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Veröffentlicht am 21.01.2024

Paris unter deutscher Besatzung

Paris Requiem
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Chris Lloyds zweiter Roman um den Ermittler Eddie Giral spielt im von den Deutschen besetzten Paris Ende 1940. In einem heruntergekommenen Jazzclub wird ein Toter gefunden, der auf grausame Weise umgekommen ...


Chris Lloyds zweiter Roman um den Ermittler Eddie Giral spielt im von den Deutschen besetzten Paris Ende 1940. In einem heruntergekommenen Jazzclub wird ein Toter gefunden, der auf grausame Weise umgekommen ist. Man hat ihm den Mund mit Nadel und Garn zugenäht. Giral kennt das Mordopfer, das er selbst seiner Bestrafung zugeführt hat. Er wird entdecken, dass insgesamt mehr als 30 Straftäter aus dem Gefängnis in Fresnes entlassen wurden, ohne dass sich aufklären lässt, wer diese Maßnahme autorisiert hat. Giral stößt auf eine Mauer des Schweigens und findet zunächst nicht viel heraus. Dann passieren weitere Verbrechen, und Giral selbst gerät in Lebensgefahr.
Im Lauf der spannenden Geschichte werden mehrere Handlungsstränge verfolgt und andere Themen behandelt. Eddie versucht seinen Sohn aufzuspüren und möglichst zu retten, zu dem er seit der Trennung von dessen Mutter keinen Kontakt mehr hatte. Weitere Mütter suchen nach ihren Söhnen und bitten Eddie um Hilfe. Viel kann er nicht ausrichten, muss stattdessen vorsichtig lavieren, um sich nicht mit dem eigenen Vorgesetzten und den zahlreichen mächtigen Vertretern der Besatzungsmacht anzulegen und sein Leben zu riskieren.
Der Autor schafft es in dieser gelungenen Mischung aus Krimi und historischem Roman, ein sehr anschauliches Zeitporträt zu schaffen, in dem deutlich wird, wie das Leben der Franzosen mit der allgegenwärtigen Bedrohung, dem Hunger, der Rationierung von Lebensmitteln und der Knappheit von allen Arten von Gebrauchsgütern Ende 1940 aussah, als die Menschen mit allen Mitteln versuchten, das eigene Überleben zu sichern. Auch Eddie muss Kompromisse eingehen, zur Kooperation bereit sein, ohne sich korrumpieren zu lassen. Dem Autor sind mit Eddie Giral und seinem Kollegen Boniface sehr sympathische Protagonisten gelungen. Ein empfehlenswerter Roman.

Veröffentlicht am 26.12.2023

Wenn die Zeit vergeht, vergeht das Leben

Die Verletzlichen
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Im Mittelpunkt des neuen Romans von Sigrid Nunez steht eine namenlose Schriftstellerin, die als Ich-Erzählerin während der Pandemie den Lockdown in New York erlebt. Eine Freundin bittet sie um Hilfe, ...


Im Mittelpunkt des neuen Romans von Sigrid Nunez steht eine namenlose Schriftstellerin, die als Ich-Erzählerin während der Pandemie den Lockdown in New York erlebt. Eine Freundin bittet sie um Hilfe, als ein Student, der in der Wohnung einer Freundin dieser Frau den Papagei Eureka während der Abwesenheit der Besitzerin versorgen soll, überraschend auszieht. Die Schriftstellerin erklärt sich dazu bereit und freundet sich mit dem Vogel an. Als eines Tages der Student zurückkommt, leben sie eine Weile beide in der Wohnung, und es entwickelt sich eine Art Freundschaft. Das ist der rudimentäre Plot, der jedoch keinen breiten Raum im Roman einnimmt. Es geht um viele andere Themen: Leben und Schreiben in Zeiten der Pandemie, menschliches Miteinander und Fürsorge für andere, die Besonderheiten des Zusammenlebens mit einem Tier, das Vergehen der Zeit und damit des Lebens und nicht zuletzt um Literatur. Die sehr belesene Autorin nennt und zitiert eine Vielzahl von Autoren der europäischen Literatur, was mir besonders gut gefallen hat.
Auch wenn der Roman keine stringente Handlung hat, habe ich ihn gern gelesen und bewundere die sprachliche Eleganz der Autorin, von der ich bereits mehrere Romane kenne. Sehr lohnend, wenn man bereit ist, sich auf eine etwas andere Art von Roman einzulassen. Die erhebliche Zahl sprachlicher Verstöße hätte allerdings gut ein gründliches Lektorat vertragen.

Veröffentlicht am 31.10.2023

Erinnern und Vergessen

Memoria
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Zoe Becks Roman “Memoria“ spielt in Deutschland in der nahen Zukunft. Der Klimawandel ist weiter fortgeschritten und verursacht immer wieder gefährliche Brände. Eines Tages befindet sich Protagonistin ...


Zoe Becks Roman “Memoria“ spielt in Deutschland in der nahen Zukunft. Der Klimawandel ist weiter fortgeschritten und verursacht immer wieder gefährliche Brände. Eines Tages befindet sich Protagonistin Harriet, 32 in einem Zug, der auf freier Strecke hält, weil ein Seniorenheim wegen eines Großbrandes evakuiert werden muss. Harriet steigt aus wie viele andere auch. Plötzlich sieht sie am Fenster eines Hauses eine alte Frau, die verzweifelt um Hilfe ruft. Zusammen mit zwei anderen Frauen rettet Harriet sie in letzter Minute und bringt alle mit dem Auto der Frau in Sicherheit. Diese Episode löst bei Harriet Fragen und Erinnerungen aus: Die Frau hat sie mit ihrem Namen angesprochen, und sie hat sich automatisch ans Steuer gesetzt, obwohl sie glaubt, nie einen Führerschein besessen zu haben – ein Irrtum, wie sich zeigen wird. Harriet beginnt, ihre Vergangenheit zu erforschen. 15 Jahre zuvor ist etwas Furchtbares geschehen, aber sie weiß nicht was. Sie erinnert sich an Gewalt, die sie erlitten und selbst ausgeübt hat. Die rätselhafte Verletzung einer Hand beendete die geplante Karriere als Konzertpianistin, und Harriet wurde stattdessen Klavierbauerin. Die Familie zog damals überstürzt von München nach Frankfurt. Dort lebt Harriet nach dem Tod der Mutter in sehr prekären Verhältnissen, obwohl die Familie einst reich war.
Harriet dringt immer tiefer in ihre Vergangenheit ein und kommt lange verborgenen Geheimnissen auf die Spur. Ihre Nachforschungen bringen sie jedoch zunehmend in Gefahr. Immer wieder wird die Zuverlässigkeit von Erinnerungen in Frage gestellt. Harriet kann sich jedenfalls nicht darauf verlassen, dass das, was sie für wahr hält, tatsächlich geschehen ist. Die Autorin hat diese Thematik, verbunden mit den Ereignissen in Harriets Leben, zu einem spannenden, gut lesbaren Thriller verarbeitet, den ich gern weiterempfehle.

Veröffentlicht am 30.07.2023

Eltern können ihre Kinder nicht beschützen

Sekunden der Gnade
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Dennis Lehanes neuer Roman spielt im Jahr 1974 in Boston. Hier lebt in einem ärmeren weißen Viertel die Krankenschwester Mary Pat Fennessy mit ihrer Tochter Julia genannt Jules. Ihr erster Mann ist verstorben, ...


Dennis Lehanes neuer Roman spielt im Jahr 1974 in Boston. Hier lebt in einem ärmeren weißen Viertel die Krankenschwester Mary Pat Fennessy mit ihrer Tochter Julia genannt Jules. Ihr erster Mann ist verstorben, der zweite hat sie wegen einer Jüngeren verlassen. Ihr geliebter Sohn Noel starb nach seiner Rückkehr aus dem Vietnamkrieg an einer Überdosis Heroin. Jetzt ist sie allein mit ihrer 17jährigen Tochter. Es ist ein heißer Sommer mit Demonstrationen gegen die geplante Umsetzung der Aufhebung der Rassentrennung. Schüler aus schwarzen Vierteln sollen mit Bussen zu weißen Highschools gebracht werden und umgekehrt. Eines nachts kehrt Jules nicht nach Hause zurück. In derselben Nacht wird ein junger Farbiger tot neben den Gleisen am Bahnhof gefunden. Sein Auto war ausgerechnet in einem weißen Viertel liegengeblieben, wodurch er automatisch in Lebensgefahr geriet. Es stellt sich heraus, dass es sich bei dem Toten um Augustus Williamson, den Sohn einer Kollegin von Mary Pat handelt. Mary Pat sucht verzweifelt nach ihrer Tochter, stellt eigene Nachforschungen an und begreift schließlich, dass Jules nicht mehr lebt. Sie hat sie über alles geliebt, aber sie konnte sie nicht beschützen. Nun hat sie das Einzige verloren, das ihr etwas bedeutete. Deshalb beginnt sie einen privaten Rachefeldzug und setzt dabei ihr Leben aus Spiel. Denn sie hat mächtige Gegner in den brutalen Schlägern des organisierten Verbrechens, die aufgrund von Korruption all die Jahre unbehelligt von der Polizei ihren Geschäften nachgehen konnten. Auch die kleinen Leute im Viertel müssen Schutzgeld zahlen.
Der spannende Roman mit teilweise recht brutalen Szenen beschreibt eine von Hass und Wut und von allgegenwärtigem Rassismus gekennzeichnete Welt, die auch fast 50 Jahre später trotz der offiziellen Aufhebung der Rassentrennung nicht verschwunden ist. Man muss nur an die krassen Beispiele von Polizeigewalt gegen Farbige denken und an die überproportional hohe Zahl dieser jungen Leute in Gefängnissen. Als Zeitzeuge der genannten Ereignisse in den 70ern macht der Autor nicht nur die Atmosphäre dieser Epoche sichtbar, sondern zeigt auch in der Figur der Mary Pat die Folgen von Verlust und Trauer, ihren Hass und ihre Wut, die sich in einem brutalen Rachefeldzug entladen. Ich kenne viele der älteren Romane des Autors, und auch das neue Buch hat mir gut gefallen.

Veröffentlicht am 27.03.2023

Ein Ort fürs Verstecken gemacht

Wolfskinder
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Jakobsleiter ist ein Ort hoch in den Bergen, weit entfernt von der nächsten Ortschaft. Dort lebt seit vielen Jahren die religiöse Gemeinschaft der Täufer mit ihrem Anführer Isaiah, der den anderen weismacht, ...

Jakobsleiter ist ein Ort hoch in den Bergen, weit entfernt von der nächsten Ortschaft. Dort lebt seit vielen Jahren die religiöse Gemeinschaft der Täufer mit ihrem Anführer Isaiah, der den anderen weismacht, dass unten im Dorf das Böse lauert. Sie wollen mit der modernen Welt nichts zu tun haben und bleiben unter sich. Schweigen ist hier das oberste Gebot. Die Journalistin Smilla hat in dieser Gegend zehn Jahre zuvor ihre Freundin Juli beim Campen zuletzt gesehen. Sie hat nie aufgehört, nach ihr zu suchen und sich schuldig zu fühlen. Sie sammelt alle Fälle von Frauen, die hier im Laufe der Jahre verschwunden sind und nutzt ihr Volontariat zu weiteren Recherchen. Dann verschwindet Rebekka, ein Mädchen aus der Siedlung, befreundet mit Jesse, der ebenfalls dort lebt. Wenig später wird auch Laura Bender, die Lehrerin der Dorfschule vermisst, als sie in die Berge aufbricht, um nach Rebekka zu suchen. Eines Tages begegnet Smilla ein verwahrlostes, stummes Mädchen namens Edith, das der Freundin Juli verblüffend ähnlichsieht. Ist Edith Julis Tochter? Lebt Juli am Ende noch? Im Unterschied zu Jesse und Rebekka darf die kleine Edith nicht einmal zur Schule gehen. Als durch Smillas Fund eines Videos im Archiv ihres Arbeitgebers die Medien aufmerksam werden, wird endlich auch die Polizei aktiv.
Die Autorin erzählt die von Anfang bis Ende spannende Geschichte aus sechs verschiedenen Perspektiven – Smilla, Laura, Jesse, Rebekka, Edith und Isaiah - und baut von Anfang an eine düstere, bedrohliche Atmosphäre von ständig lauernder Gefahr auf, so dass der Leser sich auf die Aufdeckung schlimmster Verbrechen gefasst macht. Einiges ahnt oder errät man, aber insgesamt birgt die Auflösung große Überraschungen. Die Charakterisierung der Figuren ist sehr gelungen, nicht zuletzt die des von Jesse geretteten und gezähmten Wolfs Freigeist, der keine unwesentliche Rolle im finalen Showdown spielt. Auch sprachlich ist der Roman durchweg gelungen. Ein erstaunliches, empfehlenswertes Thrillerdebüt.