Eine Liebeserklärung an die Natur!
Dass Familie nicht zwangsläufig ein Konstrukt ist, das einen ein Leben lang begleitet, erfährt Kya schon in frühester Kindheit: Nach und nach verschwinden all ihre vermeintlich haltgebenden Bezugspersonen ...
Dass Familie nicht zwangsläufig ein Konstrukt ist, das einen ein Leben lang begleitet, erfährt Kya schon in frühester Kindheit: Nach und nach verschwinden all ihre vermeintlich haltgebenden Bezugspersonen aus ihrem Leben und lassen das kleine Mädchen schließlich völlig alleine in den Salzwiesen des Marschlandes zurück. Erzählt wird eine Geschichte vom Erwachsenwerden, von der Empfindsamkeit einer jungen Frau, die über die Jahre hinweg zwar alleine und am Rande der Gesellschaft lebt, aber nicht einsam ist, macht sie doch die Seevögel, die Muscheln und die Pflanzen des Marschlandes zu ihren GefährtInnen. Dieser gleichermaßen zurückgezogene wie auch friedvolle Lebensstil gerät aus dem Gleichgewicht, als zwei junge Männer auf das „Marschmädchen“ aufmerksam werden und Kya zeigen, dass der Mensch vor allem eins ist: ein soziales und auf Liebe angewiesenes Wesen voller Sehnsüchte. Doch dann stirbt einer der beiden Männer und die perfekte Symbiose, die Kya mit der Natur eingegangen ist, wird jäh zerstört…
Mit einer verträumt melancholischen Sprache zeichnet Delia Owens ein facettenreiches, authentisches Bild einer Natur, welche in sich perfekt ist und ein kleines, zutiefst bemitleidens- und gleichermaßen bewundernswertes Mädchen auffängt und in ihre Obhut nimmt.
Kya erinnert an einen Welpen, der in seiner Unschuld nichts sehnlicher wünscht als irgendwo dazu zu gehören – das ist spürbar, das bewegt, das erweckt Mitgefühl und das führt schließlich dazu, dass man mit Ehrfurcht und Spannung dabei zusehen möchte, wie das „Marschmädchen“ erwachsen wird, heranreift und ihr Leben meistert. Dabei leben die Seevögel ihr ein soziales Miteinander vor, die Pflanzen und Muscheln zeigen Kya wie das Überleben in den Salzwiesen funktioniert und so wird die Natur zu dem, was sie eigentlich ist: MUTTERnatur - diejenige Instanz, von der wir Menschen alles lernen, was wir zum Leben brauchen und die wir voller Ehrfurcht behandeln sollten. All dies reichert Delia Owens mit feinen Metaphern, viel Herz und charaktervollen, authentischen Nebencharakteren an, sodass ein Fundament für eine Geschichte geschaffen wird, die einfach nur erzählt werden muss!
Delia Owens holt ihre Leserschaft gekonnt ab und lässt in intensiver Art und Weise mitfühlen und mitfiebern, indem sie feinsinnig mit Rück- und Gegenwartsblenden spielt, in denen sie die LeserInnen immer wieder aus der Idylle des Marschlandes reißt und in den sterilen Gerichtssaal oder die harsche Gefängniszelle wirft. Unweigerlich möchte man diese bedrückenden Bilder wegschieben, schließlich sehnt man für die vom Leben gezeichnete junge Frau nichts mehr herbei als die friedvolle Idylle der Salzwiesen. Inständig wünscht man sich nur das Beste für die sympathische Hauptprotagonistin, für die beim Lesen ein elterlicher Beschützerinstinkt geweckt wird, der Tate und Chase mit Argwohn beäugen und gleichzeitig hoffen lässt, dass wenigstens eine Beziehung im Leben von Kya überdauert.
Dadurch, dass Delia Owens die Gerichtsverhandlung immer nur in kleinen, wohl dosierten Etappen erzählt, baut sie einen schier unaushaltbaren Spannungsbogen auf, der sich erst im allerletzten Teil des Buches entlädt. Dies verschränkt sich damit, dass die Leserschaft bis zuletzt nicht ahnt (oder zu ahnen wagt) wie „der Fall Kya“ zu Ende geht. Die mitreißende Geschichte findet schließlich ein gleichermaßen überraschendes wie friedvolles, warmes und absolut stimmiges Ende – genau so, wie es diese wunderbare, literarische Liebeserklärung an die Natur verdient hat.