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Veröffentlicht am 27.03.2024

Zeit und Schicksal

Das andere Tal
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Der Debütroman des Kanadiers Scott Alexander Howard spielt in einem auf den ersten Blick idyllischen Tal: eine Stadt, ein See, Obstbaumwiesen, hohe Berge. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Ort als ...

Der Debütroman des Kanadiers Scott Alexander Howard spielt in einem auf den ersten Blick idyllischen Tal: eine Stadt, ein See, Obstbaumwiesen, hohe Berge. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Ort als isoliert, umgeben von Stacheldrahtzäunen, Wachtürmen und patrouillierenden Gendarmen. Niemand darf das Tal ohne Zustimmung des Conseils verlassen, um in die identische Stadt im Osten zu gelangen, die 20 Jahre in der Zeitlinie voraus ist, oder im Westen, wo es 20 Jahre früher ist. In 20-Jahres-Schritten wiederholen sich die Täler in unendlicher Abfolge. Flüchtlinge werden gnadenlos gejagt. Wer auf eine Eingabe hin eine der seltenen Besuchsbewilligungen in die Zukunft oder Vergangenheit erhält, meist im Zusammenhang mit einem Trauerfall, darf die Zeitlinie bei Androhung drakonischer Strafen weder stören noch gar verändern:

"Verlass nie dein Tal, misch dich nirgendwo ein." (S. 100)

Ein ungeplanter Zwischenfall
Die zunächst jugendliche Erzählerin Odile Ozanne steht als 16-Jährige zu Beginn des Romans kurz vor dem Schulabschluss und soll sich auf Wunsch ihrer Mutter für das Auswahlverfahren zum Conseil bewerben, wo ihr dauerhaft Macht, Ansehen und finanzielle Sicherheit winkt. Odile ist eine schüchterne, unsichere Außenseiterin, die gerade erst eine Gruppe von Freunden gefunden hat. Während sie am strengen Ausscheidungswettbewerb teilnimmt, wird sie zufällig Zeugin eines Besuchs aus dem Osten, der Zukunft. Odile erkennt in den trauernden Besuchern ausgerechnet die Eltern ihres Freundes Edme, ihrer ersten Liebe, und erfährt auf diese Weise, dass er bald sterben wird. Der ungeplante Zwischenfall, der dem Conseil nicht verborgen bleibt, stürzt Odile in einen Loyalitätskonflikt: Soll sie dem Conseil gehorchen, der jede Einflussnahme streng verbietet, oder ihren Freund warnen?

Eine gebrochene Biografie
Im zweiten Teil des Romans, der sich nun nicht mehr wie ein Jugendroman liest, ist Odile 20 Jahre älter. Ihre gebrochene Biografie hat sie als einzige Frau in die Grenzgendarmerie geführt, wo sie Flüchtlinge abfängt oder Besucherinnen und Besucher begleitet und in ihrer einsamen Freizeit Holzschnitte anfertigt. Noch einmal erhascht sie einen verbotenen Blick, dieses Mal in die eigene Zukunft. Wieder steht sie vor einer Entscheidung, doch ist sie nun nicht mehr die unerfahrene Jugendlich, sondern eine desillusionierte erwachsene Frau.

Ein spannendes Gedankenexperiment
Obwohl ich nie Science-Fiction lese, hat mich das dem Buch zugrundeliegende Gedankenexperiment mit den zeitverschobenen Orten sofort gereizt. Was, wenn man die Vergangenheit oder die Zukunft ändern könnte, wenn Schicksale auf ungeahnte Weise veränderbar wären? Der promovierte Philosoph Scott Alexander Howard hat wohlüberlegt und sorgfältig konstruiert ein Universum erschaffen, in das ich gerne eingetaucht bin. Die bedrückende Atmosphäre der streng abgeriegelten, diktatorisch regierten Stadt, die genauen Ortsbeschreibungen, spannende Nebenschicksale, die gut begründete Entwicklung der Protagonistin und das rasante Ende haben mir gefallen. Sprachlich ist der Roman unspektakulär und eher einfach, gedanklich verlangt er jedoch bisweilen größte Konzentration, wenn es um die Konsequenzen der Zeitverschiebung geht.

"Das andere Tal" ist ein sehr besonderer Roman über Zeit und Schicksal, Fremdbestimmung und freien Willen. Weniger als die Geschichte von Odile wird mir die ungewöhnliche Prämisse im Gedächtnis bleiben, über die sich immer wieder neu nachdenken lässt.

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Veröffentlicht am 04.02.2024

Die Kripo Akranes ermittelt wieder

Verborgen
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"Zwei Leichen in einer Woche, das ist ja unerhört. Was ist hier in Akranes eigentlich los?“ (S. 156)

Zwei Jahre arbeitet die 34-jährige Ermittlerin Elma inzwischen bei der Kripo Akranes, einem Küstenstädtchen ...

"Zwei Leichen in einer Woche, das ist ja unerhört. Was ist hier in Akranes eigentlich los?“ (S. 156)

Zwei Jahre arbeitet die 34-jährige Ermittlerin Elma inzwischen bei der Kripo Akranes, einem Küstenstädtchen mit rund 8000 Einwohnern nördlich von Reykjavík. Die Trauer und Wut, die sie nach dem Selbstmord ihres Partners Davið zurück in ihren Heimatort geführt haben, sind ebenso verblasst wie die Zweifel über die Richtigkeit dieser Entscheidung. Nicht zuletzt hat dazu ihr Kollege Sævar beigetragen, mit dem sie das letzte Weihnachtsfest auf Teneriffa verbracht hat.

Zwei Leichen – ein Fall?
Anders als zunächst vermutet, hat es Elma auch in Akranes keinesfalls nur mit Verkehrsdelikten und Einbrüchen zu tun. Nach einem Leichenfund am alten Leuchtturm von Akranes in Band eins und einem weiteren im Lavafeld bei Grábrók im zweiten Band beginnt der dritte gemeinsame Fall mit der Brandstiftung in einer Villa im September 2019. Am Unglücksort findet die Polizei die Leiche des unauffälligen jungen Informatikstudenten Marinó, der in seinem Bett verbrannte. Kurze Zeit später entdecken die Ermittler im Schuppen der Villa eine weitere Leiche, die bereits einige Tage vorher dort versteckt wurde. Hängen die beiden Fälle zusammen, und wenn ja, wie? Wurden die beiden Morde von derselben Person begangen oder gibt es mehrere Täter bzw. Täterinnen? Und welches Motiv oder welche Motive stecken dahinter?

Von Februar bis November 2019
Der erste Teil von "Verborgen" ist in acht Kapitel unterteilt, in denen wir dem Geschehen – beginnend mit „In der Nacht davor“ – acht Tage lang folgen. In Teil zwei werden die acht weiteren Ermittlungstage unterbrochen durch Rückblenden in die Monate vor den Taten, mit genauen Zeitangaben überschrieben und kursiv gedruckt. Drei abschließende Kapitel handeln von den beiden Monaten nach Abschluss der Ermittlungen, die weitere Überraschungen bereithalten.

Spannend, aber kaum Islandflair
Wie schon die beiden Vorgängerbände "Verschwiegen" und "Verlogen" hat mich "Verborgen" als ansprechend geschriebener, spannender Krimi gut unterhalten, sowohl bezüglich der komplexen Krimihandlung und der Ermittlungsarbeit, bei der Gründlichkeit vor Schnelligkeit geht, als auch in Bezug auf das Privatleben des Ermittlerteams. Hier liegen Trauer und Freude dicht beieinander und stehen die Zeichen auf Veränderung, so dass ich auf die Fortsetzung sehr gespannt bin. Gefallen hat mir auch das Motiv Mutterschaft, das die 1988 geborene Isländerin Eva Björg Ægisdóttir, selbst dreifache Mutter, gekonnt variiert. Psychologisch interessant ist der Blick in unterschiedliche Familien und Paarbeziehungen mit teilweise erschreckender Kälte. Die dritte Säule dieser Krimireihe habe ich dieses Mal allerdings schmerzlich vermisst: Im Gegensatz zu den anderen Bänden gibt es wenig Lokalkolorit, man erfährt fast nichts über Island, weder geografisch noch kulturell, und braucht auch die sonst sehr nützlichen Landkarten in den Buchdeckeln nicht.

Insgesamt kommt "Verborgen" für mich nicht ganz an die Vorgängerbände heran, aus der Hand legen konnte ich das Buch trotzdem nicht. Ich freue ich mich schon jetzt auf die Fortsetzung.

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Veröffentlicht am 27.02.2023

Dschinns der Vergangenheit und Gegenwart

Sibir
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Inspiriert von der eigenen Familiengeschichte erzählt die1985 in Niedersachsen als Tochter eines 1945 nach Zentralasien deportierten Zivilgefangenen und einer Polin geborene Autorin Sabrina Janesch in ...

Inspiriert von der eigenen Familiengeschichte erzählt die1985 in Niedersachsen als Tochter eines 1945 nach Zentralasien deportierten Zivilgefangenen und einer Polin geborene Autorin Sabrina Janesch in "Sibir" vom Schicksal der Russlanddeutschen und ihrer Nachkommen, von Auswanderung, Umsiedlung, Vertreibung, Enteignung, Verschleppung, Befreiung und Rückkehr. In zwei Erzählsträngen, 1945/46 und 1990/91, verwebt sie zwei Kindheiten: Josef Ambacher wurde 1945 als Zehnjähriger nach Sibirien, genauer Kasachstan, verschleppt, seine Tochter Leila lebt im gleichen Alter 1990/91 in Mühlheide, Niedersachsen, und wächst mit seinen Geschichten auf:

"Wofür mein Vater keine Worte fand, das kleidete er in Geschichten." (S. 15)

"Ich hing an den Geschichten meines Vaters wie an einem Tropf…" (S. 17)

In der Rahmenhandlung erzählt die erwachsene Leila von ihrem Bemühen, die Geschichten des inzwischen über 80-jährigen, zunehmend dementen Vaters zu bewahren.

Kasachstan
Ursprünglich aus dem Egerland stammend, wanderte die Familie Ambacher im 18. Jahrhundert wie viele andere nach Galizien aus, wurde von den Nationalsozialisten „heim ins Reich“ geholt und im zuvor polnischen Wartheland angesiedelt, bevor sie auf der Flucht von der Roten Armee aufgegriffen und in die Verbannung nach Zentralasien geschickt wurde. Zusammen mit den Großeltern und der Tante – der kleine Bruder verstarb auf dem Transport, die Mutter verschwand spurlos – verbrachte Josef zehn Jahre in einem Dorf mit Deportierten verschiedenster Nationalitäten unter der Aufsicht des Dorfsowjets in der lebensfeindlichen Steppe. Hunger, Mangel an allem, extreme Wetterverhältnisse, Ausgestoßensein, Angst vor den Gulags, aber auch Abenteuer, die Begegnung mit der kasachischen Kultur, ein zugewandter russischer Lehrer und sein kasachischer Freund Tachawi bestimmten Josefs Leben bis zur Ausreise 1955 nach Deutschland. Allgegenwärtig war die Trauer um den Verlust der Mutter:

"Wenn er auf den Beinen war und umherlief, konnte er die Gedanken an die Mutter manchmal für eine Weile abschütteln. Seine Traurigkeit wanderte langsamer durch den Raum als er selbst…" (S. 120/121)

Mühlheide
35 Jahre nach den Zivilgefangenen kamen die Spätaussiedler nach Deutschland, für die Siedlungsbewohnerinnen und –bewohner am Rande von Mühlheide bedeutete dies eine schwierige Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, Berührungsängste und Schuldgefühle. Aus kindlicher Ich-Perspektive erzählt Leila von Menschen, die „jeder Vorstellung von Beheimatung und Zuhause misstrauen“ (S. 247), ihrer Freundschaft mit Arnold, der Isolation der Siedlungskinder und von ihrer Grenzwallfunktion zwischen Türken und „Normalos“ im Klassenzimmer, ihrem Konflikt mit dem ehemaligen SS-Mann Tartter und dem Spätaussiedlerjungen Pascha, der ihr Duo zum Trio macht.

Ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte
Herausragend in Sibir ist der Teil über Josefs Kindheit, das Aufwachsen unter Extrembedingungen, die man in jedem Wort fühlt. Gefallen hat mir auch, wie gekonnt Sabrina Janesch Sachinformationen über die historischen Bevölkerungsverschiebungen in den literarischen Text einbindet, wie sie fließend die beiden Kindheiten über Begriffe wie „Sturm“, „Hütte“, „Schuld“, „Freundschaft“, „Schule“ oder „Familie“ verwebt und sie in die anrührende Rahmenhandlung einbindet. Auch die sprachliche Qualität des Romans mit den eingeflochtenen deutsch-russisch-kasachischen Vokabelketten hat mich überzeugt. Allerdings hadere ich mit der Gewichtung der Erzählstränge, denn Leilas kindliche Klagen über ihre „schwere“ Kindheit, die dramatisch beschriebene Außenseitersituation der nachgeborenen Kinder 35 Jahre nach der Rückkehr der Eltern, die ich aus eigener Anschauung so nicht nachvollziehen kann, und der aufgebauschte Konflikt mit dem Tartter haben mich mehr genervt als ergriffen und dienen vor allem der Konstruktion von Parallelen. Empfehlenswert ist Sibir trotzdem. Mit mehr Kasachstan und weniger Mühlheide wäre es sogar ein Lieblingsbuch geworden.

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Veröffentlicht am 23.11.2022

Kreuthner in Bedrängnis

Herzschuss
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Im Jubiläumsband zehn der kultigen Tegernsee-Reihe um das ungleiche Duo Wallner/Kreuthner lässt der Jurist und Autor Andreas Föhr ausnahmsweise nicht den unkontrollierbaren und unkonventionellen Polizeihauptmeister ...

Im Jubiläumsband zehn der kultigen Tegernsee-Reihe um das ungleiche Duo Wallner/Kreuthner lässt der Jurist und Autor Andreas Föhr ausnahmsweise nicht den unkontrollierbaren und unkonventionellen Polizeihauptmeister Leonhardt Kreuthner die Leiche finden, sondern den reflektierten, teamfähigen Kriminalhauptkommissar Clemens Wallner. Jedenfalls ist er zuerst am Fundort, denn beim Skifahren hat ihm ein Unbekannter die Koordinaten in die Hand gedrückt. Doch kurz nach ihm taucht auch Kreuthner in dem Hotelrohbau auf. Warum? Hat er wirklich nur zufällig Wallners Wagen gesehen oder steckt mehr dahinter?

Ein Mordfall, viele mögliche Motive
Das Opfer, Philipp Gansel, getötet mit mehreren Schüssen, war Mitglied des Bayerischen Landtags mit auffallend steiler Politkarriere in den vergangenen zehn Jahren. Hat er sich mit den falschen Leuten eingelassen oder ist das Motiv eher im privaten Bereich zu suchen? Was hat ein zwei Monate zuvor in der Mangfallmühle, dem übel beleumdeten Lieblingsgasthaus Kreuthners, „wo sich Menschen zusammenfanden, denen die schattigen Niederungen gerade recht waren“ (S. 7), ausgehecktes Femegericht des Polizeihauptmeisters und seiner zwielichtigen Freunde gegen Philipp Gansel damit zu tun? War ihnen die nur halbwegs geglückte Abreibung nicht genug? Nicht lange, und Kreuthner wird zum Haupttatverdächtigen, denn Gansels Frau Philomena war vor langer Zeit seine Freundin, und dass sie in ihrer Ehe häuslicher Gewalt ausgesetzt war, wollte er nicht dulden. Wallner allerdings glaubt nicht so recht an die Schuld des langjährigen kollegialen Freundes und ermittelt in alle Richtungen, auch wenn die Arbeit durch die neue Leiterin der Polizeiinspektion Miesbach, Karla Tiedemann, einem weiteren Alphatier unter den Vorgesetzten, nicht einfacher wird. Der „Profilügner“ (S. 143) Kreuthner manövriert sich derweilen mit seiner ganz eigenen Logik immer tiefer in den Schlamassel. Seine Hoffnungen ruhen einzig auf Wallners Ermittlungsgeschick, denn selbst seine Mangfallmühlenkumpel lassen Solidarität vermissen:

"Weißt – ich hab so viel Dusel g’habt bei dem ganzen Scheiß, den ich angestellt hab in meinem Leben. Irgendwer hat mich immer rausgehauen. Oft warst du des. Und vielleicht sperren die mich jetzt für was ein, was ich gar nicht war. So als Ausgleich mal andersrum." (S. 263)

Eine herausstechende Regionalkrimi-Serie
Wie immer in dieser Reihe steht trotz des durchaus vorhandenen, mit Augenmaß dosierten Lokalkolorits und Einblicken in das Privatleben Wallners die klug durchdachte Krimihandlung mit Rückblicken in die nähere und ferne Vergangenheit im Mittelpunkt. Es ist jedes Mal eine große Freude, die beiden bodenständigen Polizisten wieder zu treffen, den grundsoliden Kripobeamten Wallner mit der legendären Abneigung gegen Zugluft und das Urgestein Kreuthner, für den kein Gesetz zu gelten scheint, aber auch Wallners inzwischen 91-jährigen Großvater Manfred. Spritzige Dialoge, unerwartete Wendungen, Spannung bis fast zur letzten Seite, seriöse Ermittlungsarbeit und skurrile Slapstickeinlagen haben mich wieder sehr gut unterhalten, auch wenn der Humor in anderen Bänden der Reihe noch mehr nach meinem Geschmack ausfiel. Auf jeden Fall bin ich jedoch bei Band elf wieder dabei, schon um erfahren, ob der frische Wind in der Polizeiinspektion für den frisch geschiedenen Wallner auch privat weht…

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Veröffentlicht am 12.09.2022

Gesellschaftskonforme Trauer

Schlangen im Garten
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Wie das ist, wenn plötzlich die Mutter stirbt, lässt Stefanie Höfler in ihrem Jugendroman "Der große schwarze Vogel" den 14-jährigen Ben erzählen. Fassungslos müssen er, sein sechsjähriger Bruder Krümel ...

Wie das ist, wenn plötzlich die Mutter stirbt, lässt Stefanie Höfler in ihrem Jugendroman "Der große schwarze Vogel" den 14-jährigen Ben erzählen. Fassungslos müssen er, sein sechsjähriger Bruder Krümel und ihr Pa miterleben, wie Sanitäter die Mutter nicht retten können. Ben erzählt von der Woche danach, von seinen Erinnerungen, beschreibt die unterschiedlichen Verarbeitungsstrategien der Zurückgebliebenen, aber auch die Hilfe von außen, so dass der sehr realistische Roman traurig, aber zugleich hoffnungsvoll ist.

Im zweiten Roman von Stefanie vor Schulte ist die Ausgangslage ähnlich, denn auch die Familie Mohn mit dem zwanzigjährigen Steve, der zwölfjährigen Linne, dem elfjährigen Micha und dem Vater Adam in "Schlangen im Garten" ist mitten im Trauerprozess um die Mutter Johanne. Allerdings ecken sie mit ihrer Trauer an, gar zu lang, anders, undurchsichtig und heftig wirkt ihre Trauer auf die neugierige, unempathische, ungeduldige Umgebung. Linne mit ihrer Aggressivität und der introvertierte Micha stoßen in der Schule auf Ratlosigkeit, der resignierte, weltfremde Adam kündigt und einzig der nach Hause zurückgekehrte Student Steve hält ein Minimum an Ordnung aufrecht. Darf das sein? Herr B. Ginster, der Mann vom Traueramt, ist anderer Meinung und schickt eine erste Mahnung:

"Über einen Zeitraum von drei Wochen finden sich fünf Beschwerden, die beim Traueramt eingegangen sind. […] Die Beschwerden legen den Verdacht nahe, es handele sich hier um verschleppte Trauerarbeit." (S. 58)

Ungehöriges Trauern
Mit Herrn Ginster kommt die Schlaflosigkeit. Die Mohns begreifen ihre Verfehlung nicht, wollen gar nicht weniger trauern und fürchten mehr als alles den Erinnerungsverlust. Doch das Traueramt stuft verschleppte Trauerarbeit als gefährlich ein:

"Wer beim Trauern auffällt, richtet gesellschaftlichen Schaden an." (S. 76)

Unterstützung von überraschender Seite
Glücklicherweise tauchen nach und nach Menschen auf, die dank ihres eigenen Außenseitertums sehr viel mehr Einfühlungsvermögen mitbringen: Brassert, der einsame Schwänefütterer, die obdachlose Bille mit ihrem Einkaufswagen voller lichterfüllter Dinge und die junge Marlene mit dem künstlichen Bein. Sie stellen keine Forderungen, sondern sind einfach nur unverstellt da und während das Zuhause der Mohns langsam untergeht, erzählen sie fantastische Geschichten über Johanne.

Fantastik als Stilmittel
Spätestens mit dem Auftauchen von Herrn Ginster kippt die Romanhandlung ins Fantastische, ein literarischer Kunstgriff für das schwierige Thema Trauer, mit dem ich absolut nicht gerechnet hatte. Als gänzlich ungeübte Leserin in diesem Genre hat mich die Bild-, Symbol und Metaphernfülle zwar oft überfordert, trotzdem hatte ich fast immer das Gefühl, die Absicht dahinter mit dem Bauch zu erfassen. Nicht verstanden habe ich allerdings, warum die erfundenen Geschichten über Johanne der Familie helfen, wo sie doch die realen Erinnerungen gefährden könnten? Gleitet die Handlung anfangs sacht aus der Realität und hält die Grenzen zur Fiktion im Unscharfen, was mir sehr gut gefiel, wurde es mir am Ende doch etwas zu surreal. Besser hätte mir ein Schwenk zurück in die Realität gefallen. Und doch stimmen der innerfamiliäre Zusammenhalt und der Schlusssatz hoffnungsfroh:

"Endlich ist der Sommer vorbei." (S. 239)

Ein mutiger, experimenteller, gesellschaftskritischer Roman voller außergewöhnlicher Ideen zum Thema Tod und Trauer, ein lesenswerter Appell für Toleranz und gegen normiertes Verhalten.

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