Cover-Bild Außer sich
22,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Suhrkamp
  • Themenbereich: Belletristik - Belletristik: zeitgenössisch
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 366
  • Ersterscheinung: 11.09.2017
  • ISBN: 9783518427620
Sasha Marianna Salzmann

Außer sich

Roman

Sie sind zu zweit, von Anfang an, die Zwillinge Alissa und Anton. In der kleinen Zweizimmerwohnung im Moskau der postsowjetischen Jahre verkrallen sie sich in die Locken des anderen, wenn die Eltern aufeinander losgehen. Später, in der westdeutschen Provinz, streunen sie durch die Flure des Asylheims, stehlen Zigaretten aus den Zimmern fremder Familien und riechen an deren Parfumflaschen. Und noch später, als Alissa schon ihr Mathematikstudium in Berlin geschmissen hat, weil es sie vom Boxtraining abhält, verschwindet Anton spurlos. Irgendwann kommt eine Postkarte aus Istanbul – ohne Text, ohne Absender. In der flirrenden, zerrissenen Stadt am Bosporus und in der eigenen Familiengeschichte macht sich Alissa auf die Suche – nach dem verschollenen Bruder, aber vor allem nach einem Gefühl von Zugehörigkeit jenseits von Vaterland, Muttersprache oder Geschlecht.

Wer sagt dir, wer du bist? Davon und von der unstillbaren Sehnsucht nach dem Leben selbst und seiner herausfordernden Grenzenlosigkeit erzählt Sasha Marianna Salzmann in ihrem Debütroman Außer sich . Intensiv, kompromisslos und im besten Sinn politisch.

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Lesejury-Facts

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 08.04.2018

Identitätssuche auf verschiedenen Ebenen

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Ali reist nach Istanbul, um dort ihren Bruder Anton zu suchen. Denn seit dieser verschwunden ist hat er nichts von sich hören lassen, nur eine Postkarte aus ebendieser Stadt hat er geschickt. Doch wie ...

Ali reist nach Istanbul, um dort ihren Bruder Anton zu suchen. Denn seit dieser verschwunden ist hat er nichts von sich hören lassen, nur eine Postkarte aus ebendieser Stadt hat er geschickt. Doch wie findet man einen Bruder in einer solchen Metropole? Bald trifft sie auf Katho, der ihre Gedanken rund um ihre Identität ins Wirbeln bringt, und auf ihre Erinnerungen an all die Geschichten ihrer Familie in den Generationen vor ihr.

Das Buch beginnt mit einer kurzen Erinnerung von Ali daran, wie sie mit ihrer Familie von Russland nach Deutschland gekommen ist. Danach trifft der Leser ihr erwachsenes Ich bei ihrer Ankunft in Istanbul wieder. Sie geht dem einzigen Hinweis auf den Verbleib ihres Bruders nach. Der Onkel eines Freundes kümmert sich vor Ort ein wenig um sie, und bald lag ich gedanklich neben Ali auf dessen wanzenbefallenem Sofa und tauchte ein in ihre Erinnerungen und Überlegungen.

Die Ereignisse im Buch sind nicht chronologisch erzählt und schon bald gerät Alis Suche nach Anton in den Hintergrund. Viel wichtiger wird ihre Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. Da ist zum einen Katho, der eigentlich eine Sie ist, sich aber schon länger Testosteron spritzt und damit eine Möglichkeit nutzt, mit der auch Ali sich bei der Frage „Wer will ich sein“ beschäftigt. Ali beobachtet viel; dabei weiß man oft nicht, was Realität ist und was nur Illusion. Oft lässt sie sich und ihre Gedanken treiben ohne Ambition auf ein irgendwo Ankommen. Ich gewann immer mehr Informationen über sie als Person hinzu und konnte sie doch nie ganz greifen.

Zum anderen taucht man immer tiefer in die Geschichten einzelner Vorfahren ein: Der ihrer Eltern, der Eltern ihrer Mutter, der Eltern dieser Großmutter… Man erfährt, was diese bewegt hat, wie sie gelebt haben und wonach sie sich gesehnt haben. Als russische Juden wurden sie über die Jahrzehnte immer wieder Opfer von Ausgrenzung und Gewalt und haben für die Realisierung von ganz unterschiedlichen Vorstellungen eines ausgefüllten Lebens gekämpft. Beim Lesen der verschiedenen Lebensgeschichten entsteht allmählich ein Eindruck, der sich für mich wie ein Puzzle anfühlte, bei dem nicht alle Teile zusammenpassen und trotzdem die Ahnung eines Bildes entsteht. Hilft all das Ali, für sich selbst und ihre Zukunft Klarheit zu schaffen? Das wird nicht abschließend beantwortet. In jedem Fall hilft es beim Blick zurück und dem Verständnis, wo sie herkommt.

Die Suche nach der eigenen Identität dreht sich um Heimat, Familie und das eigene Fühlen, zu einem großen Teil aber auch um die sexuelle Identität. Viele der insbesondere in der Gegenwart handelnden Personen haben zu dieser ein aus meiner Sicht gestörtes Verhältnis. Die Frage, ob man sich als Mann oder Frau fühlt ist völlig berechtigt und heute kein Tabu mehr. Doch es wird mit Männern und Frauen fast jeden Alters geschlafen, auch innerhalb der eigenen Familie; Prostitution, Missbrauch und Vergewaltigung werden thematisiert. Die oft abstoßenden Schilderungen erschreckten mich und ebenso die Apathie, mit der so mancher Charakter das hinnahm. Der Roman überschreitet hier bewusst Grenzen und rückt dafür andere Aspekte in den Hintergrund, über die ich gerne mehr erfahren hätte, wie die Reaktionen auf Alis Wandlung und ihre Jugend in Deutschland. Der Abschluss ist schließlich wie das ganze Buch eine große Frage mit einer kleinen Antwort, ein mit stumpfer Schere abgeschnittener Faden, der zerfasert und mich aufgewühlt und in Gedanken vor allem bei Alis Familiengeschichte zurücklässt.

„Ausser sich“ berichtet von Ali, die in Istanbul nach Anton sucht, und mehr noch nach Antworten auf die Frage, wo sie herkommt und wer sie sein will. Die Struktur der Geschichte ist kunstvoll; dabei haben bei mir insbesondere die Puzzlestücke rund um Alis Vorfahren und ihre Einwanderung nach Deutschland einen Eindruck hinterlassen, während mir der Fokus auf einige Grenzüberschreitungen zu stark war. Das Lesen ist wie ein Segeln im Sturm, bei dem man mal hierhin, mal dorthin getragen wird und worauf man sich einlassen sollte.

Veröffentlicht am 07.10.2017

Außergewöhnlich !

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„Außer sich“ ist der Debütroman der Autorin Sasha Marianna Salzmann. Ein wirklich ungewöhnliches und beeindruckendes Buch, das komplett anders war, als alles was ich bisher gelesen habe.

Es geht um die ...

„Außer sich“ ist der Debütroman der Autorin Sasha Marianna Salzmann. Ein wirklich ungewöhnliches und beeindruckendes Buch, das komplett anders war, als alles was ich bisher gelesen habe.

Es geht um die Familiengeschichte der Zwillinge Alissa – genannt Ali – und Anton. Nachdem Anton verschwunden ist, begibt sich Ali nach Istanbul um ihn zu suchen. Zwischen den Szenen in Istanbul erfährt man durch Rückblenden mehr über die Familienverhältnisse, den Großeltern in Russland und den Eltern, die nach Deutschland übersiedeln, um ihren Kindern mehr bieten zu können.

Durch einen permanenten Wechsel der Erzählperspektive, der Orte und Zeiten, ist das Buch oft ein wenig verwirrend und manchmal ein wenig schwierig auseinanderzuhalten, was real ist und was sich nur in Alis Gedanken abspielt.
Die Sprache der Autorin ist sehr schön und ungewöhnlich. Informativ und interessant fand ich die politischen Ereignisse die man oft als Nebenbemerkung am Rande in die Geschichte eingeflossen sind.

Alis Suche nach Anton ist nicht nur die Suche nach ihrem Zwilling, sondern auch die nach sich selbst, ihrer Identität und ihren Wurzeln. Genauso orientierungslos wie Ali, habe ich mich auch beim Lesen gefühlt. Das Buch ist nicht einfach und/oder schnell zu lesen. In einigen Sätzen steckt so unendlich viel drin, dass man sie einfach mehrmals lesen muss und ihre Bedeutung erst im Laufe der weiteren Handlung richtig klar wird.

Das Buch beginnt mit einem Personenverzeichnis und schon dieses ist ungewöhnlich, da jede Person mit mehreren Namen hinterlegt ist.
Die Charaktere sind mir weder sympathisch noch unsympathisch gewesen, da ich bis zum Schluss eher ein distanziertes Verhältnis zu ihnen hatte.

Das Ende des Buches ist leider sehr offen gehalten und der Leser bleibt mit vielen Fragezeichen und Raum für eigene Gedanken zurück. Trotzdem möchte ich das Buch empfehlen, da so unglaublich viel in ihm drin steckt. Das ist mit Sicherheit kein Buch, dass man zur Seite stellt und vergisst, sondern eines das in Erinnerung bleibt.

Veröffentlicht am 02.10.2017

Wer sagt dir, wer du bist

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Alissa und Anton sind Zwillinge. Sie wachsen in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Moskau auf. Sie erleben die Zeit in Deutschland zusammen, wachsen in einem Asylheim auf. Ungefähr zu der Zeit als Alissa ...

Alissa und Anton sind Zwillinge. Sie wachsen in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Moskau auf. Sie erleben die Zeit in Deutschland zusammen, wachsen in einem Asylheim auf. Ungefähr zu der Zeit als Alissa ihr Mathematikstudium in Berlin geschmissen hat, verschwindet Anton spurlos. Als eine Postkarte ohne Adresse von ihm aus Istanbul kommt, macht sich Alissa auf die Reise um Anton zu suchen.

Dieses außergewöhnliche Cover ist schon ein Hingucker.
Man muss schon genau hinschauen, um es richtig zu erkennen.
Die Autorin hat eine wunderbare und sehr klare Ausdrucksstarke Sprache. Nüchtern und präzise wird das Leben eingefangen. Die Erzählperspektive wechselt oft mit den Kapiteln in verschiedene Zeitebenen und Orte. Moskau, Istanbul und Deutschland. Dieses Autobiografisch gefärbte Debüt schildert eine Zeit in der Juden in Russland und Russen in Deutschland diskriminiert werden. Ali streift durch die Familiengeschichte, sucht den verschwundenen Bruder, sucht Halt und am Ende sich selbst. Das Russische erscheint ihr viel zu blumig, übertrieben, aber mit dem Deutschen geht sie sehr unkompliziert um. Die einzelnen Episoden werden gekonnt zusammen gehalten.
Es ist der Autorin gelungen das sehr aktuelle Zeitgeschehen und politische Themen mit einzuflechten.
Das Buch nimmt einen gefangen und ist auf seine Art sehr einfühlsam und intensiv.
Ein wunderbares Debüt!

Veröffentlicht am 19.10.2017

Wer bin ich?

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Die Zwillinge Ali und Anton sind noch Kinder, als sie mit dem Vater zurück fahren, das erste Mal zurück nach Russland, von wo die Familie als jüdische „Kontingentflüchtlinge“ nach Deutschland ausgewandert ...

Die Zwillinge Ali und Anton sind noch Kinder, als sie mit dem Vater zurück fahren, das erste Mal zurück nach Russland, von wo die Familie als jüdische „Kontingentflüchtlinge“ nach Deutschland ausgewandert war, so lässt Sasha Marianna Salzmann ihren Roman mit einem kurzen Prolog beginnen. In den folgenden Kapiteln ist es die Perspektive von Ali, eigentlich Alissa, zuerst im „Heute“ in Istanbul, auf der Suche nach Zwilling Anton, dazwischen eingeblendet der Rückblick auf das Leben der Familie in Russland, das Leben der Eltern Valja und Kostja, der Großeltern, der Urgroßeltern. Zwischendurch wechselt die Perspektive vom auktorialen Erzähler zum Ich-Erzähler aus der Sicht Alis - doch die Autorin weiß noch mit einem weiteren Perspektivwechsel zu überraschen.

Das Buch ist anspruchsvoll, will man als Leser nicht die Spur verlieren zwischen den verschiedenen Handlungszeiten, Personen und Orten, dazu ist der Stil sehr bildhaft, teils wie in Traumsequenzen nebulös, assoziativ. Zum einen gibt es da den Handlungszweig der Familiengeschichte, immer mit der Komponente, was es in der jeweiligen Zeit bedeutete, Jude zu sein, was Bindungen bedeuteten, die Geschlechterrollen, Macht und Gewalt, Emigration, Zugehörigkeit. Nach dem Umzug nach Deutschland spätestens nimmt das Gefühl der Auflösung zu, die Familie gehört nirgends mehr richtig hin. Das setzt sich fort in den Identitäten der Zwillinge, wer ist wer, welche sexuelle Ausrichtung, welche Geschlechterzuordnung gilt.

Die Sprache – nun, da gibt es Bilder, die ich mag, wie über die älteren Männer in der Türkei „…dachte sie daran, dass alle Männer …diese Anzüge trugen, die aussahen, als wären sie in ihnen auf die Welt gekommen, als hätten sie in ihnen geschlafen und getrunken, gevögelt und sich geprügelt, wären damit in die Berge gegangen, um dort zu den Waffen zu greifen.“ S. 29 Das sind Bilder, die ich umsetzen kann. Dazu kommt noch eine teils verschlungen-verschachtelte Sprache, aber dann auch Sätze, Bilder, die für mich eher in den Nebel führen wie die (alb)traumhaften Sequenzen mit den fingergroßen Katzen.

Das Buch lässt mich ähnlich zerrissen zurück wie Ali, einerseits fällt mir immer mehr über das Buch ein, je länger ich darüber nachdenke, ich gehe Schritte zurück, lese nach, vergleiche; mir fällt auf, dass die erste Szene im Buch zweimal erlebt wird. Andererseits sind es mir etwas zu viele Geschichten auf einmal, Familiengeschichte, Russland, Migration, Integration, Identität, Zugehörigkeit, Vorurteile, Türkei, Deutschland. Ideal auf jeden Fall, das Buch in einer Gruppe zu lesen – bei den vielen Fragen, gerade bezüglich Anton, stellte ich mir irgendwann die Frage, die für mich zur Kernfrage des Buches wurde: ist das überhaupt wichtig? Ist es wichtig, ob Ali ein Mann sein will, Frauen liebt, die Männer sein wollen oder wo sie lebt; macht DAS ihre Identität aus? Und wenn es das nicht ist, was dann, was macht unsere Identität aus?

Dankbar war ich für das erste Kapitel in Istanbul, hätte das Buch mit dem zweiten begonnen, in Russland, hätte ich wohl abgebrochen (nicht gleich erschrecken, der Abschnitt ist wirklich nur kurz). Frauen werden verprügelt und vergewaltigt (nein, man ist nicht dabei, es wird als „üblich“ erwähnt, auch einiges andere wird so abgehandelt), von Tierquälerei wird berichtet, Eltern saufen, dazu Judenhass, Abtreibungen als Familienplanung – ich konnte schon „Das kalte Licht der fernen Sterne“ deshalb nicht leiden. Ernsthaft? Bei dem „kalten Licht“ wurde ich damals von anderen als zu verzärtelt oder unwissend tituliert; würde man jedoch über irgendein anderes Land oder eine andere Gruppe derart schreiben, bekäme man als Autor Rassismus, Chauvinismus oder ähnliches unterstellt, also was ist es nun?! Bücher zur Thematik Flüchtlinge sind mir zur Zeit meist zu naiv-optimistisch (mit Ausnahme von „Exit West“), geht es jedoch um Russland, empfinde ich sie geradewegs als das Gegenteil, selbst wenn es auch dort wie hier um Zuwanderung geht (nur zur Klarstellung; es geht nicht um persönliche Betroffenheit).

Das mag jetzt wenig politisch-korrekt sein, aber ich habe so eine Aversion gegen gehypte Themen, hier nervt mich diese Gender-Fixiertheit. Das Thema begann mal als erweiterte Feminismus-Debatte, dann ging es um den Kampf gegen Homophobie, alles noch Themen, die ich wichtig fand und denen ich folgen konnte, doch dann folgte eine immer neue Begrifflichkeit, eine immer stärkere Ausweitung von Begrifflichkeiten, transgender, genderfluid…. Bei mir stellen sich da Igel-Stacheln auf, ähnlich wie bei „Flexitarier“, Begriffe, die unbedingt irgend ein Fluidum greifen wollen, unbedingt nicht verletzen wollen, aber mir zu inhaltsbefreit sind im Versuch, jeglichen Inhalt zu begreifen. Lasst die Leute doch einfach leben. Ja, ich weiß, DAS genau ist das Problem, aber mit überfrachteten Anglizismen wird das kaum besser. Oder kann sich jemand einen, konkret, Schwulenhasser vorstellen, der dieses Buch zuende bringt?

Im Fazit komme ich am besten mit dem Buch klar, wenn ich es aus dem Blickwinkel sehe, dass es zwar Salzmanns Romandebüt ist, sie jedoch eine renommierte Bühnenautorin ist: ich nehme es am „griffigsten“ wahr in seinen Szenen und Bildern, die mir präsentiert werden, sehr „modernes Theater“, nicht auf „Gefälligkeit“ gepolt. Das hat für mich 5-Sterne-Anteile hinsichtlich toller Sprachbilder, eines noch nicht so abgearbeiteten Sujets wie dem, Identitätssuche über verschiedene Ebenen durchzuziehen, aber auch 2 bis 3-Sterne-Anteile, wie der Verzettelung über mir zu viele Themen (statt weniger starker), der nach meiner Meinung teils unbedingt provozieren-wollenden sprachlichen Obszönitäten (ist der Leser cool genug??) und des mir teils zu gewollten Melodramas, nicht nur Frau auf der Suche nach ihrem anderen Ich, nein, sie liebt eine Frau, nein, die möchte lieber ein Mann sein, nein, sie auch.

Ich gebe sehr wohlwollende 3,5 Sterne, fragt‘ mich vor 5 Stunden oder in 5 Tagen, es wird jede Wertung zwischen 2 und 5 Sternen möglich sein. Bemerkenswert. Beim Folge-Buch hätte ich’s gern weniger um sich selbst kreisend, weniger dem Hype huldigend. Das ist ein Buch, das man sehr intensiv lesen kann, in der Zeit auch mehrfach – aber weniger eines, das ich in einem Jahr wieder lesen würde.

Veröffentlicht am 16.05.2018

Tolle Sprache für eine chaotische Geschichte

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Die Zwillinge Alissa und Anton kommen als kleine Kinder gemeinsam mit ihren Eltern aus Russland nach Westdeutschland, wo sie aufwachsen. Irgendwann verschwindet Anton und geraume Zeit später kommt eine ...

Die Zwillinge Alissa und Anton kommen als kleine Kinder gemeinsam mit ihren Eltern aus Russland nach Westdeutschland, wo sie aufwachsen. Irgendwann verschwindet Anton und geraume Zeit später kommt eine Karte aus Istanbul. Alissa macht sich sofort auf die Reise, um ihren Bruder zu suchen. Doch es scheint immer mehr zu einer Reise zu sich selbst und der Vergangenheit ihrer Familie zu werden.
Die Geschichte beginnt in Istanbul, wo Alissa bereits auf der Suche nach Anton ist. Doch statt einer fortlaufenden Erzählung werden mit jedem Kapitel die Vergangenheiten diverser Familienmitglieder geschildert - Vater, Mutter, Oma, Opa, Urgroßoma, Urgroßopa usw. Aber auch hier gibt es keine chronologische Erzählweise: Der Fokus wechselt vom Alter zur Jugend zum Erwachsenensein zur Kindheit undundund. Bleibt man nicht konzentriert bei der Sache, ist man schnell völlig verloren in den verschiedenen Abschnitten. Erschwerend kommt die weit verzweigte Verwandtschaft der Hauptfigur hinzu, die immer wieder an den unterschiedlichsten Stellen auftaucht. Ich muss gestehen, dass ich zusehends den Überblick verlor, wer wer ist. Da die Suche nach Anton eigentlich nur der Aufhänger ist, um die Geschichte der Familie und diverser anderer Personen zu erzählen (zumindest habe ich es so empfunden), fiel es mir schwer, zwischen den Personen der einzelnen Kapitel eine Verbundenheit herzustellen. So waren es für mich eher einzelne Erzählungen, lose verknüpft durch Alissa, die gerade ihren Bruder sucht.
Doch was wirklich grandios ist, ist die Sprache der Autorin. Sie beschreibt die Verhältnisse in der Sowjetunion und in den Familien, die aussiedelten so, dass man diese Situationen buchstäblich vor Augen hat: "Valja war getrieben von der Angst, nicht genug Zeit zu haben, all das Wissen in ihre Kinder hineinzustopfen, das sie brauchten, um es raus zu schaffen, dafür musste man sich schnell bewegen, schnell, schnell raus hier, lest, lernt, sonst seid ihr verloren." oder "Man kann sagen, die Menschen starben wie die Fliegen, aber sie starben nicht wie Fliegen, Menschen sterben langsam, Blut spuckend, die Kinder mit großen, flehenden Augen, in die Etina nicht schaute."
Wenn es ihr jetzt noch gelingt, diese Sprache mit einer ebenso tollen Geschichte zu verbinden, wird es wohl ein Meisterwerk werden