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Veröffentlicht am 03.09.2022

Vom Privileg, ein Leben ohne Privilegien kennengelernt zu haben

Anleitung ein anderer zu werden
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“Anleitung ein anderer zu werden“, der neue Roman von Edouard Louis, ist wie seine vier Vorgänger autobiografisch. Wie schon in “Das Ende von Eddy“ erzählt er von seiner von extremer Armut geprägten Kindheit ...

“Anleitung ein anderer zu werden“, der neue Roman von Edouard Louis, ist wie seine vier Vorgänger autobiografisch. Wie schon in “Das Ende von Eddy“ erzählt er von seiner von extremer Armut geprägten Kindheit in einem kleinen Dort in der Picardie. Weil er anders ist als andere, wird er schon als kleiner Junge als Schwuchtel und schwule Sau beschimpft und immer wieder körperlich angegriffen. Er hat von Anfang an nur einen Wunsch, diesem Milieu zu entkommen und Rache für diese schreckliche Kindheit zu nehmen. Eine erste Chance auf Veränderung bietet sich ihm, als er das Gymnasium in Amiens besuchen darf. Er findet in Elena eine enge Freundin, die ihm durch ihr weltoffenes, gastfreundliches Elternhaus eine andere Welt erschließt. Nach dem Abitur helfen ihm andere gebildete, gutsituierte Freunde, sich auf die Prüfung für die Ecole Normale Supérieure vorzubereiten, denn Eddie, der sich inzwischen Edouard nennt, hat begriffen, dass Bildung Macht ist und dass man den sozialen Aufstieg nicht wirklich ohne den Besuch einer Eliteschule schafft. In diesen Jahren bis Mitte 20 lebt er wie ein Getriebener, besessen vom Wunsch nach Veränderung, immer wieder bemüht, sich an ein neues Umfeld anzupassen und zieht weiter, wenn es nicht funktioniert. Er versucht, alle Leben zu leben, obwohl dieser Versuch durch seine Herkunft eigentlich zum Scheitern verurteilt ist. Keiner aus seinem Dorf hat diesen Neuanfang bisher geschafft, nicht einmal die jungen Männer, die Kellner oder Koch werden wollten.
In Louis Buch steckt mehr als sein persönliches Schicksal. Es enthält auch eine gute Portion Sozialkritik, zeigt es doch, dass die gut situierte Hälfte der französischen Gesellschaft gar nicht weiß, wie erbärmlich die andere Hälfte zum Teil lebt. Das zeigt sich schon in der Schule, wenn Eddy das Kantinenessen für sich abbestellen muss, weil kein Geld da ist und ihm gesagt wird, seine Eltern sollten sich doch mal ein bisschen bemühen. Noch krasser ist die Szene in der Zahnarztpraxis in Paris, wo er vier Jahre lange seine kaputten, schiefen Zähne reparieren lässt, weil es mit einem solchen Gebiss niemand nach oben schafft. Die entsetzte Zahnärztin behauptet, jeder in Frankreich könne sich einen Zahnarztbesuch leisten. Schließlich gebe es die Krankenversicherung, die den größten Teil der Kosten abdeckt. Dass Menschen wie in seinem armen Dorf in der Provinz nicht einmal jeden Tag etwas zu essen haben, weiß auch sie nicht.
Mir hat das Buch gut gefallen, obwohl mir vieles bereits aus “Das Ende von Eddy“ und “Im Herzen der Gewalt“ bekannt war und wir ja auch wissen, wie die Geschichte ausgeht: Edouard Louis, 30, hat es geschafft und ist einer der führenden Autoren der französischen Gegenwartsliteratur.

Veröffentlicht am 03.08.2022

Immigrantenschicksale

Eine Feder auf dem Atem Gottes
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In ihrem im Original schon 1995 erschienenen autobiografisch gefärbten Debütroman erzählt Sigrid Nunez die Geschichte einer Immigrantenfamilie. Der Vater hat chinesische Wurzeln und stammt aus Panama. ...

In ihrem im Original schon 1995 erschienenen autobiografisch gefärbten Debütroman erzählt Sigrid Nunez die Geschichte einer Immigrantenfamilie. Der Vater hat chinesische Wurzeln und stammt aus Panama. Während seiner Zeit als Soldat in Deutschland lernt er seine deutsche Frau Christa kennen. Sie wandern in die USA aus und leben in Brooklyn. Die namenlose Ich-Erzählerin widmet ihm den ersten Abschnitt ihres Buches unter dem Titel Chang, denn so hieß er, bis er in den 30ern den spanischen Namen seiner Mutter annahm. Die Erzählerin kannte ihren Vater nicht wirklich, denn er hat immer nur gearbeitet und bis zu seinem Tod nie richtig Englisch gelernt. Im zweiten Abschnitt lernen wir die Mutter kennen, eine hübsche mal fröhliche, mal sehr traurige Frau, die zu unkontrollierbaren Wutanfällen neigte und teilweise recht rabiat mit ihren Töchtern umging. Sie hatte ihr Leben lang Heimweh nach Deutschland, fuhr aber nur noch selten in die Heimat. Sie war unglücklich in ihrer Ehe, ließ sich aber trotzdem nicht scheiden. Im dritten Abschnitt geht es um die Liebe der Protagonistin zum Ballett. Sie nimmt vom 12. Lebensjahr an Ballettstunden, muss aber bald einsehen, dass das du spät ist, um eine Ballerina zu werden. Sie hat große Schmerzen beim Training, besonders bei dem Versuch, den Spitzentanz zu beherrschen. Im vierten Teil geht es um ihre Liebesbeziehung zu dem Russen Vadim aus Odessa, der anfangs Schüler in ihrem Englischkurs ist. Je besser sein Englisch wird, desto mehr erfährt sie aus seiner schlimmen Vergangenheit, so dass er ihr am Ende nur noch Angst macht.
Nunez beschreibt eindrucksvoll, was Entwurzelung und der Verlust von Heimat und Sprache mit den Menschen machen, welche besondere Verbindung zwischen Liebe und Sprache besteht und welche Macht Familie über unser Leben hat. Mir hat dieser Roman gut gefallen und ich empfehle ihn ohne Einschränkung.

Veröffentlicht am 16.05.2022

Chemie ist Veränderung

Eine Frage der Chemie
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Bonnie Garmus´ Debütroman „Eine Frage der Chemie“ zeichnet das Porträt einer jungen Amerikanerin in den 50er und 60er Jahren. Elizabeth Zott ist eine überdurchschnittlich intelligente und begabte Chemikerin. ...

Bonnie Garmus´ Debütroman „Eine Frage der Chemie“ zeichnet das Porträt einer jungen Amerikanerin in den 50er und 60er Jahren. Elizabeth Zott ist eine überdurchschnittlich intelligente und begabte Chemikerin. Sie will in ihrem Beruf ihren Weg gehen und nicht Hausfrau und Mutter sein, doch die Hürden scheinen unüberwindlich. Erst fliegt sie aus dem Promotionsprogramm an der UCLA, weil ihr Doktorvater nach ihrer Vergewaltigung verhindern will, dass sie ihm schadet. An einem Forschungsinstitut in Hastings arbeitet sie danach für einen geringen Lohn als Laborassistentin. Nur der geniale Chemiker Calvin Evans sieht ihr Potential. Sie verlieben sich, aber Elizabeth Zott will sie selbst bleiben, will keine Hochzeit und auch keine Kinder, um nicht fortan Mrs. Calvin Evans zu sein. Aber dann stirbt die Liebe ihres Lebens, und Elizabeth ist schwanger. Ihr wird gekündigt, weil eine Angestellte mit einem unehelichen Kind untragbar ist. Elizabeth bekommt einen Job bei einem Fernsehsender, wo sie die Kochsendung „Essen um sechs“ moderieren soll. Auch hier gibt es von Anfang an Konflikte, weil Elizabeth sich weigert, für sie inakzeptable Anweisungen zu befolgen... Auch der Chef des Senders wird sexuell übergriffig, aber Elizabeth weiß sich zu wehren. Ihre unkonventionelle Sendung ist beliebt, obwohl sie viel Chemiewissen enthält – nicht nur wegen der Gerichte, die sie kreiert, sondern auch, weil sie den Frauen Mut macht, niemals ihre Träume aufzugeben und Veränderungen in ihrem Leben in Angriff zu nehmen.
Garmus´ Roman ist lesenswert, weil er an vielen Beispielen zeigt, wie umfassend die Benachteiligung von Frauen war und wie wichtig die Gleichstellung der Geschlechter gesamtgesellschaftlich ist. Emanzipation wird als Thema nicht dogmatisch vermittelt, sondern eingebettet in eine berührende Geschichte mit viel Humor und Sprachwitz. Die Charaktere sind sorgfältig gezeichnet, nicht zuletzt auch die Figur des klugen, empathischen Hundes Halbsieben, der Elizabeth beschützt und ihr bei der Arbeit und der Betreuung der kleinen Tochter Madeline hilft. Erschreckend ist, was ihr alles widerfährt. Da sind nicht nur die Verleumdungen und sexuellen Übergriffe, sondern auch der schamlose Diebstahl von geistigem Eigentum. Ihr Chef am Forschungsinstitut veröffentlicht ihre Forschungsergebnisse unter seinem Namen, spricht ihr jedoch gegenüber Reportern jegliche Befähigung zu einer wissenschaftlichen Tätigkeit ab, genauso wie der Vergewaltiger von der UCLA. Beide stellen sie ziemlich unverblümt als Schlampe dar.
Mir hat der berührende und auch sprachlich gelungene Roman sehr gefallen, und ich empfehle ihn ohne Einschränkung.

Veröffentlicht am 06.04.2022

Das Leben ist nicht simpel

Liebesheirat
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Joe Sangster und Yasmin Ghorami sind zwei junge Ärzte in London. Yasmins Eltern sind aus Kalkutta eingewandert und leben im Süden Londons. Joe entstammt der gut situierten Mittelschicht. Seine Mutter Harriet ...

Joe Sangster und Yasmin Ghorami sind zwei junge Ärzte in London. Yasmins Eltern sind aus Kalkutta eingewandert und leben im Süden Londons. Joe entstammt der gut situierten Mittelschicht. Seine Mutter Harriet genannt Harry ist eine bekannte Feministin und Aktivistin, die gern im Radio und im Fernsehen mit ihren Beiträgen provoziert. Joes Vater hat nie mit der Familie gelebt. Joe und Yasmin wollen in Kürze heiraten. Zu den Hochzeitsvorbereitungen gehört auch, dass sich die beiden Familien kennenlernen. Die beiden Mütter verstehen sich trotz aller Gegensätze überraschend gut. Trotzdem gehen die Auffassungen über die Gestaltung der Hochzeit sehr weit auseinander, und es gibt in beiden Familien viel Konfliktpotenzial. Lügen und Geheimnisse, die vor den eigenen Kindern bewahrt worden sind, kommen ans Licht, ungesunde Eltern-Kind-Beziehungen, die für psychische Störungen in der nächsten Generation sorgen. Ohne Bewältigung der Vergangenheit gibt es keine Zukunft - für Yasmin und Joe, Yasmins jüngeren Bruder Arif mit seiner Partnerin Lucy genauso wenig wie für die Generation der Eltern.
Die mit wechselnder Perspektive sehr einfühlsam erzählte Geschichte ist viel mehr als eine Liebesgeschichte mit ein paar Komplikationen. Der Roman behandelt eine Vielzahl von Themen: Familie, Immigration, kulturelle Identität, Rasse, Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse. Der Leser fragt sich lange Zeit, welche Verbindung im Roman die Liebesheirat des Titels ist – die Ehe der Ghoramis oder die geplante Eheschließung der jungen Ärzte. Alle Figuren des Romans durchlaufen einen Lernprozess, verändern sich und begreifen, dass sie offen und verständnisvoll miteinander umgehen müssen, nichts unter den Teppich kehren dürfen, damit ihr Leben funktioniert: „Das Leben ist nicht simpel.“ (S. 591) Das trifft es genau.

Veröffentlicht am 16.03.2022

Exponiert im Netz

Die Kinder sind Könige
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In Delphine de Vigans neuem Roman “Die Kinder sind Könige“ sind die Kinder nicht wirklich Könige. Im Mittelpunkt steht Mélanie mit ihrer Familie. Melanie hat schon als junges Mädchen für Big Brother geschwärmt ...

In Delphine de Vigans neuem Roman “Die Kinder sind Könige“ sind die Kinder nicht wirklich Könige. Im Mittelpunkt steht Mélanie mit ihrer Familie. Melanie hat schon als junges Mädchen für Big Brother geschwärmt und sich als junge Frau vergeblich als Kandidatin für eine Reality Show beworben. Sie will beachtet und geliebt werden. Als sie nach ihrer Heirat mit Bruno Diore die Kinder Sam und zwei Jahre später Kim bekommt, fühlt sie sich unausgefüllt und will ihrem Leben Sinn geben, indem sie zunächst auf Facebook Fotos postet, später mit anderen Müttern im Netz in Kontakt tritt und schließlich den Channel Happy Récré gründet. Sie postet Videos ihrer Kinder beim Unboxing, beim Auspacken von Geschenkpaketen von Firmen, mit denen sie Werbeverträge abgeschlossen hat, von Einkaufsorgien und immer neuen Challenges und Spielen. Zunächst sind es wenige Videos pro Woche, später wird täglich mehr oder weniger den ganzen Tag gefilmt und gepostet. Zu diesem Zeitpunkt sind die Kinder 8 und 6 Jahre alt. 500 Millionen Anfragen und 5 Millionen Follower sorgen für ein beträchtliches Einkommen der Familie, so dass Ehemann Bruno seinen Beruf aufgibt und seine Frau bei diesem immer professioneller betriebenen Geschäft unterstützt.
Eines Tages verschwindet Kimmy spurlos beim Versteckspiel vor dem Haus. Die Polizei geht von einer Entführung aus, mit der Lösegeld erpresst werden soll. Hier kommt Ermittlerin Clara ins Spiel, die Vernehmungen protokolliert und die Akte erstellt. Sechs Tage lang bringen die Ermittlungen kein nennenswertes Ergebnis. Inzwischen ist jedoch deutlich, dass Mélanie nicht nur Bewunderer hat und viele ihre gnadenlose Ausbeutung der eigenen Kinder scharf kritisieren. Für Mélanie sind alle Vorwürfe Lügen. Angeblich sind ihre Kinder glücklich und haben Spaß an der Sache. Sie ignoriert Kimmys zunehmend ablehnende Haltung und tut sie als Laune ab. Es ist Mélanie, die nach ständiger Aufmerksamkeit giert, ihre Follower mit „meine Lieben“ anspricht und die ihre Kinder zwingt, auswendig gelernte Sätze zu sprechen und vor laufender Kamera Junkfood zu essen. Sie begreift nicht, dass sie Familienleben lediglich inszeniert, dass es keinerlei Privatsphäre mehr gibt und sie Sam und Kim ihrer Kindheit beraubt, indem sie sie tagesfüllend für verschiedene Foren arbeiten lässt.
In einem Schlussteil, der 12 Jahre später im Jahr 2031 spielt, sieht der Leser, was aus der Familie geworden ist, vor allem, mit welchen Spätfolgen der jahrelangen Ausbeutung ihre inzwischen erwachsenen Kinder zu kämpfen haben. Melanie ist beratungsresistent und nicht einsichtsfähig.
Delphine de Vigan hat einen spannenden, gut lesbaren Roman zum Thema Exposition von Kindern im Netz geschrieben und dabei auch die juristische Seite nicht vernachlässigt: das Recht am eigenen Bild und auf Löschung digitaler Spuren, gesetzliche Vorschriften zu Kinderarbeit, steuerliche Gesichtspunkte. Sie lenkt dabei die Aufmerksamkeit der Leser auf ein sehr wichtiges aktuelles Thema und wird dadurch hoffentlich viele zum Umdenken bewegen. Ich kenne fast alle ihre Bücher und bin auch dieses Mal wieder begeistert.