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Veröffentlicht am 19.03.2023

Der Körper, der dort liegt, ist nicht tot

Mary & Claire
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Frankenstein – das berühmte Monster, die Kreatur, die sich gegen ihren Schöpfer wendet! Doch was steckt eigentlich hinter dem Text? Wer ist die Schöpferin dieser Geschichte, genreprägend und unvergessen ...

Frankenstein – das berühmte Monster, die Kreatur, die sich gegen ihren Schöpfer wendet! Doch was steckt eigentlich hinter dem Text? Wer ist die Schöpferin dieser Geschichte, genreprägend und unvergessen über die Jahrhunderte?
Markus Orths hat sich der bekannten Schriftstellerin angenommen, hat Mary Shelley in seinem Roman von frühester Jugend an begleitet, das Leben vor und während ihres Schaffens betrachtet. Doch nicht nur das, denn Mary ist es nicht allein, die im Mittelpunkt seines Romans steht! Ihre Halbschwester Claire Clairmont, nicht weniger talentiert und ebenso schillernd in ihrer Persönlichkeit, ist eine ihrer wichtigsten Bezugspersonen ihr Leben lang, so wie ihr späterer Ehemann Percy Shelley, Aristokrat, Schriftsteller, der Liebhaber beider Frauen.
Und da sind sie auch schon, die gesellschaftlichen Konventionen, die der Roman immer wieder in Frage stellt, die Grenzen und Fesseln, welche das Trio, die Ménage-à-trois, nicht zu akzeptieren bereit ist, der Freiheitsdrang und der Wunsch nach Selbstverwirklichung, die Mary, Claire und Percy leiten und in ihrem Leben und Schaffen antreiben. Dieser Bruch mit dem Bekannten, der Aufbau ihrer eigenen Welt machen aus, was letztlich ihre künstlerischen Entwicklungen vorantreibt, was Werke so ungewöhnlich wie revolutionär – gerade für Frauen ihrer Zeit – in ihrer Entstehung erst ermöglicht.
Ihr Umfeld aus Freigeistern und Egozentrikern weist ihnen hierbei oftmals Wege, spornt an, öffnet geistige Türen und wirft diese auch wieder zu. Ganz vorne und für sich, das Dreiergespann und die damalige Literaturszene von besonderer Bedeutung ist hierbei Lord Byron – ein großer Dichter, ein Mensch aus Abgründen und Scheußlichkeiten. Und mit schaffendem und zugleich zerstörerischem Charakter auf Mary, Percy und insbesondere Claire. Ohne ihn wäre wohl nie der Funke entzündet worden, der Frankenstein ins Leben bringt, doch bringt er auch Verderben und Tod.
Fiktion und Fakten, Dichtung und Wahrheit – Orths hat ein raffiniertes Geflecht aus Recherche und Ideenreichtum geschaffen, einen wunderbaren Roman, ein Stück Zeitgeschichte in poetischer Sprache. Und er hat Frauen eine Bühne gegeben, die ihnen zu ihrer Zeit verwehrt blieb, hat sie aus dem Schatten der Gesellschaft geholt – sie in die Herzen der Leser geschrieben. „Der Körper, der dort liegt, ist nicht tot.“ Markus Orths hat ihn wieder mit Leben gefüllt.

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Veröffentlicht am 05.03.2023

Frech und leicht, scharf und brutal – ein großer Roman unserer Zeit

Liebewesen
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Das Leben ein Kampf, der eigene Körper ein Schlachtfeld – diese Erfahrung musste Lio bereits von frühester Kindheit an machen. Psychisch und körperlich gequält und misshandelt, haben sich die Scherben ...

Das Leben ein Kampf, der eigene Körper ein Schlachtfeld – diese Erfahrung musste Lio bereits von frühester Kindheit an machen. Psychisch und körperlich gequält und misshandelt, haben sich die Scherben und Trümmer des verlorenen Vertrauens, der fehlenden Liebe und Zuneigung, der Zurückweisung wie auch gewaltsamen Aneignung als Narben in ihre Haut gegraben – und tiefe Spuren in ihrer Seele hinterlassen.
Max scheint die Fähigkeit und notwendige Leichtigkeit zu besitzen, Lios Verunsicherung zu umgehen und ihre harte Schale aus Abschottung und innerem Rückzug zu durchbrechen. Mit ihm wird für Lio zum ersten Mal eine Beziehung überhaupt denkbar, wenn auch nicht wünschenswert. Doch Max bleibt hartnäckig und an Lio dran. Und damit in ihrem Leben.
Das Ergebnis ist eine Beziehung, die Lio emotional fordert, aber auch überfordert, ihr trotz der eigenen Verletzungen, Hemmnisse und Selbstzweifel immer wieder Momente und Zeiten der Freude – wenn auch nicht der Leichtigkeit – beschert. Doch auch Max hat sein Päckchen zu tragen, seine Vergangenheit, die in seinem Hier und Jetzt mit all seinen Wünschen, Träumen und Begierden sichtbar wird. Und die bei zunehmender Dauer der Partnerschaft immer mehr Raum in dieser einnehmen.
Und dann, gerade dann als es am Dunkelsten ist und die Beziehung sich im freien Fall befindet, muss Lio erfahren, dass sie schwanger ist.
Caroline Schmitt erzählt mit Witz und Leichtigkeit, zugleich aber auch mit Schärfe und Brutalität in ihren Beschreibungen vom Leben zweier Verwundeter, von ihrem Versuch des Heilens miteinander, von dem Blutvergießen als alte Narben aufplatzen und Wunden sich nicht schließen wollen.
Frech, unkonventionell und im lakonischen Ton gehalten, ist der Roman so wunderbar unterhaltsam wie zutiefst erschütternd, eine Liebes- wie eine Leidensgeschichte, ein Zeugnis unserer Zeit. Und für mich ist er ein Herzensroman. Eine Entdeckung. Ein großes Glück und tiefe Traurigkeit.

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Veröffentlicht am 27.02.2023

Eine Geschichte über Geschichten

Wir hätten uns alles gesagt
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Was ist der Kern der Geschichte? Was ist ihr Ursprung, das Samenkorn, aus dem sie entsteht und gedeiht?
Judith Hermann geht diesen Fragen für sich nach, richtet den Blick nach innen, spürt analytisch dem ...

Was ist der Kern der Geschichte? Was ist ihr Ursprung, das Samenkorn, aus dem sie entsteht und gedeiht?
Judith Hermann geht diesen Fragen für sich nach, richtet den Blick nach innen, spürt analytisch dem roten Faden nach, der die Geschichten miteinander und mit ihr selbst verbindet. Der Weg führt sie dabei weit zurück: in ihre Kindheit, zu ihrer Familie – sowohl im biologischen Sinne zu verstehen als auch bezüglich ihrer sozialen Wahlfamilie –, zu den Jahren der Auseinandersetzung mit sich und ihrem Denken. Unter professioneller Anleitung.
Das Ergebnis ist erstaunlich offen. Schonungslos. Privat mag es mir sogar erscheinen, als ein Eindringen in ihren Kopf und ein Blick auf bisher gut Behütetes – auch, so betont Hermann, wenn das Eigentliche, Wesentliche von ihr weiterhin verborgen würde. Und doch erlaubt sie vieles den Lesern zu sehen: die psychische Erkrankung ihres Vaters, welche die Ehe ihrer Eltern ebenso bestimmte wie ihre eigene Kindheit, die Nazivergangenheit ihres Großvaters, den Tod eines Freundes, den Verlust von weiteren.
All dies fließt für Hermann in ihr eigenes Schreiben ein, das sich an ihrem eigenen Leben entlanghangele. Ein anderes Schreiben kenne sie für sich nicht, betont Hermann, könne sie sich selbst nicht vorstellen. Damit sind ihre Texte immer auch Erzählungen über sie selbst, „verfremdet und entstellt, bis nichts mehr richtig ist und dennoch alles wahr“.
Das Ergebnis der Spurensuche ist eine offenbarende, fesselnde und hoch interessante Collage und eine Geschichte über Geschichten, welche die deutsche Gegenwartsliteratur geprägt haben – und die mir nun teils im neuen Licht und mit verändertem Zugang erscheinen, jetzt, wo ich all dies wissen und erfahren durfte. Das lädt zum erneuten Lesen und vor allem zur Hochachtung vor einer Autorin ein, die sich selbst nicht nur mit detektivischem Scharfsinn zu Leibe rückt sondern uns bei der Öffnung und Sektion einen Platz in der ersten Reihe einräumt.

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Veröffentlicht am 05.02.2023

Düster, melancholisch und wunderschön

1000 Stürme
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Zieht Dich die Dunkelheit magisch an? Gehörst Du auch zu den Freunden von Dark Fantasy? Und bereiten Dir Geister und Monster eher Freude und Vergnügen als Dich nachts von süßen Träumen abzuhalten?
Wenn ...

Zieht Dich die Dunkelheit magisch an? Gehörst Du auch zu den Freunden von Dark Fantasy? Und bereiten Dir Geister und Monster eher Freude und Vergnügen als Dich nachts von süßen Träumen abzuhalten?
Wenn Du all diese Fragen mit Ja beantworten kannst, kann ich Dir verraten: Tony Sandoval wird Dein dunkles Herz in „1000 Stürmen“ erobern und Dir blutig-schöne Lesestunden zaubern! Denn das, was Lisa in ihren jungen Jahren erlebt, ist alles andere als gewöhnlich. Als Hexe in ihren Dorf verschrien und von den anderen Kindern gejagt, wird sie selbst zu einer Grenzgängerin zwischen dem Hier und Jetzt, zu der Entdeckerin der anderen Seite und zu einer tapferen Kriegerin im Kampf gegen die Monster.
So gewaltsam und unerbittlich die Wesen in ihrem Blutrausch zuschlagen, so unerschrocken bietet auch Lisa ihnen die Stirn, wächst hierbei im wahrsten Sinne über sich hinaus und lässt die menschlichen Formen und Begrenzungen dabei hinter sich.
Doch nicht nur die Liebhaber von intelligent gemachten Fantasygeschichten kommen hier auf ihre Kosten, auch die Ästheten unter uns können sich freuen – auf großartige, unvergleichliche Zeichnungen, welche die Dunkelheit und ihre Geschöpfe geradezu feiern! Die Bilder sind prägnant, häufig düster, dann auch wieder melancholisch in Aquarell. Und gerade die ganzseitigen Darstellungen Lisas haben mir den Atem geraubt.
Und da ich mich an den Zeichnungen einfach nicht sattsehen konnte, kommt es mir sehr gelegen, dass ich als Leserin nicht einfach so entlassen werde - zwar aus der Geschichte aber nicht aus dem Comic selbst. Denn zum Ende des Buches werden wir noch mit Bonuszeichnungen verwöhnt. Und diese sind überraschend farbenfroh, und auch Lisa wirkt verändert: mit rosa Haaren, bunt aquarelliert und weiterhin wunderschön.
Tony Sandoval ist mit „1000 Stürme“ ein Meisterwerk gelungen – mit Zeichnungen so eigen, melancholisch, geheimnisumwoben und gedankenumrankt! Das kleine Gothic Mädchen, das ich wohl immer bleiben werde, jubelt und ist glücklich. Und so könnte es Dir auch gehen.

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Veröffentlicht am 21.01.2023

Bereits jetzt ein Jahreshighlight

Ohne mich
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Nähe und Distanz, Humor und Traurigkeit – „Ohne mich“ bewegt sich zwischen Polen, überbrückt scheinbar Unvereinbares und ist vor allem ein wunderbares Lesevergnügen mit Tiefe und Nachdenklichkeit.
Doch ...

Nähe und Distanz, Humor und Traurigkeit – „Ohne mich“ bewegt sich zwischen Polen, überbrückt scheinbar Unvereinbares und ist vor allem ein wunderbares Lesevergnügen mit Tiefe und Nachdenklichkeit.
Doch vor allem hat die Geschichte Rhythmus! Klingt erst einmal komisch? Dann hör der Geschichte doch einfach zu! Nimm das Buch in die Hand, such Dir ein Gegenüber – optional und ausschließlich für die Stimmung – und lies sie laut vor! So habe ich es zumindest nach wenigen Seiten getan und von da ab den großartigen Witz in Wort und Handlung, die Treffsicherheit und Prägnanz des Geschriebenen und ganz besonders den Klang entdeckt. Den Klang der kurzen, pointierten Sätze, welche die Leser mit rasantem Tempo durch das Geschehen transportieren, mit hoher Taktzahl und rhythmisch – gar wie ein Songtext?
Und dann habe ich gelesen, ohne Unterbrechung, eingesogen, verschlungen vom Leben der jungen Ich-Erzählerin und schließlich mit rauer Stimme bis zu den letzten Zeilen und Worten. Und alles, was dazwischenlag, war eine Berg- und Talfahrt, eine Achterbahn zwischen Lachen, ungläubigem Kopfschütteln und schließlich auch Begreifen und dem rückblickenden Verstehen.
Was die Geschichte noch zu vollbringen vermochte: Ich konnte zurückschauen, zurück auf meine Studierendenzeit, die Zeit der Sinnsuche – ist diese denn jemals abgeschlossen? – und eine Phase der Orientierungslosigkeit, des Übergangs, Neubeginns. Die Ich-Erzählerin durchlebt dabei eine innere Zerrissenheit, die möglicherweise dem Eintritt in das Erwachsenenleben vorausgeht, vielleicht aber auch exemplarisch für das Lebensgefühl einer ganzen Generation steht und der letztendlich doch eine ganz eigene schicksalhafte Wendung zugrunde liegt.
Noch Winter bei eisigen Temperaturen und Schnee vor meiner Tür, habe ich mit „Ohne mich“ doch bereits eines meiner Highlights für dieses Bücherjahr entdeckt! So sehr habe ich beim Lesen gelacht, mitgelitten und an den Zeilen geklebt – und mein Mann übrigens auch, denn der war „mein Gegenüber“. So kurz die Sätze, so knapp der Text selbst, so unendlich groß war unser Lesevergnügen. 2023, Du musst Dich anstrengen, dies zu toppen!

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