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Veröffentlicht am 19.04.2024

Der Türspalt in die Vergangenheit

Die Zeit im Sommerlicht
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2022 erschien der erste Band einer Trilogie der 1971 geborenen Samin Ann-Helén Laestadius über die samische Bevölkerung Schwedens auf Deutsch, "Das Leuchten der Rentiere". Der schwedische Originaltitel ...

2022 erschien der erste Band einer Trilogie der 1971 geborenen Samin Ann-Helén Laestadius über die samische Bevölkerung Schwedens auf Deutsch, "Das Leuchten der Rentiere". Der schwedische Originaltitel "Stöld" (Diebstahl) verrät mehr über den Inhalt: Rentierwilderei im heutigen Lappland und die unterlassenen Ermittlungen durch die schwedische Polizei als Teil von strukturellem Rassismus gegen die samische Bevölkerung.

Auch beim nun erschienenen zweiten Band "Die Zeit im Sommerlicht" sagt der Originaltitel mehr: In "Straff" (Bestrafung) geht es um das System der Nomadenschulen, in die Rentierzüchterfamilien ihre Kinder ab sieben Jahren schicken mussten. Wochenlang von zuhause getrennt, durften sie ihre Muttersprache nicht sprechen, schreiben oder lesen, nicht joiken, erlebten die Verunglimpfung ihrer Kultur und waren physischer wie psychischer Gewalt durch das Personal und ältere Kinder schutzlos ausgeliefert. Ähnlich wie es der kanadische Indigene Richard Wagamese in seinem Roman "Der gefrorene Himmel" über die kanadischen Residential Schools beschreibt, sollte den Kindern mit Gewalt ihre Kultur und Tradition ausgetrieben werden – ein Trauma mit lebenslangen Folgen.

Fünf Schicksale in zwei Zeitebenen
Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen. Mitte der 1950er-Jahre sind Else-Maj, Anne-Risten, Marge, Jon-Ante und Nilsa im Internat in Láttevárri, das unter der Leitung der brutalen Hausmutter Rita Olsson steht. Einzig die junge Betreuerin Anna, eine sanfte und zugewandte Samin, schenkt den Kindern Zuneigung und gibt ihnen Halt. Ihre Entlassung ist ein Schock.

Mitte der 1980er-Jahre sind Else-Maj, Anne-Risten, Marge, Jon-Ante und Nilsa knapp 40. Alle leiden unter den Internatserfahrungen, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Else-Majs Mann, mit dem sie in ihrem Dorf eine traditionelle Rentierzüchterfamilie gegründet hat, war ebenfalls Internatsschüler, doch ist das schmerzhafte Thema tabu. Anne-Risten lebt in Kiruna, hat einen Schweden geheiratet und spricht mit ihren Kindern nur Schwedisch. Sie leidet unter multiplen körperlichen Beschwerden, unter der Verachtung ihrer Tochter und der Angst, als Samin „enttarnt“ zu werden. Ebenfalls in Kiruna leben Marge und Jon-Ante, der im Internat von Nilsa und seiner Bande misshandelt wurde. Beiden fehlt es an Selbstbewusstsein und Mut zu einer Bindung. Als Marge ein kolumbianisches Mädchen adoptiert, erkennt sie Teile ihrer eigenen Geschichte wieder. Der allseits verhasste Nilsa, der als Rentierzüchter ins Dorf zurückgekehrt ist, leidet unter seiner Mitschuld am Tod seines jüngeren Bruders Aslak.

Was alle vereint, ist das kollektive Schweigen. Erst als Rita Olsson wieder auftaucht, gerät etwas in Bewegung. Der klugen Anna ist es schließlich zu verdanken, dass die Mauer des Schweigens erste Risse bekommt:

"Tastend wurden Erinnerungen formuliert, für die Anna einen Türspalt geöffnet hatte." (S. 473)

Fiktiv und doch wahr
Die einzelnen Kapitel springen zeitlich und zwischen den Hauptfiguren hin und her, trotzdem behält man leicht den Überblick. Wer "Das Leuchten der Rentiere" gelesen hat, wird einige der Personen wiedererkennen, doch sind die Bücher auch völlig unabhängig zu lesen. Ann-Helén Laestadius setzt sich in beiden fiktiv, jedoch auf wahren Begebenheit beruhend, mit dem Rassismus gegen die samische Bevölkerungsminderheit in Schweden auseinander und zeigt die Weitergabe des samischen Traumas über Generationen. Ich habe auch "Die Zeit im Sommerlicht" als schonungs-, jedoch nicht hoffnungslosen Roman mit großem Interesse und ausgesprochen gern gelesen und warte nun sehr gespannt auf den noch ausstehenden dritten Band.

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Veröffentlicht am 10.04.2024

Eine neue Zeit

Der Heumacher
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Knut Hansen Nesje, genannt Nesje, wurde 1838 als elftes Kind von Marta Kristine Anderdatter Nesje geboren, den Leserinnen und Lesern der familienbiografischen Romane von Edvard Hoem bestens als "Die Hebamme" ...

Knut Hansen Nesje, genannt Nesje, wurde 1838 als elftes Kind von Marta Kristine Anderdatter Nesje geboren, den Leserinnen und Lesern der familienbiografischen Romane von Edvard Hoem bestens als "Die Hebamme" bekannt, und war der Urgroßvater des Autors. Kaum mehr als die Daten der Kirchenbücher und die Erzählungen des Großvaters sind verbürgt:

"Ich musste ihn herbeidichten, aus Luft und aus dem Nichts, aus dem Licht über Molde und Rekneslia, aus dem Wind, der meine Haare zaust, und aus dem Regen, der auf Felder und Menschen fiel – zu seiner wie zu meiner Zeit." (S. 5)

Ein entbehrungsreiches Leben
Nesje lebte als Kleinbauer das harte Leben seiner Vorfahren, bestehend aus der Anstellung beim Großbauern, den Pflichttagen zur Bezahlung der Pacht auf dem Gut Reknes und der Arbeit auf dem gepachteten Land, 160 Ar in Rekneslia oberhalb der Kleinstadt Molde in der norwegischen Provinz Møre og Romsdal.

Der Roman beginnt kurz vor der zweiten Hochzeit des Witwers Nesje 1875 mit Serianna vom Bortehof in der Siedlung Hoem, auf dem Edvard Hoem heute wieder teilweise lebt. Serianna war die Großnichte von Lars Olsen Hoem, Protagonist von "Der Geigenbauer". Vier Kinder wurden dem Paar geboren, darunter der Großvater des Autors.

40 Jahre lang machte Nesje Heu auf dem Gutshof und war stolz auf seine Meisterschaft mit der Sense und auf sein kleines „Nesje-Stück“. Nur selten haderte er mit seinem geplatzten Traum vom eigenen Grund und Boden. Trotz aller Mühsal, Sorge und fehlendem Wahlrecht kam ein Weggehen für ihn nie in Betracht, obwohl es diese Möglichkeit durchaus gegeben hätte. Hunderttausende norwegische Bauernfamilien wanderten damals aufgrund der schlechten Lebensbedingungen in die USA aus:

„Mutter Norwegen schafft es nicht, alle ihre Kinder zu ernähren“, […] „Also müssen einige von ihnen hinaus in die Welt.“ (S. 36)

Der Traum vom besseren Leben
Auch in Nesjes Verwandtschaft grassierte das Auswandererfieber. Seriannas jüngste, abenteuerlustige Schwester Gjertine, die zweite Protagonistin des Romans, überredete 1886 ihren Mann Ole zur Auswanderung, um ihrem Traum von einem besseren und freieren Leben für sich und ihre Kinder näherzukommen, andere aus der Familie folgten nach. Doch auch in South-Dakota wartete ein entbehrungsreiches, hartes Leben auf die Neuankömmlinge und längst nicht jeder Traum wurde wahr, obwohl darüber in den Briefen nach Hause oft geschwiegen wird.

Edvard Hoem – ein begnadeter Geschichtenerzähler
"Der Heumacher", im Original 2014 und erstmals auf Deutsch 2024 im Verlag Urachhaus erschienen, ist der Auftakt zum mehrbändigen Romanzyklus Edvard Hoems über die norwegische Auswanderung. Wie alle seine familienhistorischen Romane, die ich im Laufe der letzten Jahre mit immer größerer Begeisterung gelesen habe, ist auch "Der Heumacher" absolut mitreißend und von Antje Subey-Cramer hervorragend übersetzt. Ich liebe die Bücher des begnadeten Geschichtenerzählers Edvard Hoem für die knappe, leicht verständliche, unverwechselbare Sprache in Verbindung mit den poetischen Landschaftsbeschreibungen, das ruhige Erzähltempo, die Bilder voller Intensität, die akribische historische Recherche und die empathische Figurenzeichnung. Mittendrin im Leben der Menschen war ich beim Lesen, teilnehmend an ihren Sorgen und schwierigen Entscheidungsprozessen ebenso wie an den sonnigen Momenten und voller Freude, wenn mir vertraute Figuren aus anderen Romanen wiederbegegneten.

Ich hoffe sehr, dass bald auch die Folgebände auf Deutsch erscheinen, denn ich möchte unbedingt erfahren, wie es in der Alten und Neuen Welt weitergeht.

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Veröffentlicht am 02.04.2024

Gespenster der Vergangenheit

Das Schweigen des Wassers
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Kriminalhauptkommissar Arno Groth ist im Herbst 1991 frisch zurück in seiner mecklenburgischen Geburtsstadt, dem fiktiven Wechtershagen nahe Demmin. Nicht ganz freiwillig hat er Hamburg verlassen, wo er ...

Kriminalhauptkommissar Arno Groth ist im Herbst 1991 frisch zurück in seiner mecklenburgischen Geburtsstadt, dem fiktiven Wechtershagen nahe Demmin. Nicht ganz freiwillig hat er Hamburg verlassen, wo er seit seinem Weggang aus der DDR 1960 lebte und arbeitete, als Kriminalpolizist, weil aus dem Germanistikstudium für den passionierten Leser und Sammler von Erstausgaben nichts wurde. Nun soll er in der alten Heimat ermitteln und als Aufbauhelfer Ost ehemalige DDR-Volkspolizisten schulen, keine dankbare Aufgabe und nicht dazu angetan, sich Freunde unter den neuen Kolleginnen und Kollegen zu machen. Eine Scheidung, der Tod seiner Tochter und eine unverzeihliche berufliche Fehleinschätzung setzen dem von Zweifeln geplagten Mann darüberhinaus schwer zu.

Ein Toter am Wechtsee
Kaum angekommen, trifft Groth im Hof der Polizeiwache auf den Ex-Musiker und jetzigen Tretbootverleiher Siegmar Eck, einen verwahrlosten Alkoholiker, der sich verfolgt fühlt. Bevor dieser dem zweifelnden Groth Beweise dafür bringen kann, wird er tot am Bootsanleger des Wechtsees aufgefunden. Ohne Hinweise auf Fremdeinwirkung und mit einem plausiblen Unfallszenario wird der Tod als Unglücksfall eingestuft. Nur Groth mag sich damit nicht abfinden, gar zu seltsam erscheint rückblickend seine Begegnung mit dem Opfer. Als sich auch noch herausstellt, dass Eck zehn Jahre zuvor im Mordfall an der 19-jährigen Polizistentochter Jutta Timm als Hauptverdächtiger galt, wegen seines bombensicheren Alibis jedoch freigesprochen wurde, ist Groths Ermittlerinstinkt endgültig geweckt. Warum fehlen in diesem abgeschlossenen Altfall aus dem Mai 1980, in dem nie ein Schuldiger ermittelt wurde, sämtliche Akten? Entgegen der Anordnung seines neuen Chefs verbeißt sich Groth in den Fall, wohlwissend, dass er sich keinen weiteren Fauxpas leisten darf.

Und noch jemand ist neu in Wechtershagen: die Kellnerin Regine Schadow aus Berlin, wesentlich jünger als Groth, aber mit nicht weniger Altlasten. Sie arbeitet im zweitklassigen Ausflugslokal am Wechtsee, löst nebenher die Wohnung ihrer Großmutter auf und scheint einiges zu verbergen. Jedenfalls gibt sie immer nur so viel zu, wie Groth bereits weiß. Welche Verbindung hatte sie zum Opfer und warum hat sie wirklich ihre Stelle im Kempinski aufgegeben?

Viel mehr als ein Whodunit-Roman
Die 1968 in Heidelberg geborene ehemalige Richterin Susanne Tägder hat ihr sehr empfehlenswertes Krimidebüt "Das Schweigen des Wassers", das auf einem realen Mordfall von 1979 fußt, in der ehemaligen Heimat ihrer Eltern angesiedelt: Vorbild für Wechtershagen war die Stadt Neubrandenburg. Was den Krimi aus der Masse der Neuerscheinungen heraushebt, sind seine sprachliche Gewandtheit, die Wahl der beiden Zeitebenen kurz vor bzw. nach der Wende, die die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche und Stimmungen beleuchten, die ruhige, melancholische Atmosphäre sowie die glaubhaften Charaktere. Alle sind verwundet, sei es das Mordopfer Eck, dessen Leben nach der Anklage aus der Bahn geriet, der Kafka lesende Ermittler Groth mit seiner schwierigen Vergangenheit, sein neuer Kollege Gerstacker, der im Fokus der Stasi-Begutachtungskommission steht, oder die traumatisierten Mitglieder der Familie Timm. Ausgerechnet die alten DDR-Seilschaften, die den Mordfall von 1980 weitgehend vertuschten, haben die Zeiten allgemeiner Auflösung, Verunsicherung und Entwurzelung um 1989 unbeschadet überlebt.

Einziger Wehmutstropfen beim Lesen war für mich, dass ich die Auflösung recht früh – und richtig – durchschaute, was ich selbst bei diesem literarischen Krimi, der viel mehr als nur Whodunit-Roman ist, schade finde. Auf eine Fortsetzung hoffe ich trotzdem, denn Susanne Tägder, Arno Groth und Wechtershagen haben unbedingt das Potential dafür.

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Veröffentlicht am 02.04.2024

Wurzeln und Neubeginn

Kosakenberg
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Der Wegzug von rund vier Millionen Menschen löste im Osten Deutschlands nach 1989 eine demografische Krise aus. Eine von denen, der im Osten die Luft zum Atmen fehlte, ist Kathleen, Ich-Erzählerin im Roman ...

Der Wegzug von rund vier Millionen Menschen löste im Osten Deutschlands nach 1989 eine demografische Krise aus. Eine von denen, der im Osten die Luft zum Atmen fehlte, ist Kathleen, Ich-Erzählerin im Roman "Kosakenberg" von Sabine Rennefanz. Nach dem Abitur 1997 verlässt sie ihr fiktives Dorf im Osten Brandenburgs, um im Westen zu studieren:

"Wir gingen weg, um zu suchen, was wir gleichzeitig verloren. Eine Heimat." (S. 9)

Immer seltener werden fortan ihre Besuche und sie wird zu einer Fremden mit zwei Leben, wie es der russisch-französische Schriftsteller Vladimir Navokov formuliert:

"Das eine, das man lebt, und das andere, das an dem Ort weitergeht, von dem weggegangen ist." (S. 11)

Gehen – ein Vergehen?
Mit 25 Jahren hat Kathleen es geschafft: Als Grafikdesignerin ergattert sie einen Posten in London. Damit lässt sie ihre Herkunft nun sogar doppelt hinter sich: geografisch und sozial. Die Entfremdung manifestiert sich in einer unüberbrückbaren Sprachlosigkeit. Das Desinteresse der Eltern, die sich weder etwas unter ihrem Beruf noch unter einem Leben in London vorstellen können, empfindet Kathleen als feindselig, sie ist verletzt und zunehmend verbittert. Was sie stolz macht, ist in Kosakenberg nichts wert. Sie wiederum schämt sich für das Dorf, die Eltern, die Wegbegleiterinnen und –begleiter ihrer Kindheit und Jugend und blickt mit nicht verborgen bleibender Arroganz auf die Gebliebenen herab:

"… ich ging, sie blieben, meine Welt wurde größer, ihre blieb klein und eng." (S. 17)

Zugleich leidet sie unter der Verachtung, mit der man sie im Dorf straft, und die ihr ein Gefühl des Verrats vermittelt:

"Gehen, ein Vergehen." (S. 113)

Zehn Heimfahrten
Zehn Besuche in der Heimat innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre geben dem Roman seine Struktur. Jedes Mal leidet Kathleen unter der Ambivalenz ihrer Gefühlen: Sie reist mit „Widerwillen und Neugier, Ablehnung und Sehnsucht“ (S. 107) an und verspürt Erleichterung beim Gehen. In London bleibt sie trotz beruflicher Erfolge und einer Einladung zur königlichen Gartenparty, mit der man „es geschafft hat“, fremd, auch wenn sie es kaum eingesteht. Der Verkauf ihres Elternhauses nach dem Tod der Großmutter, ausgerechnet an ihre Jugendfreundin Nadine, bringt sie endgültig aus dem Gleichgewicht. Nadine, eine der wenigen Gebliebenen, steht Kathleens Mutter näher als sie selbst. Hatte Kathleen vorher in der Gewissheit der jederzeit möglichen Rückkehr gelebt, ist dieser Weg nun versperrt. Hätte sie das Haus, eine winzige Backsteinkate mit Plumpsklo, Kohleofen und grauem DDR-Verputz, übernehmen sollen? Aber wäre die Rückkehr nicht das Eingeständnis einer Niederlage? Wie kann sie stattdessen in London eine echte Heimat finden?

Eine uneingeschränkte Leseempfehlung
"Kosakenberg" ist ausdrücklich kein autobiografischer Roman, obwohl die 1974 geborene, in Eisenhüttenstatt aufgewachsene Journalistin und Autorin Sabine Rennefanz spürbar viele Erfahrungen mit ihrer Protagonistin teilt. Ob auch sie nach ihrem Weggang mit Eiern aus der Heimat versorgt wurde, diesem gleichermaßen als Zahlungsmittel wie als Liebesbeweis dienenden Nahrungsmittel, das man auf dem hervorragend zum Roman passenden Cover sieht? Mir hat diese fast komplett aus der subjektiven Perspektive einer nicht immer sympathischen Protagonistin erzählte Geschichte über Wurzeln und Neubeginn ausnehmend gut gefallen, nicht nur als Beitrag zur andauernden Ost-West-Problematik, sondern auch zur Landflucht überall. Sabine Rennefanz ist eine ausgezeichnete Erzählerin, die den melancholischen Grundton ihres Romans mit feiner Ironie durchbricht, minimalistisch, elegant, sensibel und punktgenau formuliert, passende Sprachbilder findet, weder beschönigt noch übertreibt und deren exzellent gezeichnete Figuren sich glaubhaft entwickeln. Unbedingt lesen!

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Veröffentlicht am 27.03.2024

Zeit und Schicksal

Das andere Tal
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Der Debütroman des Kanadiers Scott Alexander Howard spielt in einem auf den ersten Blick idyllischen Tal: eine Stadt, ein See, Obstbaumwiesen, hohe Berge. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Ort als ...

Der Debütroman des Kanadiers Scott Alexander Howard spielt in einem auf den ersten Blick idyllischen Tal: eine Stadt, ein See, Obstbaumwiesen, hohe Berge. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Ort als isoliert, umgeben von Stacheldrahtzäunen, Wachtürmen und patrouillierenden Gendarmen. Niemand darf das Tal ohne Zustimmung des Conseils verlassen, um in die identische Stadt im Osten zu gelangen, die 20 Jahre in der Zeitlinie voraus ist, oder im Westen, wo es 20 Jahre früher ist. In 20-Jahres-Schritten wiederholen sich die Täler in unendlicher Abfolge. Flüchtlinge werden gnadenlos gejagt. Wer auf eine Eingabe hin eine der seltenen Besuchsbewilligungen in die Zukunft oder Vergangenheit erhält, meist im Zusammenhang mit einem Trauerfall, darf die Zeitlinie bei Androhung drakonischer Strafen weder stören noch gar verändern:

"Verlass nie dein Tal, misch dich nirgendwo ein." (S. 100)

Ein ungeplanter Zwischenfall
Die zunächst jugendliche Erzählerin Odile Ozanne steht als 16-Jährige zu Beginn des Romans kurz vor dem Schulabschluss und soll sich auf Wunsch ihrer Mutter für das Auswahlverfahren zum Conseil bewerben, wo ihr dauerhaft Macht, Ansehen und finanzielle Sicherheit winkt. Odile ist eine schüchterne, unsichere Außenseiterin, die gerade erst eine Gruppe von Freunden gefunden hat. Während sie am strengen Ausscheidungswettbewerb teilnimmt, wird sie zufällig Zeugin eines Besuchs aus dem Osten, der Zukunft. Odile erkennt in den trauernden Besuchern ausgerechnet die Eltern ihres Freundes Edme, ihrer ersten Liebe, und erfährt auf diese Weise, dass er bald sterben wird. Der ungeplante Zwischenfall, der dem Conseil nicht verborgen bleibt, stürzt Odile in einen Loyalitätskonflikt: Soll sie dem Conseil gehorchen, der jede Einflussnahme streng verbietet, oder ihren Freund warnen?

Eine gebrochene Biografie
Im zweiten Teil des Romans, der sich nun nicht mehr wie ein Jugendroman liest, ist Odile 20 Jahre älter. Ihre gebrochene Biografie hat sie als einzige Frau in die Grenzgendarmerie geführt, wo sie Flüchtlinge abfängt oder Besucherinnen und Besucher begleitet und in ihrer einsamen Freizeit Holzschnitte anfertigt. Noch einmal erhascht sie einen verbotenen Blick, dieses Mal in die eigene Zukunft. Wieder steht sie vor einer Entscheidung, doch ist sie nun nicht mehr die unerfahrene Jugendlich, sondern eine desillusionierte erwachsene Frau.

Ein spannendes Gedankenexperiment
Obwohl ich nie Science-Fiction lese, hat mich das dem Buch zugrundeliegende Gedankenexperiment mit den zeitverschobenen Orten sofort gereizt. Was, wenn man die Vergangenheit oder die Zukunft ändern könnte, wenn Schicksale auf ungeahnte Weise veränderbar wären? Der promovierte Philosoph Scott Alexander Howard hat wohlüberlegt und sorgfältig konstruiert ein Universum erschaffen, in das ich gerne eingetaucht bin. Die bedrückende Atmosphäre der streng abgeriegelten, diktatorisch regierten Stadt, die genauen Ortsbeschreibungen, spannende Nebenschicksale, die gut begründete Entwicklung der Protagonistin und das rasante Ende haben mir gefallen. Sprachlich ist der Roman unspektakulär und eher einfach, gedanklich verlangt er jedoch bisweilen größte Konzentration, wenn es um die Konsequenzen der Zeitverschiebung geht.

"Das andere Tal" ist ein sehr besonderer Roman über Zeit und Schicksal, Fremdbestimmung und freien Willen. Weniger als die Geschichte von Odile wird mir die ungewöhnliche Prämisse im Gedächtnis bleiben, über die sich immer wieder neu nachdenken lässt.

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