens, doch jetzt lebt er hier in einer winzigen Schuhschachtel und betreut als Guardien verschiedene Feriendomizile. Und verdient sich was dazu, indem er diese heimlich vermietet, wenn die Eigentümer nicht da sind. Aber er ist nicht der einzige Gauner in Port Grimaud.
Der Wassertaxifahrer Karim Petitbon stammt aus armen Verhältnissen und träumt von einer eigenen Jacht, also erledigt nebenbei gut bezahlte „Spezialaufträge“ und legt jeden Cent zurück.
Delphine Berté betreibt den einzigen Handyladen im Ort und findet immer wieder Möglichkeiten, ihren Kunden mehr als nur die Reparaturkosten für ihre Geräte abzuknöpfen.
Paul Quenot war früher bei der Fremdenlegion. Jetzt arbeitet er als Gärtner und züchtet neben Rosen noch ein ganz besonderes Gewächs, an dem er und die Eisverkäuferin Jaqueline Venturino gut verdienten.
Und dann ist da noch Lizzy Schindler. Die 84jährige macht keinen Hehl aus ihren diversen Männerbekanntschaften und den vielen Geheimnissen, die sie durch ihr langes Jetset-Leben kennt.

Als Guillaume den Hinweis auf einen Trésor d’Or (Schatz) findet, schmiedet er einen Plan, wie er an das ganz große Geld kommt. Dumm nur, dass er den nicht allein durchziehen kann und so nach und nach die anderen Kleinkriminellen mit ins Boot holen muss. „Das könnte der Coup unseres Lebens werden. Ich hab’s im Urin, wenn’s wirklich um was es geht.“ (S. 121)

Das Autorenduo Volker Klüpfel und Michael Kobr hat sich aus dem Allgäu an die Côte d’Azur gewagt und seine Sache sehr gut gemacht. Der Krimi um die charmanten Gauner ist nicht nur spannend, sondern auch sehr witzig und unterhaltsam und lässt einen beim Lesen vom Mittelmeer träumen.

Vom ersten Hinweis ausgehend, sucht Guillaumes bunt gemischte Truppe nach weiteren und durchkämmt wie bei einer Schnitzeljagd Port Grimaud und die nähere Umgebung. Dabei kommen ihnen ihre verschiedenen Kenntnisse und Fähigkeiten zu Gute und sie werden trotz diverser Eifersüchteleien und Streitereien am Ende sogar echte Freunde. „Immer für alles eine Lösung, was?“ „Klar, man darf das Leben nicht zu ernst nehmen.“ (S. 54)
Allerdings ist ihnen die adelige Familie dicht auf den Fersen, denen der Schatz nach deren Ansicht nach eigentlich gehört, und die dafür zur Not auch über Leichen gehen würde …

„Die Unverbesserlichen – Der große Coup des Monsieur Lipaire“ ist eine Hommage an Louis de Funès und wunderbares Kopfkino – ich hoffe, das Buch wird verfilmt. Ich habe nämlich zu jeder Figur schon eine Schauspielerin bzw. einen Schauspieler im Kopf und würde gern sehen, wie die Pläne der kleinen Gauner immer wieder schiefgehen und sie ihre Fehler auf sehr amüsante Art und Weise ausbügeln.

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Veröffentlicht am 25.11.2022

Ein letztes kleines Abenteuer

Weihnachtsfest mit einem Engel
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„Man darf einen Engel nie nach dem ersten Eindruck beurteilen.“ (S. 312) Wobei das bei Georg echt schwerfällt. Der vollbärtige, langlockige, nur mit einem recht kurzen weißen Nachthemd und weißen Cowboystiefeln ...

„Man darf einen Engel nie nach dem ersten Eindruck beurteilen.“ (S. 312) Wobei das bei Georg echt schwerfällt. Der vollbärtige, langlockige, nur mit einem recht kurzen weißen Nachthemd und weißen Cowboystiefeln bekleidete Mann, der da kurz vor Weihnachten auf einem Stuhl an ihrem Krankenhausbett lümmelt und auf ein mit Strasssteinchen verziertes Handy starrt, wirkt auf Maria nicht besonders vertrauenserweckend und ziemlich ruppig ist auch. Und warum kann ihn sonst keiner sehen? Wird sie etwa langsam plemplem? Die bis dato rüstige Achtzigjährige ist beim Spaziergang am Strand umgekippt, und wenn sie Georg richtig versteht, läuft ihre Zeit jetzt ab. Er wartet nur noch auf den „erlösenden Anruf“, um sie in den Himmel zu begleiten. Dabei wollte Maria die Festtage so gerne in München bei ihren Enkeln und ihrem verwitweten Schwiegersohn Ben verbringen, aber dessen neue Partnerin hat andere Pläne.
Zum Glück kann Maria Georg überreden, die Wartezeit auf ihren Abgang sinnvoll zu verbringen – im Zug zu ihrer Familie. Doch dann kommt alles ganz anders und ein aufregender Roadtrip quer durch Deutschland beginnt – ein letztes kleines Abenteuer.

Georg ist ein echter Antiheld mit zweifelhafter Moral. Er wurde zur „Abholung“ strafversetzt, weil er im Himmel gepokert (und dabei betrogen) hatte und will Maria immer wieder zu kleinen Straftaten wie z.B. Schwarzfahren oder Mundraub anstiften. Aber sie überrascht ihn, indem sie ihm zeigt, dass man sein Ziel auch anderes erreichen kann – indem man mit den Menschen redet, sie um etwas bittet oder an ihr Mitgefühl appelliert. „Sie unterschätzen die Menschen … Und sie unterschätzen, welche Bedeutung Weihnachten für die Menschen noch hat. … Es geht um die Sehnsucht nach dem Guten, verstehen Sie das?“ (S. 78)
Auf ihrer aufregenden Reise lernen sie viele Menschen kennen, denen Maria neuen Mut macht, sie an eigene Wünsche und Träume erinnert und ihnen Lösungswege aufzeigt. Und so langsam ändert sich auch Georgs Sicht auf die Dinge und er beginnt, es ihr gleichzutun. „Sie ist mehr Engel, als du oder ich es je sein werden.“ (S. 247) Aber wie lange kann er Marias Ableben hinauszögern?

„Weihnachtsfest mit einem Engel“ ist eine ganz zauberhafte, lustige, philosophische und berührende Weihnachtsgeschichte, die nicht nur gut unterhält, sondern auch zum Nachdenken anregt. Denn was könnte an Weihnachten wichtiger, als mit der Familie zusammen zu sein?!

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Veröffentlicht am 23.11.2022

Im Exil

Fräulein Gold: Die Rote Insel
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„… sosehr sie sich auf die Erlösung und das Kind freute, so sehr fürchtete sie den Moment, da ihr Leben noch ein ganzes Stück komplizierter würde.“ (S. 13)
Im Frühsommer 1926 ist Hulda Gold regelrecht ...

„… sosehr sie sich auf die Erlösung und das Kind freute, so sehr fürchtete sie den Moment, da ihr Leben noch ein ganzes Stück komplizierter würde.“ (S. 13)
Im Frühsommer 1926 ist Hulda Gold regelrecht abgetaucht. Sie darf aufgrund ihrer Schwangerschaft nicht mehr in der Frauenklinik arbeiten und ist bei ihrer Vermieterin ausgezogen, um ihr keine Probleme zu bereiten. Zum Glück hat die Ärztin Grete Fischer sie in Schöneberg auf der „Roten Insel“ als Arzthelferin eingestellt und ihr eine winzige Kellerwohnung besorgt. Obwohl Hulda froh sein muss, in ihrem „Zustand“ (unverheiratet und schwanger) überhaupt irgendwo untergekommen zu sein, sehnt sie nach ihrer alten Stelle, ihrem alten Zimmer und ihrem alten Ich. Und manchmal sogar nach ihrem verstorbenen Verlobten Johann, obwohl sie sich inzwischen eingestehen musste, dass sie ihn nie richtig geliebt hat, nur verliebt war.

Die Weimarer Republik ist eine Zeit voller politischer Unruhen und die Rote Insel ein Brandherd. Obwohl, oder gerade, weil sie fest in der Hand der Kommunisten ist, kommt es immer öfter zu blutigen Auseinandersetzungen mit den Nazis. Eines Morgens wird ein Kohlenhändler erschlagen aufgefunden und für die Roten ist klar, dass das die Braunen waren. Doch Hulda zweifelt und stellt Nachforschungen über den Toten an. Dabei läuft sie einem alten Bekannten über den Weg – dem Privatdetektiv Karl North. Mit ihm sie schon viel erlebt und lange eine On-Off-Beziehung geführt. Jetzt soll er auf der Insel etwas für seinen Vater herausfinden, der einen Ringverein leitet.

Noch in keinem Teil der Reihe ist man Hulda so nahegekommen wie hier. Sie hadert mit ihrer Situation und fühlt sich auf der „Roten Insel“, einem Bereich zwischen vier S-Bahnbrücken, wie im Exil. Oft muss sie sich vorwerfen lassen, dass sie nicht von hier stammt und darum keine Ahnung hat, wie man hier (über)lebt und aus was man sich besser raushält. Außerdem weiß sie nicht, wem sie trauen kann, da selbst Grete ein Geheimnis zu haben scheint. Auch die Arbeit mit ihr ist anders als gedacht. Während Hulda sehr mitfühlend mit ihren Patientinnen umgeht, scheint Grete völlig emotionslos, lässt nichts an sich rankommen oder zeigt Mitleid.

Hulda ist extrem zerrissen. Einerseits freut sie sich auf ihr Kind, andererseits weiß sie nicht, wie es nach der Geburt weitergehen, wo und wovon sie leben soll. „Wo zum Teufel gehörte sie nun hin? Wo würde sie akzeptiert werden – und gleichzeitig sie selbst sein können?“ (S. 77) Sie träumt davon, wieder als Hebamme zu arbeiten, aber wie soll das als alleinerziehende Mutter gehen? In ihrem alten Viertel am Winterfeldplatz hatte sie ein großes Netzwerk, aber da traut sich das „gefallene Mädchen“ nicht mehr hin. Auch mit Johanns Familie will sie eigentlich nichts mehr zu tun haben, schließlich war sie seinen Eltern nie gut genug, aber ihr Kind soll Kontakt zu den Großeltern haben. Hulda muss über viele Schatten springen und die Brücken, die sie hinter sich abgerissen hatte, mühsam wieder aufbauen. Sie durchläuft eine regelrechte Metamorphose und wird endlich erwachsen, begreift, dass das Kind und dessen Wohlergehen im Vordergrund stehen und sie auch mal zurückstecken oder etwas massiv einfordern muss.

Anne Stern schildert Huldas Situation und Entwicklung sehr empathisch, lässt die Leser jederzeit an deren Gedanken und Gefühlen teilhaben. Ich habe mit ihr mitgefühlt und hätte sie wahlweise manchmal gern in den Arm genommen oder ihr den Kopf gewaschen.

Auch das Leben der Insulaner beschreibt die Autorin fesselnd und atmosphärisch, man spürt die aufgeheizte Stimmung, das gegenseitige Misstrauen und die Gewaltbereitschaft der verschiedenen Parteien und Interessengruppen.

Meine Lieblingsnebenfigur in diesem Band war das ehemalige Kindermädchen Fräulein Eugenie Fink – inzwischen wohl so um die 70, aber immer noch topfit. Ich hoffe sehr, dass sie im nächsten Buch wieder dabei ist.

5 Sterne und meine Empfehlung für dieses Lesehighlight!

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