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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 18.05.2024

Was das Auge des Wals erzählt

Zur See
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Da sind die fünf Sanders - Hanne und Jens mit ihren drei erwachsenen Kindern Ryckmer, Eske und Henrik. Sie leben ein Inselleben vor der Nordseeküste und wir dürfen sie ein Jahr lang dabei begleiten. Und ...

Da sind die fünf Sanders - Hanne und Jens mit ihren drei erwachsenen Kindern Ryckmer, Eske und Henrik. Sie leben ein Inselleben vor der Nordseeküste und wir dürfen sie ein Jahr lang dabei begleiten. Und dann ist da noch der Inselpastor, der die Balance finden muss zwischen seiner Ehe und der Arbeit in der Kirche.

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Dörte Hansen lässt uns in „Zur See“ tief blicken in die Seelen der Sanders und des Inselpastors. Die Charaktere könnten verschiedener nicht sein, und ganz bestimmt findet man sich selbst in einem der Inselbewohnerinnen wieder.

Mit großer Sorgfalt und ganz viel Feingefühl gelingt es der Autorin, die Gefühle jedes Einzelnen authentisch und nachvollziehbar aufs Papier zu bringen. Selbst wenn ich eine Figur zuerst auch noch so verschroben fand, entwickelte ich im Laufe der Kapitel Verständnis und Empathie.

Eine Museumsführerin, ein Vogelwart, ein Fährkapitän, eine Altenpflegerin, ein Strandgutkünstler und ein Pastor - verschiedener geht es kaum und dennoch teilen sie ähnliche Wünsche und Sorgen.

Es ist das starke Heimatgefühl, das alle sechs eint. Die Verbundenheit mit der Insel und das Bröckeln des Fundaments. Durch den Klimawandel, durch den Tourismus, durch das harte Inselleben, durch familiäre Katastrophen, durch den Verlust von Tradition und Sprache, durch Missverständnisse und Suchtprobleme, durch eine Kindheit ohne Halt und Wärme - durch all dies gerät die Inselwelt ins Wanken.

Ein wahres Highlight war für mich das Kapitel des Wals, das so wunderbar zeigte, dass das wichtige Erbe und das Seemannswissen der Inselbewohner
innen schon längst nicht mehr so präsent sind, wie sie es erwartet hätten und nach außen hin verkörpern möchten. Außerdem steht der Wal in meinen Augen für ein Omen, für einen Wink des Schicksals und für eine Wendung - was mir unglaublich gut gefallen hat.

Eine riesige Empfehlung für einen Roman, der in einer unfassbar atmosphärischen Sprache ein Meisterwerk aus Bildern schafft mit der perfekt gewichteten Brise Melancholie.

Veröffentlicht am 09.05.2024

Wutausbrüche und der Weg zur Wahrheit

Ein simpler Eingriff
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Marianne spürt eine Wut in sich - unkontrolliert, nicht zu bändigen und unberechenbar. Für den Doktor ist klar, es handelt sich um, bei Frauen so weit verbreitete, Hysterie. Und er ist überzeugt, es gibt ...

Marianne spürt eine Wut in sich - unkontrolliert, nicht zu bändigen und unberechenbar. Für den Doktor ist klar, es handelt sich um, bei Frauen so weit verbreitete, Hysterie. Und er ist überzeugt, es gibt einen Weg, diesen Fehler zu beheben: einen simplen Eingriff.

Meret ist einfühlsam, verständnisvoll und empathisch. In der Klinik wird sie damit zur wichtigsten Assistentin des Doktors, um die Eingriffe durchführen zu können. Bis Sarah in Merets Leben tritt, bis die ersten Zweifel kommen, bis sie ihre Zweifel äußert.

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Junge Frauen mit traumatischer Vergangenheit, mit schrecklichen Erinnerungen entwickeln ein Ventil, um auszuhalten, was nie verarbeitet wurde. Sie fallen damit aus der Norm, sie verhalten sich nicht rollenkonform und sind eine Belastung für die Gesellschaft.

Yael Inokai erzählt in ihrem Roman, wie Mitte des 20. Jahrhunderts an Methoden geforscht wurde, um die Frauen zu „heilen“, die abnormale Verhaltensweisen aufwiesen. Aus den liebevollen Augen von Meret können wir das System beobachten, bis das Bild zu flimmern beginnt, bis die Sicht verschwimmt und bis wir auf einmal messerscharf sehen können, was hier wirklich geschieht.

Viele Details und Nuancen muss die Autorin nur ganz sanft andeuten und sofort wird es laut in meinem Kopf. Eine Wut, wie die von Marianne, beginnt zu brodeln. Ungerechtigkeit schreit zwischen den Worten hervor. Und der Wunsch, dass Meret erkennt, was schief läuft, dass sie Sarah zuhört, wächst von Seite zu Seite. Ich blättere zügig um, will wissen, was als nächstes passiert. Wacht sie auf? Erkennt sie die Gefahr?

Homophobie, Sexismus, Machtmissbrauch, das Patriarchat - all das sind Themen, die uns in diesem Roman auf beeindruckende Weise vor Augen geführt werden. Wie erschreckend, dass sie noch heute ebenso penetrant blenden.

Eine riesige Empfehlung für einen Roman, der in schwebender Sprache von wundervollen und sympathischen Protagonistinnen erzählt. Eine fesselnde Thematik mit berührender Handlung zum Mitfiebern, Hoffen und Mitfühlen bilden den Rahmen für ein stimmiges Gesamtbild.

Veröffentlicht am 05.05.2024

So viele Tränen und so viel Liebe für diese Geschichte

Vor einem großen Walde
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Saba ist noch ein Kind, als der Bürgerkrieg ein Leben in seiner Heimat immer schwieriger macht. Als sein Vater mit ihm und seinem Bruder Sandro nach Großbritannien flieht, müssen sie die Mutter zurücklassen. ...

Saba ist noch ein Kind, als der Bürgerkrieg ein Leben in seiner Heimat immer schwieriger macht. Als sein Vater mit ihm und seinem Bruder Sandro nach Großbritannien flieht, müssen sie die Mutter zurücklassen. Dass es nie gelingen wird, sie nachzuholen, wissen sie damals noch nicht. Doch unter dieser Gewissheit wird ihr Vater zerbrechen und zurückkehren nach Georgien.

Was er dort zu finden glaubt, können sich die beiden Söhne nicht erklären. Doch sie reisen ihm nach - einer nach dem anderen - und versuchen, zu retten, was von ihrer Familie noch übrig geblieben ist: ihren Vater.

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Was es bedeutet, einen Krieg zu erleben und die Heimat verlassen zu müssen, das kann ich mir zum Glück nicht einmal ansatzweise vorstellen. Doch der Autor Leo Vardiashvili nimmt uns mit in ein Land, das schon so viele Male im Krieg zerstört wurde. Er zeigt uns, was die Menschen erleiden müssen, was ihnen genommen wird, jeden Tag aufs Neue, wie sie zerbrechen, wie sie ihre Lebensfreude verlieren, ihre Stimme, ihre Familie, wie sie alles verlieren.

Damit wir das alles überhaupt ertragen können, legt er den Schrecken des Krieges in die Hände des sympathischen Saba. Unglaublich charmant und liebenswürdig zeigt uns Saba seine Kindheit und lässt uns nachempfinden, warum er seinem Vater und seinem Bruder nach Georgien folgt. Wie es ihm gelingt, die Rätsel über deren Verbleib zu lösen, möchte ich natürlich nicht verraten. Aber es ist spannend, mitreißend, wahnsinnig schmerzhaft und fesselnd, so viel kann ich versprechen.

Insgesamt ist der Roman sehr düster und bedrückend, doch die Figuren sind so warmherzig, dass sie uns mit ihrem Galgenhumor immer wieder heraus rütteln und uns den Schrecken abnehmen. Weil sie so viel stärker sind als wir - weil nur sie das alles aushalten können.

Ich habe Sabas Geschichte sehr gerne gelesen, die so voll von starken Bildern war, so voll von Märchen und Sagen, so voller freundlicher Geister, so voller Leben und Energie, obwohl Tod und Verderben längst über Saba herrschen müssten. Doch das lässt er nicht zu - auch wenn es mir unbegreiflich ist, woher er diese Kraft nimmt.

Zurück bleibt für mich eine riesige Dankbarkeit für ein Schicksal, das es so gut mit mir meinte. Und zurück bleibt, dass ich Georgien mit anderen Augen sehen werde. Denn immer wieder wird mir klar, wie wenig ich eigentlich weiß, gerade wenn ich denke, so vieles zu wissen. Danke Leo, dass du diese traurige Geschichte mit so viel Licht und Glanz gefüllt hast, dass du uns Sabas Leben erzählt hast und damit so viel Wissen in die Welt der Unwissenden streust.

Veröffentlicht am 30.04.2024

Und alles hängt doch irgendwie zusammen

Unter dem Moor
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1936, 1962, 1979/80 und heute. Gine, Sigrun und Nina erleben das Stettiner Haff zu vier verschiedenen Zeiten. Was Gine 1936 geschieht, schlägt den ersten Dominostein an und nimmt Einfluss auf ein knappes ...

1936, 1962, 1979/80 und heute. Gine, Sigrun und Nina erleben das Stettiner Haff zu vier verschiedenen Zeiten. Was Gine 1936 geschieht, schlägt den ersten Dominostein an und nimmt Einfluss auf ein knappes Jahrhundert im Leben dieser Frauen. Wo Gine damals das Landjahr durchstehen muss, finden Sigrun und Nina Orte der Erholung und Ruhe, bis für die drei Frauen genau hier plötzlich alles aus den Fugen gerät.

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Lebenswege von Menschen kreuzen sich - tagein, tagaus. Lebenswege hängen voneinander ab, werden vorbestimmt und lassen nur diese eine Richtung zu. Oder haben wir immer eine Wahl? Das, was wir Zufall oder schicksalshafte Fügung nennen, lässt sich rückblickend häufig ganz leicht erklären. Doch steht unser Schicksal schon Jahrzehnte vorher fest und können die Grundsteine unseres Lebens von wildfremden Personen gelegt werden?

Tanja Weber erzählt die Geschichte von Gine, Sigrun und Nina und geht dabei diesen Fragen auf die Spur. Oftmals betrachten wir die Ereignisse herausgelöst aus ihrem Rahmen, doch welch spannender Zusammenhang sich hinter einem Puzzleteilchen verbirgt und wie viele Leben von einem winzigen Moment abhängen, ist mehr als beeindruckend.

Der Autorin gelingt es, diese Spannung über alle 350 Seiten aufrecht zu erhalten und lässt uns als Leser:innen dabei ein Rätsel nach dem anderen lösen. Das große Ganze zu bestaunen, die Lücken zu schließen und viele magische Aha-Moment zu entschlüsseln, hat mir beim Lesen unglaublich viel Spaß gemacht.

Sowohl die drei Hauptfiguren als auch die Nebencharaktere waren sehr authentisch und interessant. Auch wenn wir die ganze Wahrheit natürlich erst am Ende erfahren. So begleiten mich Faszination und Neugier von der ersten Seite bis zur letzten.

Ein echtes Highlight war für mich die deutsche Geschichte, die ich so intensiv wie selten nacherleben konnte. Ebenso wie die beeindruckende Natur des Stettiner Haff und die Tierwelt, die eine tragende Rolle in diesem Roman spielt. Insgesamt eine riesige Leseempfehlung von mir!

Veröffentlicht am 27.04.2024

Es beginnt und endet am Wilmersee

Es gibt keine Wale im Wilmersee
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Eine Eisschicht überzieht den Wilmersee, als die Schwestern acht Jahre alt sind. Dann geschieht das Schlimmste, was eine Familie erleben kann, verkraften muss - oder niemals verkraften kann. Das Eis bricht, ...

Eine Eisschicht überzieht den Wilmersee, als die Schwestern acht Jahre alt sind. Dann geschieht das Schlimmste, was eine Familie erleben kann, verkraften muss - oder niemals verkraften kann. Das Eis bricht, beide Mädchen werden in die Tiefe gerissen und nur ein Mädchen kann gerettet werden. Wie soll eine Familie das verkraften? Wie kann eine Schwester ohne die andere weiterleben?

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Es gibt Schicksalsschläge, für die es keine Worte gibt. Dieser unendliche Schmerz erreicht mich bereits auf der ersten Seite. Doch wenn es keine Worte gibt für das Geschehene, dann ist da am Anfang nur ein riesiger Knoten, der alles einnimmt und nichts freilässt.

Laura Dürrschmidt gelingt es, zusammen mit der überlebenden Schwester und zusammen mit mir als Leserin, Faden für Faden aus dem Knoten zu lösen, alles nach und nach zu entheddern, zu entzerren, zu befreien. Aus einem wirren Knäuel wird ein Netz aus hauchdünnen Fasern, so empfindlich, dass es jeden Moment reißen könnte. Doch als Jora auftaucht, kehrt endlich ein wenig Halt und Stabilität zurück. Und auch die Worte kommen langsam wieder.

Der poetische Schreibstil des Romans hat so sehr meinen Geschmack getroffen, wie ich es nie für möglich gehalten hätten. So oft habe ich die Sätze mehrmals gelesen - weil sie so schön sind und weil es so viel Spaß macht, die Feinheiten zwischen den Zeilen zu suchen und zu finden.

Auch wenn es wirklich keine Wale im Wilmersee gibt, ist die Natur ständig so präsent, dass sie die Fäden in den Händen hält. So ist es auch die Natur, die in einem schreiend mächtigen Bild die letzten Worte des Romans ins Eis kratzt. Und dieses allerletzte Bild ist so gigantisch, dass ich noch lange in diesem Moment verharrte - und es wirkt nach.

Wow! Was für ein gewaltiger und faszinierender Roman!