Profilbild von Marielle_liest

Marielle_liest

Lesejury-Mitglied
offline

Marielle_liest ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Marielle_liest über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 05.05.2024

So viele Tränen und so viel Liebe für diese Geschichte

Vor einem großen Walde
0

Saba ist noch ein Kind, als der Bürgerkrieg ein Leben in seiner Heimat immer schwieriger macht. Als sein Vater mit ihm und seinem Bruder Sandro nach Großbritannien flieht, müssen sie die Mutter zurücklassen. ...

Saba ist noch ein Kind, als der Bürgerkrieg ein Leben in seiner Heimat immer schwieriger macht. Als sein Vater mit ihm und seinem Bruder Sandro nach Großbritannien flieht, müssen sie die Mutter zurücklassen. Dass es nie gelingen wird, sie nachzuholen, wissen sie damals noch nicht. Doch unter dieser Gewissheit wird ihr Vater zerbrechen und zurückkehren nach Georgien.

Was er dort zu finden glaubt, können sich die beiden Söhne nicht erklären. Doch sie reisen ihm nach - einer nach dem anderen - und versuchen, zu retten, was von ihrer Familie noch übrig geblieben ist: ihren Vater.

🌲🌲🌲

Was es bedeutet, einen Krieg zu erleben und die Heimat verlassen zu müssen, das kann ich mir zum Glück nicht einmal ansatzweise vorstellen. Doch der Autor Leo Vardiashvili nimmt uns mit in ein Land, das schon so viele Male im Krieg zerstört wurde. Er zeigt uns, was die Menschen erleiden müssen, was ihnen genommen wird, jeden Tag aufs Neue, wie sie zerbrechen, wie sie ihre Lebensfreude verlieren, ihre Stimme, ihre Familie, wie sie alles verlieren.

Damit wir das alles überhaupt ertragen können, legt er den Schrecken des Krieges in die Hände des sympathischen Saba. Unglaublich charmant und liebenswürdig zeigt uns Saba seine Kindheit und lässt uns nachempfinden, warum er seinem Vater und seinem Bruder nach Georgien folgt. Wie es ihm gelingt, die Rätsel über deren Verbleib zu lösen, möchte ich natürlich nicht verraten. Aber es ist spannend, mitreißend, wahnsinnig schmerzhaft und fesselnd, so viel kann ich versprechen.

Insgesamt ist der Roman sehr düster und bedrückend, doch die Figuren sind so warmherzig, dass sie uns mit ihrem Galgenhumor immer wieder heraus rütteln und uns den Schrecken abnehmen. Weil sie so viel stärker sind als wir - weil nur sie das alles aushalten können.

Ich habe Sabas Geschichte sehr gerne gelesen, die so voll von starken Bildern war, so voll von Märchen und Sagen, so voller freundlicher Geister, so voller Leben und Energie, obwohl Tod und Verderben längst über Saba herrschen müssten. Doch das lässt er nicht zu - auch wenn es mir unbegreiflich ist, woher er diese Kraft nimmt.

Zurück bleibt für mich eine riesige Dankbarkeit für ein Schicksal, das es so gut mit mir meinte. Und zurück bleibt, dass ich Georgien mit anderen Augen sehen werde. Denn immer wieder wird mir klar, wie wenig ich eigentlich weiß, gerade wenn ich denke, so vieles zu wissen. Danke Leo, dass du diese traurige Geschichte mit so viel Licht und Glanz gefüllt hast, dass du uns Sabas Leben erzählt hast und damit so viel Wissen in die Welt der Unwissenden streust.

Veröffentlicht am 30.04.2024

Und alles hängt doch irgendwie zusammen

Unter dem Moor
0

1936, 1962, 1979/80 und heute. Gine, Sigrun und Nina erleben das Stettiner Haff zu vier verschiedenen Zeiten. Was Gine 1936 geschieht, schlägt den ersten Dominostein an und nimmt Einfluss auf ein knappes ...

1936, 1962, 1979/80 und heute. Gine, Sigrun und Nina erleben das Stettiner Haff zu vier verschiedenen Zeiten. Was Gine 1936 geschieht, schlägt den ersten Dominostein an und nimmt Einfluss auf ein knappes Jahrhundert im Leben dieser Frauen. Wo Gine damals das Landjahr durchstehen muss, finden Sigrun und Nina Orte der Erholung und Ruhe, bis für die drei Frauen genau hier plötzlich alles aus den Fugen gerät.

🌾🦌🌿

Lebenswege von Menschen kreuzen sich - tagein, tagaus. Lebenswege hängen voneinander ab, werden vorbestimmt und lassen nur diese eine Richtung zu. Oder haben wir immer eine Wahl? Das, was wir Zufall oder schicksalshafte Fügung nennen, lässt sich rückblickend häufig ganz leicht erklären. Doch steht unser Schicksal schon Jahrzehnte vorher fest und können die Grundsteine unseres Lebens von wildfremden Personen gelegt werden?

Tanja Weber erzählt die Geschichte von Gine, Sigrun und Nina und geht dabei diesen Fragen auf die Spur. Oftmals betrachten wir die Ereignisse herausgelöst aus ihrem Rahmen, doch welch spannender Zusammenhang sich hinter einem Puzzleteilchen verbirgt und wie viele Leben von einem winzigen Moment abhängen, ist mehr als beeindruckend.

Der Autorin gelingt es, diese Spannung über alle 350 Seiten aufrecht zu erhalten und lässt uns als Leser:innen dabei ein Rätsel nach dem anderen lösen. Das große Ganze zu bestaunen, die Lücken zu schließen und viele magische Aha-Moment zu entschlüsseln, hat mir beim Lesen unglaublich viel Spaß gemacht.

Sowohl die drei Hauptfiguren als auch die Nebencharaktere waren sehr authentisch und interessant. Auch wenn wir die ganze Wahrheit natürlich erst am Ende erfahren. So begleiten mich Faszination und Neugier von der ersten Seite bis zur letzten.

Ein echtes Highlight war für mich die deutsche Geschichte, die ich so intensiv wie selten nacherleben konnte. Ebenso wie die beeindruckende Natur des Stettiner Haff und die Tierwelt, die eine tragende Rolle in diesem Roman spielt. Insgesamt eine riesige Leseempfehlung von mir!

Veröffentlicht am 27.04.2024

Es beginnt und endet am Wilmersee

Es gibt keine Wale im Wilmersee
0

Eine Eisschicht überzieht den Wilmersee, als die Schwestern acht Jahre alt sind. Dann geschieht das Schlimmste, was eine Familie erleben kann, verkraften muss - oder niemals verkraften kann. Das Eis bricht, ...

Eine Eisschicht überzieht den Wilmersee, als die Schwestern acht Jahre alt sind. Dann geschieht das Schlimmste, was eine Familie erleben kann, verkraften muss - oder niemals verkraften kann. Das Eis bricht, beide Mädchen werden in die Tiefe gerissen und nur ein Mädchen kann gerettet werden. Wie soll eine Familie das verkraften? Wie kann eine Schwester ohne die andere weiterleben?

🐋🐋🐋

Es gibt Schicksalsschläge, für die es keine Worte gibt. Dieser unendliche Schmerz erreicht mich bereits auf der ersten Seite. Doch wenn es keine Worte gibt für das Geschehene, dann ist da am Anfang nur ein riesiger Knoten, der alles einnimmt und nichts freilässt.

Laura Dürrschmidt gelingt es, zusammen mit der überlebenden Schwester und zusammen mit mir als Leserin, Faden für Faden aus dem Knoten zu lösen, alles nach und nach zu entheddern, zu entzerren, zu befreien. Aus einem wirren Knäuel wird ein Netz aus hauchdünnen Fasern, so empfindlich, dass es jeden Moment reißen könnte. Doch als Jora auftaucht, kehrt endlich ein wenig Halt und Stabilität zurück. Und auch die Worte kommen langsam wieder.

Der poetische Schreibstil des Romans hat so sehr meinen Geschmack getroffen, wie ich es nie für möglich gehalten hätten. So oft habe ich die Sätze mehrmals gelesen - weil sie so schön sind und weil es so viel Spaß macht, die Feinheiten zwischen den Zeilen zu suchen und zu finden.

Auch wenn es wirklich keine Wale im Wilmersee gibt, ist die Natur ständig so präsent, dass sie die Fäden in den Händen hält. So ist es auch die Natur, die in einem schreiend mächtigen Bild die letzten Worte des Romans ins Eis kratzt. Und dieses allerletzte Bild ist so gigantisch, dass ich noch lange in diesem Moment verharrte - und es wirkt nach.

Wow! Was für ein gewaltiger und faszinierender Roman!

Veröffentlicht am 24.04.2024

Der Gesang der Kalanderlerche

Nostalgia Siciliana
0

Tita ist noch ein Kind, als ihr Papa Gianni stirbt und sie, ihr Bruder und ihre Mama allein in Berlin zurückbleiben. Erst 26 Jahre später, als auch Titas Onkel stirbt, beginnt ihre Reise zurück zu ihren ...

Tita ist noch ein Kind, als ihr Papa Gianni stirbt und sie, ihr Bruder und ihre Mama allein in Berlin zurückbleiben. Erst 26 Jahre später, als auch Titas Onkel stirbt, beginnt ihre Reise zurück zu ihren Wurzeln - nach Sizilien. In vielen verschiedenen Zeiten dürfen wir zurückblicken in Titas und auch in Giannis Vergangenheit. Wird sich Tita entscheiden zwischen Berlin und Sizilien und wird sie auf ihr Herz hören?

🍋🍋🍋

Ich hätte nie für möglich gehalten, bei einer Familiengeschichte so sehr mitzufiebern. Obwohl wir von Anfang an wissen, dass Gianni bereits als junger Vater gestorben ist, lässt die Autorin seine Geschichte so warm und voller Emotionen aufleben, dass ich Sizilien mit allen Sinnen nachfühlen kann.

Ebenso aufregend sind Titas Erlebnisse in Sizilien als erwachsene Frau, die sich auf Spurensuche begibt, um ihre Familiengeschichte zu erfahren, die Jahrzehnte lang im Verborgenen lag.

Die Autorin Patrizia Di Stefano erzählt Titas Leben, das ganz nah dran ist an ihrem eigenen - gespickt mit zahlreichen Ereignissen, die sich genauso zugetragen haben. Ihr lebendiger Schreibstil versprüht dabei die sizilianische Wärme, die Düfte und Geschmäcker und vor allem die Kontraste der Insel, die schönen Seiten und auch die hässlichen.

Ich habe diesen Roman unglaublich gern gelesen. Es war, als wäre ich dabei - auf Sizilien, in Giannis Vergangenheit und auf Titas Reise. Schmerz und Freude, Melancholie und Sehnsucht so dicht beieinander. Und beim Umblättern kann ich den einzigartigen Geruch riechen, wenn der erste Regen nach Monaten auf die staubige, trockene Erde fällt.

Riesige Leseempfehlung für eine Geschichte, die mir in Erinnerung bleiben wird. Sie bekommt dort ein Plätzchen unter dem alten Carrubo, auf dessen Ast die Kalanderlerche sitzt und ein süßes und ebenso bitteres Lied singt.

Veröffentlicht am 28.03.2024

So aktuell, so berührend, so wichtig!

Alles gut
1

Zwei Menschen aus völlig verschiedenen Welten und mit ebenso verschiedenen Ansichten lernen sich in der Uni kennen. Einige Zeit später treffen sie sich bei ihrem ersten Job in der Finanzbranche in New ...

Zwei Menschen aus völlig verschiedenen Welten und mit ebenso verschiedenen Ansichten lernen sich in der Uni kennen. Einige Zeit später treffen sie sich bei ihrem ersten Job in der Finanzbranche in New York wieder und müssen zusammenarbeiten. Jess ist weiblich und schwarz und kämpft jeden Tag aufs Neue für ihre Rechte. Josh ist männlich und weiß und hat ein ziemlich konservatives Mindset. Trotzdem finden die beiden zueinander, beginnen zu sprechen und werden Freunde. Und dann wird die Anziehungskraft immer größer.

„Alles gut“ hat irgendetwas in mir ausgelöst, das ich bis heute nicht genau erklären kann. Es hat einen Nerv getroffen, es hat Themen aufgegriffen, die mir wichtig sind, es hat so sehr berührt und mich zum Weinen gebracht und es hat getröstet und versöhnt. Ich bin schockverliebt und habe ein Jahreshighlight für mich gefunden.

Eigentlich greife ich nicht zu Liebensromanen und trotzdem habe ich es bei diesem Buch getan. Jetzt weiß ich, dass dieses Buch von so viel mehr als Liebe handelt. Und trotzdem sagt es etwas über die Liebe aus, was mich tief bewegt hat: Wir müssen nicht gleich sein, um zu lieben, wir müssen nicht immer einer Meinung sein und manchmal dürfen wir uns sogar hassen. Auf welchem instabilen Fundament Jess und Josh ihre Beziehung aufbauen, ist erstaunlich. Und andauernd geraten die Wände ins Wanken, doch trotzdem ist da eine unsichtbare Kraft, die die beiden verbindet.

Ich bin fasziniert, wie es der Autorin gelingt, so wichtige Themen wie Rassismus, Gleichberechtigung und toxische Männlichkeit auf die Alltagsebene zu bringen – ganz genau dorthin, wo sie entsteht und wo wir immer wieder damit konfrontiert werden. Dieses Buch ist überall auf der Welt so wichtig und aktuell. Es schreit uns die Probleme schonungslos ins Gesicht und erzählt dabei eine Geschichte, die wir alle nachfühlen können. Dieses Buch müsste ein Pflichtbuch sein – ich bin sicher, es kann so vieles (aus-)lösen! Riesige Empfehlung aus tiefstem Herzen!